Noch immer ist es ein Tabuthema, obwohl das Wort «Burnout» schon fast zu unserem Alltag gehört. Wenn die Seele leidet, wenn Depressionen und psychische Erkrankungen Thema sind, dann wird es schwierig. Für die meisten von uns.
Noch immer gilt eine psychische Erkrankung als Schwäche. Und wer ist in unserer Leistungsgesellschaft schon gern schwach? Wer kann es sich überhaupt leisten, eine verletzte oder ramponierte Seele zu haben? Wer bekennt sich schon öffentlich dazu, ganz ohne Angst? Wir alle stehen unter einem enormen Leistungsdruck, und haben immer weniger Zeit, die richtige Balance zu finden.
Ich bin in den vergangenen Jahren mit vielen «Erfolgsmenschen» gelaufen. Menschen, die 15-Stunden-Tage haben. Menschen, die enorme Verantwortung tragen. Auf der einen Seite Politiker und Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, für die es kaum ein Privatleben gibt. Aber auch Menschen, die Job und Familie unter einen Hut bringen müssen. Auch sie sind Erfolgsmenschen, weil sie jeden Tag mindestens zwei Jobs wuppen müssen. Es waren auch Sportler dabei.
Gemeinsames Laufen öffnet Seelen
Kürzlich sagte mir Sabrina Mockenhaupt, eine von Deutschlands besten Läuferinnen der vergangenen Jahre: «Ich mache noch ein bisschen, aber ich freue mich auf den Tag, an dem ich einfach nur so vor mich hin laufen kann. Einfach so. Kein Training, kein Druck, keine Uhr, nicht den nächsten Wettbewerb vor der Brust.» Mockenhaupt sagte das sehr leise – und sprach von den Lauftagen nach ihrer Karriere.
Das gemeinsame Laufen öffnet Seelen. So habe ich es in vielen Läufen erlebt. Geöffnete Seelen sprechen über das, was sie bewegt. Und das hat einen wissenschaftlich belegten Grund. Ausdauersport löst in unserem Gehirn molekulare Prozesse aus. Neurotransmitter wie Serotonin werden erhöht. Ebenso wird das Glückshormon Endorphin ausgeschüttet. In dieser Stimmung spricht es sich leichter. Und das Sprechen über das, was uns bewegt, kann bereits der erste Schritt sein. Auch aus einer Depression.
Das gemeinsame Laufen schafft darüber hinaus Vertrauen. Menschen, deren Seelen nicht gesund sind, fehlt oft das Vertrauen. Zu sich selbst, zu ihrer Umwelt, zu ihrer Umgebung, zu ihrem Freundeskreis, ja sogar zu ihren Partnern. Das gemeinsame Laufen sorgt für neues Vertrauen, denn man vertraut sich dem Laufpartner an. Man traut sich etwas zu. Und wenn es auch lediglich fünf Kilometer sind.
Laufen als intensive und effektive Reha
Machen wir uns nichts vor. Selbst der längste Lauf ersetzt nicht die professionelle Hilfe. Dann, wenn es der Seele so richtig dreckig geht. Bei einem Beinbruch hilft nur eine OP. Die Reha unterstützt den Heilungsprozess. Und so sollte man es auch beim Laufen sehen.
Vielleicht ist Laufen jedoch die wesentlich intensivere und effektivere Reha. Denn es gibt Stimmen, die behaupten, dass die Bewegung – und dazu gehört das Laufen eindeutig – eine Notwendigkeit ist, um im seelischen Gleichgewicht zu bleiben. Und das sei schon so, seit es die Spezies Mensch gibt.
Professor Hans Förstl von der Psychiatrie rechts der Isar behauptet: «Wir sind gebaut als Jäger und Sammler, darauf sind wir geeicht. Es geht um Erfolg, es geht um Glücksgefühle, die wir dann erleben, wenn die Jagd gelungen ist. Viele von diesen Glücksgefühlen vermitteln sich, wenn der Körper spürt, er hat sich angestrengt.»
Und was kommt in der heutigen Arbeitswelt oft zu kurz? Eben genau das. Wir leben in einer Überstundenwelt. Stress, viel zu wenig Bewegung, Übergewicht, Depressionen, das sind die Volkskrankheiten, denen wir durchaus davonlaufen können. Denen wir sogar davonlaufen müssen oder sollten, wenn wir gesund bleiben wollen. Körperlich wie seelisch.
Schluss mit der Passivität
Meine eigene Geschichte als ehemaliger Dicker und leidenschaftlicher Power-Raucher, als Erfolgshengst, der über Jahre nur den Job im Fokus hatte und praktisch keine Bewegung, dafür aber massig Übergewicht, hat mir vor allen Dingen eines gezeigt: Geht es mir seelisch nicht besonders gut, muss ich vor allen Dingen raus aus der Passivität und Apathie.
Das Laufen verschafft die wertvollste Motivation überhaupt, die Eigenmotivation. Man erhält positives Feedback, weil man sich im besten Fall positiv verändert. Man tut etwas für sich und fühlt sich besser. Das ist der erste Schritt um aus dem Teufelskreis zu entkommen. Auch aus dem Teufelskreis der leidenden Seele.
Vor einigen Wochen habe ich meinen alten Schulfreund Kai wieder getroffen. Nach 15 Jahren. Kai hat einen knallharten Werdegang als Chef der Rechtsabteilung einer grossen Bank für sich gewählt. Mir fiel auf, dass Kai einen gebückten Gang hatte. Er bemerkte meinen Blick.
«Ich muss mich langsam wieder aufrichten, Mike. Im wahrsten Sinne. Ich habe die steile Karriere hinter mir und konnte die Last am Ende nicht mehr auf meinem Rücken tragen. Nicht nur, dass er förmlich krumm wurde. Diese Last, diese unglaubliche Last, die war für mich erdrückend. Das Haus, die Kinder, die Verantwortung für die Familie. Die Verantwortung für Tausende Kunden. Meiner Frau war ein günstiger Urlaub nicht gut genug, es musste stets ein Leben im puren Luxus sein. Aus Angst sie zu verlieren, buckelte ich mich kaputt. Pendelte Hunderte Kilometer, jeden Tag.»
Ungesunden Ballast abwerfen
Kai hat den Druck nicht mehr ausgehalten. Nicht nur der Rücken wurde krumm, auch seine Seele erlitt einen kräftigen Schaden. Er warf ungesunden Ballast ab. Er trennte sich von Haus und Luxusfrau. Heute lebt er in einer neuen Beziehung. Den Job hat er noch, aber in seiner Bank gibt es ein Gesundheitsmanagement. Hier achtet man auf Bewegung, und man schaut darauf, dass die Mitarbeiter auch psychischen Ausgleich finden, und zwar im täglichen Arbeitsprozess.
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