An Amazons digitalem Assistenten Alexa arbeiten 5000 Mitarbeiter. Vor gut einem Jahr waren es noch nur 1000 – ein Beispiel für rasantes Wachstum. Welche Risiken ergeben sich daraus, wenn ein Unternehmen so schnell so viele Mitarbeiter einstellt?
Heike Bruch*: Erstmal ist es ja sehr schön, wenn ein Unternehmen so erfolgreich ist und so viele neue Mitarbeiter einstellen kann. Das ist die positive Seite. Auf der anderen Seite sind verschiedene Gefahren zu nennen. Zum einen können Firmen in die Beschleunigungsfalle rutschen, wenn Belastungen aus Mitarbeitersicht zu schnell oder zu stark ansteigen. Die zweite Gefahr beinhaltet, dass die Entwicklung der Strukturen hinter der Mitarbeiterzunahme zurückbleibt. Die dritte ist die schwerwiegendste Gefahr: dass die Kultur des Unternehmens unter dem Wachstum leidet.

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Wodurch zeigt sich eine Beschleunigungsfalle?
Eine Beschleunigungsfalle ist eine Art kollektive Überhitzung. Ein Grossteil der Mitarbeiter empfindet, dass die Arbeit zu viel ist, dass sie zu viele unterschiedliche Aufgaben übernehmen müssen oder dass die Prioritäten unklar sind. Die Mitarbeiter fühlen sich, als würden sie konstant am Limit arbeiten. Rund 50 Prozent der Unternehmen leiden unter der Beschleunigungsfalle. In Unternehmen mit starkem Wachstum ist der Anteil deutlich höher.

Warum?
Sprunghaftes Wachstum bedeutet eine höhere Belastung für die Mitarbeiter, das Tagesgeschäft wird intensiviert, neue Mitarbeiter müssen rekrutiert und eingearbeitet werden. Die Geschwindigkeit steigt, die Komplexität der Prozesse im Unternehmen nimmt zu. Ein kritischer Punkt ist erreicht, wenn Führungskräfte vom Wachstumstempo überfordert sind und ihre Führungsfähigkeit leidet, da sie zum Beispiel schwer Prioritäten setzen können oder sie zu wenig Zeit haben zum Kommunizieren. Das alles zahlt auf die Beschleunigungsfalle ein.

Wie können sich Führungskräfte denn gut aufstellen, wenn sie schnell viele neue Mitarbeiter integrieren wollen?
Um das Wachstum positiv zu gestalten, ist es zentral, die Mitarbeiter gut einzubeziehen und den Prozess so gut wie möglich zu strukturieren. Das heisst, Meilensteine zu setzen, und Erfolge zu kommunizieren. Wichtig ist auch, Schwerpunkte deutlich zu machen und zu erklären, warum diese so gesetzt werden. Es ist wichtig, dass Mitarbeiter die Entwicklungen verstehen und dass sie erleben, dass sie den Prozess beeinflussen können. Gefährlich wird es hingegen, wenn Mitarbeiter in eine Art passive Betroffenheit geraten. Starkes Wachstum wird von ihnen dann oft als Ohnmacht erlebt.

Teamleiter sind aber oft an die Vorgaben von der Konzernspitze gebunden. Wie kann die Unternehmensführung gute Impulse geben?
Das oberste Management hat die Aufgabe, die Agenda zu setzen. Dazu gehört, eine klare Richtung beziehungsweise eine klare Vision zu entwickeln und dann ihre Führungskräfte zu empowern, so dass sie aktiv gestalten können. Wichtig ist, dass der Sinn der strategischen Ausrichtung und des Wachstums deutlich wird. Was dann konkret gemacht wird und wie, sollten zum grossen Teil den Führungskräften und ihren Teams zur Gestaltung übertragen werden. Es ist zentral, dass die Mitarbeiter sich in diesem Prozess als Akteure fühlen.

Wie schaffen Führungskräfte es, dass Mitarbeiter sich beteiligt fühlen?
Wenn die Mitarbeiter eine Art Vision kennen, unterstützt das. Sie können sich dann an einem übergeordneten Unternehmenszweck orientieren. Gut ist es, wenn bei der Belegschaft die Einstellung entsteht: «Ok, wir haben eine spannende Zukunft vor uns, ich bin Teil davon und bringe mich gerne ein.»

Aber kein Mikromanagement?
Kein Mikromanagement, keine Kommandos, keine zu engen Vorgaben. Führungskräfte sollten eher vermitteln, welchen Einfluss der einzelne Mitarbeiter auf eine bestimmte Entwicklung nehmen kann, welchen Beitrag er leisten kann.

Ist es wichtig, dass die Unternehmensspitze klare Entscheidungen fällt?
Das ist massgeblich. Im Kontext von Wachstum ist vor allem wichtig zu entscheiden, welche Dinge im Fokus sind, was gleichzeitig jedoch auch beendet wird oder vereinfacht werden kann. Die Beschleunigungsfalle kommt besonders dann zustande, wenn die Mitarbeiter den Eindruck haben, sie sind mit Höchsttempo unterwegs und sie werden zugleich durch ineffiziente Strukturen gebremst, durch zu viel Bürokratie oder durch als sinnlos empfundene Aufgaben. In einer Wachstumsphase, die viel abverlangt, ist die Sensibilität für unproduktive Arbeit bei den Mitarbeitern erhöht. Darum sind konsequente Entscheidungen wichtig, Ineffizienzen zu beseitigen und sichtbar in die Wachstumsbereiche zu investieren.

Was hat es für Folgen, wenn das Unternehmen im Wachstum überlastet wird?
Wenn das Unternehmen überlastet wird, kann es zunächst nicht von den positiven Wirkungen von Wachstum profitieren, wie etwa eine gute Dynamik, einem erhöhten Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Mitarbeitern und deren Stolz auf den Erfolg. Wenn es längere Zeit in die Beschleunigungsfalle gerät, verändert sich das Betriebsklima negativ. Dann entstehen Stress, Agressionen und Widerstand gegen Neuerungen. Mittelfristig steigt der Krankenstand an und es kommt zu erhöhter Fluktuation. Dabei ist häufig nicht der Umfang der Arbeit die Ursache für überhöhte Belastung, sondern schlechte Führung - unklare Prioritäten, fehlende Wertschätzung und enttäuschte Erwartungen auf Seiten der Mitarbeiter. Es ist also die Aufgabe der Führung, starkes Wachstum zum Erfolgserlebnis für die Mitarbeiter zu machen und damit auch die Basis zu legen für mittelfristig anhaltenden Erfolg und weiteres Wachstum.

Wie können Teamleiter entgegenwirken, wenn eine Überlastung entsteht?
Teamleiter können Schadensbegrenzung betreiben. Wobei diese Führungsarbeit sehr wertvoll für das Team ist. Die Teamleiter müssen schauen, dass sie ihr Team vor Frust schützen. Das heisst, die Führungskräfte sollten stark Prioritäten kommunizieren und unnötige Mehrarbeit in Form von Bürokratie, unwichtigen Aufgaben oder Ineffizienzen abbauen und Aktivitäten mit geringer Priorität streichen. Das ist nicht nur für die Reduktion der Belastung wichtig, sondern vor allem symbolisch.

Warum?
Es drückt Anerkennung für den Einsatz der Mitarbeiter in der anstrengenden Wachstumsphase aus. Es ist wesentlich, dass Teammitglieder sich wertgeschätzt fühlen und Erfolge gefeiert werden. Alle Themen, die potenziell Frust bringen und welche die Teamleiter nicht beeinflussen können, sollten sie grundsätzlich auch im Team besprechen. Die Botschaft lautet dann: «Hej, das können wir nicht ändern, lasst uns das akzeptieren und schauen, wie wir das gestalten können». Das ist wichtig, damit das Team auch mit solchen Entwicklungen umgehen lernt.

Welche Unternehmen können sich schnell wachsende Firmen in der Schweiz zum Vorbild nehmen?
Es gibt teilweise richtig klassische Unternehmen, die Wachstum gut gestalten. Hilti zum Beispiel oder Phoenix Content – mittelgrosse Familienunternehmen, die aber auch stark bei der Mitarbeiterzahl zulegen. Die haben gemeinsam, dass sie zum einen sehr langfristig denken und sich bereits jetzt mit Trends auseinandersetzen, die in zehn oder zwanzig Jahren zum Tragen kommen können. Das heisst, dass sie nicht nur ad hoc reagieren, sondern planen. Und sie haben auch gemeinsam, dass sie eine sehr starke Firmenkultur haben. 

Warum ist das so wichtig?
Wir untersuchen gerade, was Speed, also Geschwindigkeit ermöglicht. Wenn Wachstum mit Tempo gelingen soll, braucht es vor allem Vertrauen von Seiten der Mitarbeiter. Ein wesentlicher Faktor, der zur Stärkung von Vertrauen beiträgt, ist der Umgang mit Werten und die Unternehmenskultur. Es ist zum Beispiel relevant, in welchem Ausmass sich Mitarbeiter auf ihre Teamkollegen verlassen können oder ob sie ständig ihre Position absichern müssen. Eine solche Kultur des Vertrauens ermöglicht es, Wachstum als Team anzugehen. Ein zweites Thema ist wichtig: gesunder Umgang mit den Mitarbeitern. 

Worin besteht der?
Es macht einen Unterschied, ob Mitarbeiter früh artikulieren können, wenn sie überlastet sind. Oder ob Überforderung tabuisiert wird und jeder für sich schaut, dass er Strapazen schultert. In einer gesunden Kultur werden übergrosse Anforderungen frühzeitig thematisiert, wie dies zum Beispiel auch in agilen Methoden der Zusammenarbeit Standard ist. Denn können andere umgehend mit anpacken und teure Ausfälle durch Überlastung vermieden werden, die letztlich auf das gesamte Team zurückfallen.

*Heike Bruch ist Professorin für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Leadership. Sie forscht im Fokus zu Themen der gesunden Hochleistung und neuen Führungs- und Arbeitsformen. 

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