Unverblümt klappt immer gut. Die Leute von Harley-Davidson kommen direkt zur Sache. Also, einfache Frage: «Würden Sie sich dieses Motorrad kaufen?» Techniker und Marketing-Experten von Harley-Davidson sind gerade dabei, um die Welt zu reisen, mit einer Kleinserie von 50 handgefertigten Elektro-Motorrädern.
Harley-Davidson ist mit Elektrobike ein Pionier
Die LiveWire von Harley-Davidson ist schon allein deswegen ein grosser Wurf, weil es das erste Mal ist, dass einer der ganz grossen, weltweit führenden Motorradhersteller sich mit einem Elektrobike aus der Deckung traut. Es muss bislang eine Art Triumphzug gewesen sein, wenn die Zahlen aus dem Projekt-Marketing richtig sind. Die Zustimmung überwältigend, die Kaufbereitschaft ganz überwiegend gegeben, praktisch hundert Prozent Begeisterung weltweit, überall bisher.
Zwar hat BMW einen Elektroroller im Programm und KTM die Freeride E, ein Leichtkraftrad. Aber ein richtiges, ernst zu nehmendes Motorrad? Das haben bisher Aussenseiter wie Zero, Brammo oder Energica unter sich aus gemacht.
Prototyp gleich ein Schaustück
Dazu kommen ein paar bastelwütige Krauter oder Exoten wie die wiedererstandene spanische Marke Bultaco. Harley-Davidsons LiveWire-Prototypen spielen technisch wie finanziell in einer ganz anderen Liga. Es ist ein Grossindustrie-Produkt, ein Investment in die Zukunft, ein durch und durch professionell auf die Räder gestelltes Serienprojekt, konzipiert für hohe Produktions-Stückzahlen.
Und von wegen Prototyp. Es gibt keine notdürftig angebrachten Kabelbinder, keine unfertigen Verkleidungsteile an den LiveWire-Motorrädern. Nichts Vorläufiges, Unfertiges. Die LiveWire steht da als ein fix und fertiges, funktionierendes Schaustück, als die bestechende, kompromisslose Umsetzung einer Designidee.
Perfekter Akku muss noch erfunden werden
Das reicht bis in kleine, kostspielige Details. Der Lack, die polierten Aluteile, die Kunststoff-Abdeckungen, das Dashboard – alles vom Besten, makellos handgefertigt. Und alles funktioniert. Harley-Davidsons Elektrobike ist ein zulassungsfähiges, verkaufsreifes Motorrad. Fehlen nur noch Blinker, und Bremslicht, eine Traktionskontrolle sowie ABS. Aber das sind Kleinigkeiten. Keine Gründe jedenfalls dafür, dass Harley-Davidson die LiveWire zwar zeigen, aber nicht bauen will.
Nur dauert es ein bisschen. Frühestens 2020 könnte sie lieferbar sein, sagen die Leute von Harley. Was nach fröhlichem Optimismus klingt. Nicht das Motorrad ist das Problem, es ist der Akku, der Klotz am Bein der Elektrobranche. Binnen fünf bis acht Jahren, glaubt man bei Harley-Davidson, könnte aus irgendeinem Forschungslabor was Brauchbares kommen. Ein technischer Dammbruch, eine Speicherrevolution. Dann wären sie mit der LiveWire rasch wie ein Kurzschluss zur Stelle.
Nach 60 Kilometern ist Schluss
Die E-Harley, notgedrungen mit Lithium-Ionen-Technik bestückt, hat 74 PS und 70 Newtonmeter Drehmoment. Sie wiegt 210 Kilogramm und bringt es auf 148 Kilometer pro Stunde. Der Saft reicht für etwa 85 Kilometer, aber auch nur dann, wenn ein argwöhnischer, ängstlicher Fahrer im Solosattel der LiveWire sitzt. Wer ordentlich am Stromgriff dreht, steht nach 60 Kilometern. Das sind ungefähr die technischen Werte, nach denen auch die E-Motorräder von Branchenprimus Zero aus Kalifornien verfahren.
«Wiiiiiiiiiiiiih!!» Das Hinterrad der LiveWire dreht durch. Was hat das zu bedeuten? Es war doch nicht mehr als ein kurzer Dreh am Stromgriff gewesen, bei etwa 60 Kilometern pro Stunde auf dem Tacho, der jetzt Dashboard heisst. Aber dieses Bisschen hat schon gereicht für den ruckartig ausbrechenden Reifen im Heck. Die ersten Kilometer auf der LiveWire muss man zu einer Warnung zusammenfassen: dass es der Gesundheit dient, sich vor der Freischaltung des Stromkreislaufs auf ein paar Überraschungen gefasst zu machen.
Eine neue Art von Motorradfahren
Mit demselben Dreh am Griff, der die LiveWire in Burn-out-Manier durchdrehen liess, hätte ein potenter japanischer Vierzylinder eine typische Angeberhaltung eingenommen. Mensch und Maschine wären wie Zorro und sein schwarzer Hengst gewesen: Sie hätten Männchen gemacht, sie hätten sich vorn zu imposanter Höhe aufgerichtet. Bei der LiveWire waren der weit vorn montierte Akku und der miese Hinterradreifen dagegen.
Wenn die LiveWire die Zukunft sein sollte, wenn es nach der vibrierenden Epoche der stampfenden, kreischenden, kunstvoll konstruierten Benzinmotoren nur noch Elektro-Maschinen geben sollte: Dann, das jedenfalls macht die LiveWire klar, wird Motorradfahren eine ganz andere Sache sein. Im Datenblatt zum Prototypen steht unter Drehmoment: 70 Newtonmeter bei 0 Umdrehungen. Das sieht nach Druckfehler aus.
Enttäuschende Zahlen
Aber im Sattel der LiveWire ist zu erleben, dass aus dem Stand, ab dem ersten Zentimeter der komplette Bums von 70 Newtonmetern über den Hinterradgummi herfällt. Das ist ungefähr die Power, die ein erstklassiger Zweizylinder mit 800 Kubikzentimeter bringt, aber nur in der Spitze und auch da beschränkt auf ein schmales Drehzahlband.
Es gibt eine Art Licht- und Kippschalter, der die LiveWire zwar nicht anlässt, aber scharf stellt. Nichts geschieht dann. Nichts zu hören, nichts zu spüren, nichts zu sehen. Nur das Display rührt sich. Es erscheinen enttäuschende Zahlen. Wie viel Kilometer drin sind im Akku, es gibt zwei Angaben. Die eine für sparsame Schleicher. Die andere für alle, die einen Sinn im Motorradfahren sehen.
Unsichtbar, geräuschlos, geruchlos
Es gibt keine Kupplungs-Armatur am Lenker, es gibt keine Schaltung. Es gibt bei der LiveWire nur die Gelegenheit, am Stromgriff zu drehen. Harley-Davidson scheut Produkthaftungs-Prozesse, ausserdem ist man auf den Erhalt der Kundschaft erpicht – und so ist der zwangsläufig katapultartige E-Start, vermutlich mit Salto nach hinten, elektronisch abgeregelt. Beim Anfahren ergibt der Dreh am Stromgriff deshalb ein kinderwagenmässiges Anschieben. Jetzt summt die Fuhre friedlich los.
Es folgen sehr bald zwei Lektionen, die die LiveWire mit auf den weiteren E-Erfahrungsweg gibt. Erstens, dass Power, Beschleunigung, Leistungsentfaltung eines ordentlich bestückten E-Bikes prinzipiell jeden Supersportler abhängt. Und dann ist da noch unvermeidlich dieses mulmige Tschernobyl-Fukushima-Gefühl: Diese gewaltig wirkenden Kräfte, die zwar irgendwie vorhanden, aber unsichtbar, geräuschlos und geruchlos sind.
Fahrtwind füllt die elektrische Stille
Offenbar ist das auch den Leuten von Harley-Davidson aufgefallen. In diese Kraft aus dem Nichts montierten sie ein Resonanzrohr hinein. Dazu eine kleine Mechanik mit dem Summ-Geräusch von früher, als die Strassenbahnen noch «die Elektrische» hiessen. Das hilft, aber nur auf den ersten Metern im LiveWire-Sattel. Danach rauscht, pfeift und summt allein der Wind um den Motorradhelm.
Die Test-Tour auf einem der LiveWirePrototypen war nur kurz. Es sind rund 15 Kilometer auf den Service-Strassen rund um den Hockenheimring gewesen. Aber das hat gereicht, um jetzt die LiveWire dafür zu loben, dass der Antrieb vom Elektromotor auf den Antriebsriemen zum Hinterrad praktisch spielfrei, ohne Lastwechsel funktioniert. Ausserdem, dass der Elektromotor bei geschlossenem Stromgriff den Akku lädt und deshalb die ganze Fuhre ungefähr so abbremst wie das Benzinmotoren bei geschlossenem Gasgriff tun.
Fehlende Erfahrung mit sportlichen Motorrädern ist spürbar
Vor gut 20 Jahren hat Eric Buell, damals Fahrwerk-Chefkonstrukteur bei Harley-Davidson, einen Supersportler gebaut, die VR1000. Das Chassis der LiveWire, vor allem die Schwinge, hat einige Ähnlichkeit mit dem Racer von damals. Auch der eigenartig steile Lenkkopfwinkel der LiveWire, typisch für die Motorräder von Buell, ist die Handschrift des Altmeisters. Geglückt ist das allerdings nicht.
Die LiveWire fährt sich stocksteif, die Lenkachse wirkt wie festgeschraubt. Kaum, dass sich das Motorrad in eine Kurve bewegen oder in nennenswerte Schräglage kippen lässt. Erst recht sind Bremsmanöver in der Kurve eine heikle Angelegenheit. Möglich, dass das übereinander gestapelte Gewicht von Motor und Akku nah am Vorderrad schuld daran ist. Und sicher könnte es auch ein bisschen daran liegen, dass der Elektrobike-Pionier Harley-Davidson so überhaupt keine Erfahrungen mit sportlichen Motorrädern hat.
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