«Mike, ich laufe nicht. Ich weiss, ich bin damit sehr unsexy. Alle laufen. Alle. Wer nicht läuft, ist einfach sehr old school. Und eigentlich raus.»
Das sagte diese Woche eine Bekannte zu mir. Ich hätte ihr so gern widersprochen. Aber sie sagte die Wahrheit. Genau so ist es. Ich hätte ihr gern gesagt: «Du, kein Ding. Old school ist das neue trendy. Du bist schon völlig in Ordnung. Macht gar nichts.» Aber ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht.
Sechs Laufoutfits sind eine Rolex
In der Tat gibt es einen neuen Trend. Laufen, Bewegung, auf die Gesundheit achten, gut aussehen, sich um die Ernährung kümmern – das ist das neue dicke Statussymbol. Bentley und Rolex haben als Luxusgüter ausgedient. Luxus und Wohlstand ist, wenn man läuft. Wenn man teure Uhren und Wearables sein Eigen nennt. Ein gutes Laufoutfit kann schnell mal 1000 Euro kosten. Sechs Laufoutfits sind eine Rolex.
Merken Sie was? 60 Laufoutfits sind ein Porsche Boxter als Jahreswagen. Und binnen fünf Jahren hat man die Outfits schnell zusammen, wenn man trendgemäss immer vorn mitlaufen will. Macht man die Modellwechsel der GPS-Uhren mit, geht es sogar noch schneller.
Falsches Signal senden
Bis vor einiger Zeit habe ich noch gedacht: Gut, dann ist es eben so. Solange die Leute das Geld lieber dafür ausgeben, sich aber mehr bewegen, dann ist das gut investiertes Geld. Heute sehe ich das anders. Was ist das für ein Signal an all jene, die genau diesen Trend nicht bedienen können? Die eben nicht die finanziellen Mittel besitzen, hier mitziehen zu können?
Im Fall meiner Bekannten ist es gar so, dass wir sie mit diesem Trend verloren haben. Wir werden sie nicht beim nächsten Lauftreff in unserer Mitte begrüssen dürfen. Weil sie eine alleinerziehende Mutter ist. Weil sie jeden Euro umdrehen muss, weil sie per se kein Trendsetter ist. Und doch würde sie sich so gern bewegen. Und gern würde sie laufen.
Rückbesinnung auf den Kern des Laufens
Unsere Werte haben sich in einigen Punkten komplett verschoben. Durch Trends wie Tinder wird die Liebe zum Fastfood- und Wegwerfprodukt. Durch Bio, Vegan, Low Carb et cetera werden wir zu Essjunkies. Durch digitale Regale voller Sport- und Laufapps laufen wir nicht mehr des Laufens wegen, sondern weil wir zeigen wollen, wie viel geiler als andere wir sind. Wie viel sexyer wir sind. Wie viel gesünder und damit «reicher» wir sind.
Das Laufen steht jedoch für völlig andere Werte. Klartext: Es wird dringend Zeit, dass wir uns wieder auf das konzentrieren, was die «Marke» Laufen einmal ausgemacht hat. Das Laufen sollte eine der wichtigsten Konstanten des Lebens sein beziehungsweise wieder werden.
Mit dem Laufen eine Konstante im Leben haben
So wie bei Sandra Otto. Sie erkrankte mit 34 Jahren an Krebs. Die Diagnose war niederschmetternd. Sandra Otto klammerte sich gegen jeden Trend an die Laufschuhe, und die Konstante Laufen half ihr ins Leben zurück. Für sie ist das Laufen das Lebenselixier. Darüber hat sie kürzlich in einem bewegenden Interview gesprochen.
Das Laufen wird bei vielen Therapien als Lebensretter eingesetzt. Zum Beispiel bei suchtkranken Menschen. Die Dunkelziffer derer ist recht hoch, die der Sucht regelrecht davongelaufen sind. Dabei spielt der Faktor Konstante eine wesentliche Rolle.
Von Drogensüchtigen über Topmanager: Laufen ist für alle
Man schliesst eine Verabredung mit sich selbst ab. Und Verabredungen hält man ein. Verabredet man sich regelmässig mit sich selbst zum Laufen, ist das der Beginn einer Konstante. So war es auch bei Martin Buchhofer aus Hannover. Das Laufen wurde sein konstanter Begleiter aus der Drogensucht.
Erfolgreiche Topmanager laufen. Und ziehen es eisern durch, egal wo sie sind. Diesen Lauf brauchen sie. Denn auch ihnen gibt das Laufen etwas Konstantes. Hausfrauen, Angestellten und Selbständigen geht es ebenso. Sie alle freuen sich auf das Laufen. Denn es gehört nur ihnen. Es ist ein Stück Normalität. Es ist ein Energiefeld, das zu einer festen Säule geworden ist. Menschen laufen sich aus der eigenen Depression, und glauben Sie mir: Es sind viele. Auch wenn das Wort Burn-out-Syndrom viel besser klingt.
Ein Sturz öffnet alte Wunden
Seit einigen Wochen treffe ich Manuel auf meiner Laufstrecke. Manuel ist 26 Jahre alt. Und er sieht aus, wie ich vor knapp vier Jahren. Bierbrüste, deutlich über 100 Kilogramm, immer einen roten Kopf, eine Dampflok ist ein leises Ding gegen ihn. Ein paar Kilogramm hat er bereits verloren. Aber die Gewichtsreduktion ist nicht einmal sein wichtigstes Thema. Vor zwei Tagen kamen wir ins Gespräch. Manuel war gestürzt. Er hielt sich das Knie. Er weinte. Langsam half ich ihm auf. Und legte ihm die Hand auf die Schulter.
«Ist alles in Ordnung? Es sah gar nicht so schlimm aus», versuchte ich ihn zu beruhigen. Manuel weinte nicht wegen des kleinen Sturzes. Es brach einfach aus ihm heraus. Vor vier Monaten hat er – so berichtete er mir – seine Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren. Ein Lkw raste in ein Stauende. Manuels Vater und Mutter standen mit ihrem Wagen als Letzte im Stau. Sie waren sofort tot.
Halt finden in der Bewegung
Nichts war mehr wie zuvor in Manuels Leben. Ein geordnetes Leben lief komplett aus dem Ruder. «Das Laufen ist das einzige, was konstant ist, worauf ich mich verlassen kann, was mir Halt gibt. Auch wenn es manchmal schmerzt, aber wenigstens gibt es Halt», sagte er, als wir uns an diesem Tag trennten.
Missbrauchen wir das Laufen nicht! Es ist nicht nur einfach ein Luxustrend. Es ist ein sensibles Gut, das Leben retten kann. Das Halt gibt. So läuft es.
Die Kontributoren sind externe Autoren und wurden von bilanz.ch sorgfältig ausgewählt. Ihre Meinung muss nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.