Es war eine eiskalte Dusche. Zwei Jahre lang hatte Raúl Pagès an einem kleinen Automaten gearbeitet, einem Wunderwerk der Feinmechanik, einer kleinen Schildkröte mit allen Finessen. Dank einem Uhrwerk als Motor im Bauch – über 300 Teile in höchster uhrmacherischer Tradition gefertigt – konnte das Tier akkurat vorwärtskommen, wobei sich Füsse und Kopf aus 18 Karat Gold passend bewegten Der Frust: Zwar waren die Reaktionen durchaus positiv, zum Öffnen des Portemonnaies animierte es aber niemanden – Raúl Pagès blieb auf seinem Tier sitzen.
Heute kann er über die Episode lachen. «Ich bereue nichts», sagt er. Kein Wunder: Seit einiger Zeit reisst man ihm seine Kreationen aus den Händen, vor allem seit er den prestigeträchtigen Louis Vuitton Watch Prize for Independent Creatives 2024 gewonnen hat. Doch davor lautete die Devise: auf die Zähne beissen. Weiterhin tat er das, was schon vorher seine Existenz gesichert hatte: Er restaurierte alte Uhren. Edle Taschenuhren waren es vor allem, mit allen Finessen, ausgeklügelten Komplikationen und hohen Ansprüchen an die Chronometrie, wie Uhrmacher das Streben nach Präzision in der Zeitmessung nennen.
Eine verlorene Zeit war dieses Kapitel im Berufsleben von Raúl Pagès mitnichten. Denn Uhrmacher, die alte Zeitmesser restaurieren, sind immer wieder mit Schwachstellen der verschiedenen Konstruktionen konfrontiert. Und lernen dabei, wie man sie bei neuen Lösungen vermeidet. Dazu kam, dass der Mann diese Arbeit sehr gerne verrichtete. So verblasste die Erinnerung an die Niederlage mit der Schildkröte nach und nach – und machte einem neuen Traum Platz, der immer virulenter wurde: «Mir wurde klar», sagt Pagès, «dass ich endlich meine eigene Uhr bauen wollte.»
Die erste hiess Soberly Onyx und basierte technisch auf einem historischen Uhrwerk, einem Cyma-Kaliber von Tavannes Watch, das der Uhrmacher gründlich überarbeitete und nach allen Regeln der Kunst dekorierte. Das fertige Stück verriet schon ziemlich alles über die Herangehensweise des Jungtalents – und über seine ästhetischen Vorlieben: Er liebt es pur und reduziert, aber dennoch elegant. Da erstaunt es auch nicht, dass auf seiner Werkbank ein Band des Stararchitekten Le Corbusier und dessen Farbenlehre steht.
Der erste Verkaufserfolg
Ein schwarzes Onyxzifferblatt mit Weissgoldindizes verleiht dem Zeitmesser im Weissgoldgehäuse ein grafisches Aussehen, die mattschwarze Oberfläche der Hauptplatine verbindet Tradition mit Modernität. Neben Le Corbusier nennt Pagès das Bauhaus als wichtigste Inspirationsquelle – man sieht es der Uhr an, die in einer kleinen Serie von zehn Stücken produziert wurde. Preis: 48'000 Franken.
Diesmal zückten Kunden die Kreditkarte. «Es war ein erster Erfolg», sagt Raúl Pagès, «aber noch kein Grund zur Euphorie.» Immerhin ermöglichte der Erlös die Beschaffung von Komponenten für den nächsten Prototypen. Diese waren die Basis für sein nächstes Stück, den Régulateur à détente RP1, eine aussergewöhnliche Uhr mit einem komplett neuen Werk. Besonderes Merkmal ist die Chronometerhemmung, von vielen Uhrenfreunden als besonderer mechanischer Leckerbissen geschätzt. Dazu kommt die Regulatorenanmutung, will heissen, die Zeiger auf dem Zifferblatt sind sauber getrennt: In der oberen Hälfte tickt der Stundenzeiger, unten der Sekundenzeiger, und als dominierendes Schauspiel streicht der grosse Minutenzeiger aus der Mitte über das ganze Zifferblatt. Nebenbei: Die Farbe des kleinen Sekundenzifferblatts heisst Ceruleanblau 59, was auf Deutsch Himmelblau meint und in Corbusiers Farbenlehre für den Himmel und das Meer steht.
Absage an Materialschlachten
Optisch bleibt Pagès bei seinen Leisten: Die Uhr ist meilenweit weg von den barocken Materialschlachten, wie man sie oft bei Uhrmachern aus dem französischen Sprachraum vorfindet. «Wenn ich meine Philosophie in drei Worte packen müsste», sagt der Preisträger, «wären das Zeitgemässheit, Passion und Tradition.» Dazu käme die Inspiration von Design und Architektur – und zwar sowohl für das Werk der Uhr als auch für das Gehäuse.
85'000 Franken kostet das Stück – zusammen mit seinem neuen Atelierkollegen wird er es auf eine Jahresproduktion von sechs bis acht Uhren bringen. Gegen drei Jahre müssen sich Kunden gedulden, bis sie ihre RP1 in den Händen halten können. Merke: Heute wartet Raúl Pagès nicht mehr auf die Kundschaft, heute wartet die Kundschaft auf seine Uhr.