Ein paar Monate nach dem Konkurs seines Medizinaltechnikunternehmens Jomed begegnete Tor Peters an einer Branchenmesse Kollegen, die er längere Zeit nicht mehr gesehen hatte. Einige gingen ihm aus dem Weg, andere versuchten ihn zu trösten, und einer riss die Augen auf und rief ihm erstaunt zu: «Was, dich gibts immer noch?» Als hätte sich mit der Firma auch gleich der Chef in Luft aufgelöst.
Dabei hätte Tor Peters viele Gründe, sich zu verstecken. Der Untergang der einstigen Börsenrakete Jomed gab Stoff für Schlagzeilen und ein juristisches Nachspiel. Viele Anleger verloren viel Geld, aber am meisten verlor CEO und Hauptaktionär Peters: 700 Millionen Franken. Nach der Pleite musste er sein Haus in Schaffhausen verkaufen und wohnt seither, wenn er nicht gerade zwischen den Metropolen hin und her pendelt, in seinem Chalet im Berner Oberland. Eine Segelyacht im Wert von zwölf Millionen Euro, die er nach seinen Vorstellungen bauen liess, um sich den Traum einer Weltumseglung erfüllen zu können, wurde verwertet, bevor er sie zu Gesicht bekam.
Positive Motivation. «Für mich war es keine Tragödie», kommentiert Peters seine grösste berufliche Niederlage, «ich habe nur so lange darüber nachgedacht, bis ich daraus eine positive Motivation schöpfen konnte.» Der Hüne aus dem hohen Norden steckte nicht den Kopf in den Sand. Er drückte nochmals den Karrierestartknopf. «Es gibt nur eines, das Gewinner von Verlierern unterscheidet», sagt Peters. «Gewinner geben nie auf.» Unentwegt trat er wieder auf dasselbe glatte ökonomische Parkett, auf dem er zuvor auf die Nase gefallen war. Er zeigte sich auf Medtechveranstaltungen, traf Wissenschaftler, Ärzte und Investoren – und forschte unablässig nach einem Ansatz für eine neue Geschäftsidee. Peters scheute sich nicht, für die Finanzierung Investoren anzugehen, die mit Jomed-Aktien Totalverlust erlitten hatten.
Und siehe da: Einige stiegen wieder ein. Nur zwei Jahre nach der Jomed-Pleite hatte Peters wieder rund 20 Millionen Franken beisammen und gründete damit die Firma Nolabs. Sie beschäftigt derzeit 20 Mitarbeiter und hat eine weltweit neuartige Behandlung gegen eine verbreitete und schmerzhafte Folgekrankheit von Diabetes zur Marktreife gebracht. Das Produkt, ein medizinisches Patch, das auf die Haut geklebt wird, soll im Sommer auf den Markt kommen. Nachdem Anfang Jahr erste vielversprechende Ergebnisse der klinischen Tests bekannt geworden sind, sucht Peters nun neue Geldquellen für die Herstellung und die Lancierung des Produkts. Acht Millionen Franken braucht er und reist deshalb nun mit seinem Patch im Aktenkoffer – ungeachtet der wirtschaftlichen Krise – von Family Office zu Investmentfirma.
Gerade in Krisenzeiten übt sich eine wachsende Zahl von Wirtschaftsführern in der Kunst, neu anzufangen. Während Peters aus der Not eine Tugend machte, spüren andere ohne sichtbaren äusseren Zwang den Wunsch, nochmals neu anzufangen. Ob freiwillig oder unfreiwillig – bei Laufbahnberatern, Businesscoaches und Headhuntern meldet sich eine wachsende Zahl von Ratsuchenden in der Lebensmitte, die ihrem Berufsleben eine neue Richtung geben wollen, anstatt lebenslang den gleichen Film abspulen zu lassen. Nach 20-jähriger klassischer Karriere, in welcher der materielle und statusgetriebene Ehrgeiz befriedigt worden ist, fragen sie sich: War es das nun? Bis vor kurzem nannte man das Phänomen «Midlife Crisis», heute spricht die Fachwelt zukunftsgerichtet von «Midlife Change».
Neue Perspektiven. Der 45-jährige Mensch weiss, dass er voraussichtlich noch vier Jahrzehnte zu leben hat – zu viel Zeit, um sie an den falschen Beruf zu verschwenden. Da die Lebenserwartung steigt, wird der Wandel in der Lebensmitte für viele Geschäftsleute eine existenzielle Notwendigkeit, auf die allerdings viele zu wenig vorbereitet sind. Viele haben noch ein antiquiertes Idealbild von der lebenslangen linearen Karriere im Kopf, dabei deckt es sich längst nicht mehr mit der Realität. «Es ist nun mal so, dass man die heutigen Hochdruckpositionen nur begrenzt durchhält. Kein Sportler hat jemals den Anspruch gehabt, bis 65 die Olympischen Spiele zu gewinnen», sagt Christina Kuenzle, ehemaliges Mitglied der Sulzer-Konzernleitung, die heute Kaderleute in der Neuorientierung berät (siehe Interview rechts). Auch die Universität St. Gallen bereitet sich auf eine wachsende Nachfrage von Selbsterfindern vor und bietet unter dem Titel «Neue Perspektiven für Very Experienced Persons» ein mehrtätiges Seminar für Führungskräfte an.
Josef Felder war mit 46 Jahren reif für einen Wechsel. Als CEO des Flughafens Zürich hatte er das Unternehmen acht Jahre lang durch teilweise turbulente Phasen gelotst und hielt nun den Zeitpunkt für günstig, um in einen ruhigeren Luftstrom zu wechseln. «Zum einen fühlte ich mich fit, zum anderen war die Lage am Flughafen stabil genug, um einen Führungswechsel zu verkraften», sagt Felder. Er habe den Entscheid nicht von langer Hand geplant, sondern aus dem Bauch heraus gefällt. Pläne für die Zukunft hatte er keine.
30 Jobangebote. In den sechs Monaten zwischen der Kündigung und dem effektiven Weggang fehlte ihm die Ruhe, um über das Leben danach nachdenken zu können. Erst als er sich nach dem Abgang in die rund 30 Jobangebote vertiefte, die er erhalten hatte, wurde die neue Richtung klar: Felder merkte, wie gross der Mangel an «materiell und ideologisch unabhängigen Verwaltungsräten» sein muss, und beschloss, in eine Domäne einzusteigen, in der sich sonst eher Herren gesetzteren Alters bewegen: Er wurde Profiverwaltungsrat.
Aus dem Angebot stellte sich Felder Anfang 2008 ein Portfolio von zehn Mandaten zusammen – «meinen Blumenstrauss», wie er es nennt. Dazu gehören Verwaltungsratssitze beim Einrichtungshaus Zingg-Lamprecht, beim Autohändler Amag und dem Kinderhilfswerk Pro Juventute. Vor Betriebsblindheit fürchtet sich Felder heute nicht mehr, durch die Vielfalt der Mandate wurden auch seine Interessen erweitert: «In der Zeitung suche ich nicht immer zuerst nach den Meldungen über die Flugindustrie.»
Nach einer klassischen Karriere vom Buchhalter bis zum CEO eines 700-Millionen-Franken-Unternehmens ist es ihm noch vor 50 gelungen, die Balance zwischen Beruf und Freizeit wiederherzustellen: «Heute kann ich meine Arbeit selber einteilen und planen. Das verschafft mir Zeit, und das ist wunderbar.» Er könne wieder vollständige Dokumente studieren, nicht bloss wie früher oft Executive Summaries. Und nachher bleibt ihm noch Zeit, um auf seinem Landgut die Pferde auszureiten und die Damhirsche zu füttern.
Felder ist nur eines der Vorbilder für die «Generation Ex», die zeigt, dass die Vorsilbe «Ex» im Lebenslauf nicht mit einem verringerten Selbstbewusstsein einhergehen muss. Inzwischen gibt es immer mehr Exponenten aus Politik und Wirtschaft, die nach einem Bruch in der Karriere wieder Tritt gefasst haben. Als Fred Kindle vor einem Jahr den Chefposten von ABB räumen musste, nahm er das zum Anlass, um in sich zu gehen. «Eine Option wäre gewesen, wieder als Konzernchef tätig zu sein», sagte er in einem Interview, «ich sehe es aber als Chance, nochmals etwas anderes zu machen.» Nach dem jahrelangen Gang durch die Hierarchien hatte Kindle genug vom Managerdasein: «Gereizt hat mich, nicht mehr Angestellter zu sein.» Seit vergangenem Sommer arbeitet er als Partner einer Beteiligungsgesellschaft.
Risiko Neustart. Oder die ehemalige Bundesrätin Ruth Metzler: Sie hat es als Leiterin Investor Relations von Novartis und Präsidentin der Stiftung Schweizer Sporthilfe wieder zu Ruhm und Ehre gebracht. Für Aufsehen sorgte auch der Umstieg von Christine Licci, der ehemals ranghöchsten Bankerin Deutschlands. Ende 2005 räumte sie ihr Büro im Vorstand der deutschen HypoVereinsbank und tauchte ab. Als Christine Novakovic lebt sie heute in der Schweiz und arbeitet in ihrem Wunschberuf als Kunsthändlerin bei der Zürcher Galerie Barr & Ochsner. Sie geniesse es, «nicht mehr von Quartalsbericht zu Quartalsbericht leben zu müssen».
Im Mutterland der geregelten Lebensläufe erfordern solche Neuanfänge Mut und Risikobereitschaft. Keine weiss das besser als Fabia Bausch, die den radikalsten Schnitt machte: Sie tauschte ihren hoch dotierten Job im Investment Banking gegen die Mitarbeit bei einem Start-up-Unternehmen in der afrikanischen Wildnis.
Während zwölf Jahren machte Fabia Bausch Karriere als Investment Bankerin und arbeitete zuletzt bei Lombard Odier Darier Hentsch. Auf dem allmorgendlichen Gang in den Handelsraum stellte sie sich immer öfter die Sinnfrage. «Als sich nach zwölf Jahren die Routine einschlich, merkte ich, dass meine einzige Befriedigung im Job das Geld ist», sagt Bausch, «ich fand aber, das Leben müsste mehr hergeben.» Im Mai 2005 kündigte sie ihre Stelle im Aktienhandel und gab sich zwei Jahre Zeit, um den Kompass neu auszurichten. Er führte sie im Sommer 2005 weit weg von der Heimat. Auf einer Reise lernte Bausch einen französischen Grosswildjäger kennen, der Pläne für den Aufbau einer Lodge für Fotosafaris in Tansania hatte. Sie machte mit.
Im Norden Tansanias pachteten die beiden ein Naturreservat mit einer Fläche von 45 Quadratkilometern und errichteten darauf unter dem Namen Chem Chem Safari Lodges ein luxuriöses Gästehaus mit acht Zimmern, einem Restaurant und einem Spa. Derzeit wird noch der Feinschliff gemacht und werden Reiseveranstalter orientiert, damit bei der für Anfang Juni geplanten Eröffnung alles bereit ist für die Abenteurer aus der Zivilisation.
Keine Aussteigerin. Bis vor einem Jahr konnte Fabia Bausch die Finanzierung aus dem eigenen Vermögen bestreiten. Um ihren Lebenstraum zu verwirklichen, war sie dann aber auf Drittgelder angewiesen. Banken liessen sich nicht für das Projekt erwärmen. Inzwischen sind europäische Privatinvestoren eingestiegen, und das Staatssekretariat für Wirtschaft des Bundes gab ein auf fünf Jahre befristetes Darlehen. «Ich verdiene schon lange kein Geld mehr, dafür bin ich um viele Erfahrungen reicher», sagt Bausch. «Was hier steht, habe ich selber erwirtschaftet.» Sie will sich keinesfalls als Aussteigerin verstanden wissen und betont, wie stark ihr die im Banking gemachten Erfahrungen beim Aufbau ihrer Firma nützen. In der afrikanischen Wildnis werde sie aber im Gegensatz zur helvetischen Geschäftswelt «ganzheitlich» gefordert, hier habe sie auch die Vorteile des einfachen Lebens schätzen gelernt. Aus der Abgeschiedenheit der Natur wieder an die hektischen Börsenplätze zurückzukehren – das kommt für die 36-Jährige kaum in Frage.