Sie hätte allen Grund, um in den sozialen Medien so richtig laut zu sein. Stattdessen schweigt Wendy Becker (57). Dabei ist sie als Verwaltungsratspräsidentin von Logitech eine Ausnahmeerscheinung: Becker ist die einzige Frau an der Spitze eines SMI-Konzerns. Alle anderen 19 Unternehmen im Schweizer Leitindex setzen ausschliesslich auf Präsidenten und männliche CEOs.

Ist sie etwa nicht stolz darauf? «Ich setze mich leidenschaftlich für Gleichberechtigung und Inklusion ein», stellt Becker klar, als sie Blick im Schweizer Logitech-Hauptsitz in Ecublens VD nahe Lausanne empfängt. «Aber Taten sagen mehr als Worte.»

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Becker ist erst vor wenigen Stunden aus Japan kommend in der Schweiz gelandet. Mit ihren verschiedenen Mandaten – beispielsweise im VR des japanischen Elektronikkonzerns Sony – verbringt sie viel Zeit in Flugzeugen. «Ich weiss gar nicht, ob ich Jetlag habe. Mein Körper hat vergessen, in welcher Zeitzone ich gerade bin.»

Vor dem Gespräch mit Blick muss also erst einmal Koffein her. Becker holt sich ihren Kaffee selber. Die Schlange vor der Maschine ist lang. Zeit für Small Talk mit den Mitarbeitenden. «Das ist eine der Möglichkeiten, um die Menschen hier persönlicher kennenzulernen.»

Wendys Zauberstab

Nach jedem Quartal wählt Becker 15 bis 20 Mitarbeitende zufällig für einen Austausch aus – egal ob Fabrikmitarbeiter in China, Führungskraft im kalifornischen Silicon Valley oder Ingenieurin in der Schweiz. Am Schluss kommt immer die «Wendys-Zauberstab-Frage». Sie lautet: «Wenn du mit einem Zauberstab etwas bei Logitech sofort verändern könntest, was wäre es?»

Die Ideen, die das Personal so generiert, seien verblüffend. «Ein Mitarbeiter schlug einen neuen Geschäftsbereich für Logitech vor. Ich besprach die Idee mit unserem CEO. Jetzt investieren wir darin. Leider kann ich noch nicht sagen, was es ist.»

Dass Becker in den Medien spricht, ist eine Seltenheit. Seit ihrem Amtsantritt 2019 gab sie erst ein Interview. Es dauerte denn auch über ein Jahr, bis der Termin mit der viel beschäftigten Frau zustande kam. Wendy Becker nimmt sich an diesem Morgen ausführlich Zeit, schliesslich ist in den vergangenen Monaten und Jahren viel passiert.

Aufstieg und Fall von Logitech

Logitech hat einen steilen Aufstieg hinter sich. Das Unternehmen zählt heute weltweit rund 5000 Mitarbeitende, 2019 waren es 3200. Grund ist die Corona-Pandemie, von der Logitech finanziell gewaltig profitiert hat. In Zeiten von Lockdowns und Homeoffice deckten sich Arbeitnehmer weltweit mit Computerzubehör des Schweizer Unternehmens ein – die Umsätze schnellten in die Höhe. Der Aktienkurs stieg von Anfang 2020 bis Mitte 2021 von 33 auf 119 Franken – ein Plus von 260 Prozent!

Die Krönung folgte im September 2021, als Logitech die Swatch-Gruppe aus dem SMI verdrängte. Seither ging es mit dem Aktienkurs bergab, aktuell liegt er bei 56 Franken. Ein Grossteil der Gewinne an der Börse waren nicht nachhaltig. Logitech konnte die gestiegenen Erwartungen der Analysten nicht mehr erfüllen. «Während der Pandemie gab es einen Kaufrausch auf unsere Produkte», sagt Becker. Dieser hat in der Folge nachgelassen. Im März musste Logitech Medienberichten zufolge 300 Mitarbeitende entlassen.

Virtuelle Sitzungen revolutionieren

Becker gibt sich gelassen, wenn sie über die negative Entwicklung an der Börse spricht. «Wir sind in einer stärkeren Position als vor drei Jahren und langfristig ausserordentlich gut aufgestellt», sagt sie in bester PR-Manier. Fakt ist, dass aufgrund von hybriden Arbeitsmodellen viele Menschen zu Hause, auf dem Tablet und im Büro Logitech-Produkte nutzen. «Somit sind auch die Möglichkeiten für uns gestiegen.»

Das 1981 in Lausanne gegründete Unternehmen will sich nicht auf ergonomischen Tastaturen und Mäusen ausruhen. Ein heute wichtiger Teil des Unternehmens ist die E-Gaming-Sparte, die weltweit weiter wächst. Logitech rüstet Streamer, die ihre Spiele online übertragen, mit Zubehör wie Lautsprechern, Headsets und Kameras aus.

Wendy Becker ortet grosses Potenzial bei virtuellen Sitzungen, die nach der Pandemie in der Geschäftswelt zur Normalität wurden. «Dort wollen wir mit mehr Kameras das Erlebnis verbessern, damit während einer Online-Sitzung zum Beispiel verschiedene Blickwinkel und auch Nahaufnahmen von Personen möglich werden.»

Bemerkenswerte Karriere

Die gebürtige Amerikanerin mit britischem und italienischem Pass scheint motiviert, die Zukunft von Logitech aktiv mitzugestalten. Ihr Aufstieg in die Elite der Geschäftswelt ist bemerkenswert. Nach einem Studium in Stanford war sie bei McKinsey zuständig für das britische Konsumgütergeschäft. Später leitete sie den britischen Kleiderhändler Jack Wills – erst als COO, dann als CEO. Heute hält sie nebst den Verwaltungsratsmandaten bei Logitech und Sony auch solche bei der Immobilienfirma Great Portland Estates sowie in diversen Gremien der Universität Oxford.

«Wenn ich mal freihabe, bin ich draussen in der Natur und gehe wandern, um meine Batterien wieder aufzuladen», sagt die Mutter von drei erwachsenen Kindern. «Egal wie stressig es gerade ist, ich versuche jeden Tag, kurz Sport zu treiben. Das ist wichtig für die mentale Gesundheit.»

Keine Frauenquoten

Für eine Jogging-Runde bleibt an diesem Morgen keine Zeit – die nächste Sitzung ruft. Becker wird in diesem Raum nicht die einzige Frau sein. «Auch wenn ich öffentlich nicht darüber spreche, setze ich mich seit Jahren für mehr Frauen in Führungspositionen ein», sagt sie und streicht konkret ihre Bemühungen in britischen Wohltätigkeitsorganisationen heraus, bei denen sie im Vorstand sitzt.

«Als Frau musste ich mehr Hürden als die Männer überspringen – zum Beispiel, als ich in einer entscheidenden Phase meiner Karriere schwanger war.» Von Frauenquoten in Unternehmen will Becker aber nichts wissen. «Zwang bringt nichts», sagt sie. Mehr ist Wendy Becker zu diesem Thema nicht zu entlocken. Sie wiederholt ein letztes Mal: «Lieber Taten statt Worte.»

Dieser Artikel erschien zuerst beim Blick unter dem Titel «Die mächtigste Frau der Schweizer Wirtschaft».