Der Terminkalender von Christian D. Grichting ist voll. Am Vormittag hat er ein Trauergespräch in Zürich, am Nachmittag eine Trauerfeier in einer Waldhütte im Bündnerland. Tags darauf gehts mit dem Zug weiter nach Basel zum Vorgespräch mit zwei Hochzeitswilligen. Zeit für ein Telefonat bleibt nur während der Fahrt zum nächsten Kunden. «An Spitzentagen leiten wir bis zu sieben Zeremonien gleichzeitig», sagt Grichting.

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Grichting verdient sein Geld mit Traureden bei Hochzeiten und Trauerreden am Grab. Ein Pfarrer aber ist er nicht. Der 45-Jährige begleitet als freier Ritualgestalter Zeremonien für nichtreligiöse und konfessionsfreie Menschen – und gründete dafür die Firma Cérémonie Grichting. Das war vor 14 Jahren. In der Schweiz war er damit einer der ersten Anbieter im Hauptberuf.

Rund 220 Feiern pro Jahr

«Anfangs habe ich das nur nebenberuflich gemacht. Damals waren freie Trauungen und Abschiedsfeiern ausserhalb der Kirche wenig verbreitet. Das hat sich inzwischen geändert, immer mehr wissen, dass es nebst der Taufe, der kirchlichen Trauung und dem christlichen Begräbnis säkulare Formen dafür gibt», sagt er.

Heute begleiten er und sein Team rund 220 Feiern pro Jahr: von Willkommensfeiern für Neugeborene über Hochzeiten bis zum Todesfall. Wer für 2019 noch Trauungstermine bei Cérémonie Grichting bekommen will, muss sich sputen, «wir sind bereits zu 70 Prozent ausgebucht», sagt er.

Christian Grichting

Christian D. Grichting brach sein Theologiestudium ab und begleitet seither als freier Redner religionsfreie Zeremonien. Seine Firma Cérémonie Grichting beschäftigt vier Teilzeitangestellte.

Quelle: Christian Grichting

Freie Trau- und Trauerredner wie Grichting erfreuen sich in Zeiten, in denen viele Kirche und Religion den Rücken kehren, einer immer grösseren Beliebtheit. An immer mehr Festtagen werden konfessionslose Redner von Menschen in der ganzen Schweiz engagiert. «Die Nachfrage nach Zeremonien, in denen es nicht um Religion oder Gott geht, sondern in denen der Mensch im Vordergrund steht, ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen», sagt Grichting. Denn das Bedürfnis, besondere Ereignisse wie Geburt, Hochzeit oder Tod mit einem Ritual zu begehen, ist nach wie vor gross.

Kirchliche Zeremonien werden zudem oft als unpersönlich und steif empfunden, mit zu viel Gott und Verkündungsbotschaft und zu wenig Individualität und Privatem. Nur hatte man bis vor wenigen Jahren eben keine andere Wahl – kirchlich oder gar keine Zeremonie, hiess es da. Und weil vielen die standesamtliche Trauung allein zu wenig feierlich war, entschied man sich eben doch für die kirchliche Variante.

Heute ist das anders. Grichting schätzt, dass es mittlerweile um die 500 Mitbewerber auf dem Schweizer Markt gibt, die sich wahlweise Zeremoniar, Zeremonienleiter, Ritualgestalter, Trauredner oder Lebensbegleiter nennen.

Immer neue Berufsfelder entstehen

Sie reihen sich in eine Linie mit Berufen, die auf ähnliche Weise den Zeitgeist treffen. Denn basierend auf dem technologischen Fortschritt und Entwicklungen wie dem Religionsschwund oder Klimawandel, ändern sich nicht nur die Lebensweisen der Menschen, sondern auch die Berufe. Die Wirtschaft verändert sich, wird global, virtuell und immer komplizierter. Die Folge: Am Karrierehimmel tun sich unzählige neue Jobmöglichkeiten auf. Es tauchen plötzlich Berufe auf, an die bis vor wenigen Jahren noch nicht zu denken war.

Dazu zählt etwa der Data Scientist, der mit komplexen Datenmengen jongliert, sie entschlüsselt und strukturiert, oder der Roboterberater, der bei der Auswahl des richtigen Roboters hilft (siehe Bildergalerie). Auch Abfalldesigner, die aus Abfallprodukten neue Materialien generieren, oder Drohnenjäger, die Jagd auf die kleinen Flugobjekte am Himmel machen, treten zunehmend in Erscheinung. Oftmals gibt es für sie (noch) keine geregelte Ausbildung, kein Faltblättchen beim Arbeitsamt, das über die Anforderungen informiert. Die konfessionslosen Redner kommen ohne Digitalisierungslabels aus. Sie bedienen ein Bedürfnis, das in den letzten Jahren auch ohne Internet angestiegen ist.

Eine geschützte Berufsbezeichnung gibt es aber ebenso wenig wie eine Qualitätskontrolle. Und so lässt sich im Internet vom ehemaligen Pfarrer über die Psychologin bis hin zum Schauspieler und Schriftsteller alles buchen. Jeder nach seinem Gusto, lautet die Devise. Das gilt auch beim Preis: Von wenigen hundert bis zu 2000 Franken verlangen die Redner für eine Trauung. Grichting nimmt durchschnittlich 1700 bis 1900 Franken, «je nachdem wo die Trauung stattfindet, wie weit die Anfahrt ist und ob es zweisprachig erfolgen soll».

«Wenn man es gut macht, kann man netto bis zu 100 Franken die Stunde verdienen»

Daniel Stricker, Zeremoniar

Demgegenüber steht ein Arbeitsaufwand von ungefähr zwanzig Stunden. Darin enthalten sind Vorgespräche, das Schreiben der Rede, die Zeremonie selbst sowie die Nachbereitung. «Wenn man es gut macht, kann man netto bis zu 100 Franken die Stunde verdienen», sagt auch Daniel Stricker, der seit 2012 hauptberuflich als Zeremoniar tätig ist. Eine staatlich anerkannte Ausbildung zum freien Trauredner gibt es nicht, dafür findet man online zahlreiche mehr oder weniger seriöse Lehrgänge.

Selbst die Migros ist auf den Zug aufgesprungen und hat 2017 in ihrer Klubschule in Nyon in einem Pilotprojekt den Lehrgang Officiants Laïcs angeboten. Sechs Personen liessen sich darin von März bis September zum konfessionslosen Zeremonienleiter ausbilden. Kostenpunkt: 3950 Franken für 120 Lektionen. Der gleiche Kurs wird ab Januar erneut angeboten, erste Teilnehmende gibt es bereits. «Das Interesse scheint deutlich zu wachsen», heisst es dazu bei der Migros-Klubschule auf Nachfrage. «Die Mitbewerber haben stark zugenommen, vor ein paar Jahren gab es kaum jemanden, der das hauptberuflich gemacht hat, heute schiessen freie Redner förmlich aus dem Boden», so Grichting.

Grosses Marktpotenzial

Dass das Angebot wächst, verwundert angesichts des grossen Marktpotenzials kaum: Noch nie gab es in der Schweiz so viele Konfessionslose wie heute. Rund ein Viertel der Schweizer bezeichnet sich laut Bundesamt für Statistik inzwischen als konfessionslos. 1960 war es nicht mal 1 Prozent. Der Zuwachs geht vor allem auf das Konto der Reformierten, zu denen sich 1960 noch mehr als die Hälfte der Wohnbevölkerung zählte. Heute sind es nur noch 25 Prozent.

Zudem will heute längst nicht mehr jedes Ehepaar auch kirchlich heiraten: Während die Anzahl der zivilen Eheschliessungen in der Schweiz seit 1960 relativ stabil geblieben ist, erleben die reformierten und katholischen Trauungen laut Kirchenstatistik des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts einen starken Einbruch. Wurden damals noch mehr als 16 000 Paare reformiert getraut, waren es 2017 noch 3287 Paare.

«Ein reformierter Pfarrer im Kanton Zürich macht heute im Schnitt noch zwei Trauungen im Jahr»

Valentin Abgottspon, Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz

«Ein reformierter Pfarrer im Kanton Zürich macht heute im Schnitt noch zwei Trauungen im Jahr», sagt auch Valentin Abgottspon, Ritualbegleiter und Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz. Gleiches gilt für die katholische Kirche: Im Jahr 2016 wurden in der Schweiz nur rund 3500 Paare katholisch getraut. Insgesamt liessen sich 2017 gerade noch 16 Prozent aller Brautpaare in der Kirche trauen (katholisch und evangelisch-reformiert).

Zudem wird inzwischen jede dritte Ehe in der Schweiz geschieden; gerade für geschiedene Katholiken, die nicht mehr kirchlich heiraten dürfen, kommt eine freie Trauung daher oftmals infrage. Und auch bei gleichgeschlechtlichen Paaren ist diese beliebt.

Valentin Abgottspon

Valentin Abgottspon war Lehrer, bis er 2010 das Kruzifix aus seinem Klassenzimmer entfernte und entlassen wurde. Heute ist er Ritualbegleiter und Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung.

Quelle: ZVG

«Die Leute, die sich für eine freie Trauung entscheiden, können oft mit Religion und Kirche nichts anfangen», sagt Abgottspon. «Gleichzeitig ist es für sie ein besonderes Ereignis, dem sie eine Bedeutung geben wollen, mit einer Feier, die sich vom Alltag abhebt. Unser Erfolg basiert darauf, dass wir dann individuell auf ihre Wünsche eingehen können, das kann die Kirche nicht immer in dem Ausmass.»

Ähnlichkeit zu kirchlichen Ritualen bleibt

So traute Grichting beispielsweise ein Paar schon mal auf Surfbrettern auf dem Zürichsee. Oder während eines Fluges von Zürich nach Paris. Doch trotz aller Freiheit, meist ähneln die freien Zeremonien den kirchlichen Ritualen: Die Braut trägt weiss und lässt sich vom Vater zum «Altar» führen, das Paar gibt sich das Jawort und gelobt, miteinander das Leben zu meistern – nur eben nicht vor Gott.

Für Grichting ist das kein Widerspruch. «Rituale sind etwas Menschliches, mit denen entscheidende Veränderungen im Leben gefeiert werden», sagt er. «Und beim Heiraten die Ringe zu tauschen, wünschen sich eben fast alle.»