Nach dem Chaos-Flugjahr 2018 mit Flugausfällen und Streiks sollte in diesem Jahr vieles besser werden. Die Vorzeichen allerdings sind nicht günstig. Schon in den ersten Wochen des Jahres gab es wieder Streiks und Unruhe in der Branche, wie unter anderem die Pleite der Fluggesellschaft Germania zeigt. Über Nacht fiel für über 20’000 Urlauber der planmässige Rückflug weg. Immer dann, wenn Flüge gestrichen oder verschoben werden und Passagiere dadurch verärgert sind, kommen die Telefonzentralen der Fluggesellschaften ins Spiel.
Dort melden sich dann die verzweifelten Passagiere oder es wird bei absehbaren Flugplanänderungen umgekehrt manchmal auch aktiv verständigt – per SMS, E-Mail oder Anruf. Der Präsident des Deutschen Reiseverbandes, Norbert Fiebig, rät daher allen Urlaubern: «Geben Sie unbedingt Ihre Handynummer an, wenn Sie eine Reise buchen. Nur dann kann der Veranstalter Sie über Änderungen im Flugplan oder andere Krisen informieren.»
Problemlöser durch psychologische Kniffe
Die Telefonnummern, E-Mail-Adressen, Apps und sogar Internet-Chats spielen für den Dialog zwischen den Passagieren und den Airlines oder Reiseveranstaltern eine immer wichtigere Rolle. Auf diesen Kanälen spielt sich die gesamte Brandbreite der Emotionen der Betroffenen ab. Die Beschäftigten in den Call-Centern versuchen, mit psychologischen Kniffen zumindest als Problemlöser zu wirken und als Wut-Versteher die aufgeheizten Situationen zu deeskalieren.
Die Telefonzentralen der Airlines haben dabei überraschende Strukturen und es gibt Dienstleister im Hintergrund, die nicht darüber reden dürfen, für wen sie eigentlich arbeiten und was sich genau am Telefon abspielt. Wenn ein Passagier bei seiner Airline anruft, spricht er jedenfalls nicht immer tatsächlich mit einem Beschäftigten der Fluggesellschaft – selbst wenn die Person sich am anderen Ende der Leitung entsprechend meldet.
Einige Fluggesellschaften, wie die Lufthansa-Kernmarke, haben eigene Call-Center und erweitern notfalls um Zusatzkapazitäten von Dritten. Andere bedienen sich grösserer, aber auch mittelständischer Dienstleister, zu denen etwa AIC aus Köln gehört. AIC ist beispielsweise seit zehn Jahren für die Lufthansa-Tochter Eurowings tätig.
«Wer schon der Telefonaufzeichnung seines Gesprächs nicht zustimmt, ist in der Regel nicht gut gestimmt und wird schon einmal etwas emotionaler.»
Andreas Diederich, Chef des Call-Center-Betreibers AIC
Bosch-Sparte betreut die Lufthansa-Call Center
Der Call-Center-Branchenverband CCV spricht von gut einer halben Million Menschen, die in Voll- oder Teilzeit auf etwa 250.000 Stellen in Deutschland beschäftigt sind. Das sind allerdings Zahlen für die Gesamtbranche und nicht allein für Airlines. 80 Prozent der Unternehmen haben Call-Center im eigenen Haus, 20 Prozent nutzen externe Dienstleister.
Die Szene ist geprägt durch einige Schwergewichte, wie etwa den Branchenprimus Arvato CRM Solutions (Bertelsmann-Gruppe) mit rund 45.000 Beschäftigten in 27 Ländern, Ströer Dialog und die britischen Capita. Zudem mischen einige in der Branche mit, die man darin zunächst nicht vermuten würde, wie etwa der Bosch-Konzern.
Auf «Welt»-Anfrage heisst es: «Bosch Service Solutions übernimmt komplexe Geschäftsprozesse für unterschiedliche Airlines und andere Kunden.» Dies betreffe das «Management von Kundenfeedback und -korrespondenz rund um den Globus». Etwa 900 Service-Mitarbeiter würden Airline-Kunden betreuen. Welche es konkret sind, will eine Bosch-Sprecherin nicht verraten.
In Stellenanzeigen ihres Hauses heisst es jedoch: «Sie arbeiten in Expertenteams im Namen unseres Mandanten Lufthansa. Sie beantworten Kundenanfragen per E-Mail und/oder Telefon.» Daneben gibt es noch Nischen-Spezialisten, wie etwa den Gepäckstückauslieferer Aviation Lovers, dessen Call-Center für verschiedene Airlines tätig sind.
Skandinavier hinterlassen lieber ihre Telefonnummer
Auch der Chef des mittelständischen Call-Center-Betreibers AIC, Andreas Diederich, möchte nicht im Detail über seine Airline-Kunden oder Vorfälle sprechen, aber durchaus über den Alltag in seiner Branche: «In der Szene ist bekannt: Wer schon der Telefonaufzeichnung seines Gesprächs nicht zustimmt, ist in der Regel nicht gut gestimmt und wird schon einmal etwas emotionaler.» Die Hemmschwelle, dass Anrufer ohne grosse Begrüssung direkt in den Hörer schrien, sei deutlich gesunken, sagt der 56-Jährige.
Der Präsident des Deutschen Reiseverbandes, Norbert Fiebig, sieht auch nationale Unterschiede im Verhalten von Touristen und Fluggästen. Skandinavier beispielsweise würden fast alle ihre Mobilfunknummern hinterlassen. Bei den Deutschen sei dies nur bei Langstreckenflügen die Regel. Nur weniger als die Hälfte der Deutschen geben bei Kurz- und Mittelstrecke ihre Telefonnummer an.
AIC-Call-Center-Chef Diederich registriert zudem ein unterschiedliches Kommunikationsverhalten je nach Nationalität. Aus der Schweiz, aus Holland oder Skandinavien gäbe es so gut wie keine Anrufe mehr. Alles laufe über E-Mails, Social Media oder Chats. In Deutschland würden die Jüngeren eine E-Mail schicken, die Älteren eher anrufen.
Briten, Italiener oder Franzosen würden fast nur telefonieren, sagt Diederich. Das von ihm aufgebaute Unternehmen spielt als Mittelständler im Konzert mit den Grossen der Branche eine Sonderrolle. «Wir haben einen deutschen Anspruch», sagt Diederich und meint damit, dass die inzwischen über 500 Beschäftigten nur an deutschen Standorten sitzen und ein umfassendes Branchen-Know-how aufgebaut hätten.
Viele Call-Center in Billiglohnstandorten
Im Gegensatz dazu würden auch von grossen Airlines vermehrt Call-Center an Billiglohnstandorten aufgebaut. Während einige Airlines ihre Call-Center in verschiedenen Zeitzonen betreiben, will AIC künftig über die gesamte Woche hinweg einen 24-Stunden-Service aus Deutschland betreiben.
In Zukunft kommt auf die Airline- und Reisebranche mit ihren Call-Centern noch mehr Arbeit zu. So macht das seit Mitte 2018 gültige Pauschalreisen-Recht eine 24-Stunden-Erreichbarkeit auch für kleine und mittelständische Veranstalter und Reisebüros praktisch notwendig. Daher will das auf Krisenfrühwarnungen für die Reisebranche spezialisierte Tübinger Unternehmen A3M im Frühjahr in Hamburg ein Call-Center in Betrieb nehmen, damit auch kleinere Unternehmen rund um die Uhr indirekt erreichbar sind.
Branchenkenner sehen allerdings gravierende Unterschiede in der Art und Weise, wie Airlines derzeit ihre Kunden über Call-Center betreuen. Während beispielsweise AIC aus Deutschland mit Anrufern in 20 Sprachen kommuniziert, ist das Sprach-Angebot bei einigen renommierten Fluggesellschaften viel kleiner. Manche Billigairlines würden sich am liebsten auf die Buchung und den Flug beschränken und sonst eine «Kundenkontakt-Vermeidungsstrategie» verfolgen, heisst es.
So würden Telefonnummern für die Passagiere entweder gar nicht oder sehr versteckt auf der Internet-Seite zu finden sein. Auf Anfrage teilte die grösste europäische Billigairline Ryanair mit, dass es sehr wohl ein deutschsprachiges «Customer Care Team» gäbe. Allerdings ist das unter der Woche nur von sieben bis 19 Uhr zu erreichen, am Wochenende noch kürzer.
Bessere Betreueung für die First-Class
AIC-Chef Diederich kennt die Probleme. «Wenn sie bei internationalen Airlines Englisch sprechen, haben sie meist schneller direkten Kontakt, weil es mehr Englisch sprechende Mitarbeiter gibt.» In der Branche gilt es auch als offenes Geheimnis, dass über unterschiedliche Hilfe-Telefonnummern oder Kundennummern der Fluggesellschaften vorsortiert wird, in welcher Telefonzentrale der Kunde landet.
First-Class-Kunden werden häufig in «besseren» Call-Centern betreut als der Economy-Bucher, der schneller beim Service-Mitarbeiter an einem Billiglohnstandort landet.
Die Lufthansa hat nach wie vor eine Inhouse-Lösung, betreibt also selbst mehrere Call-Center, weltweit in unterschiedlichen Zeitzonen. Dahinter steht die Tochterfirma Lufthansa Global Tele Sales mit der Marke Lufthansa InTouch, mit über 2000 Beschäftigten, auch an Billiglohnstandorten.
Allein in Brno in der Tschechischen Republik sind rund 330 Beschäftigte tätig, die zwölf Sprachen abdecken. Weitere Standorte sind Kapstadt in Südafrika oder Istanbul, wo auch viele Deutschtürken arbeiten. Neu aufgebaut wird ein Standort in Manila auf den Philippinen. Aus Berlin werden die Premiumkunden bedient. Ob die Brüllgefahr bei ihnen erhöht ist, ist nicht bekannt.
Dieser Artikel erschien zuerst bei der «Welt» mit dem Titel: «Bei Anruf ohne Aufzeichnung herrscht im Call-Center Brüllgefahr»