Neben Überlegungen zu organisationsstrukturellen und kulturellen Aspekten von Führung und Zusammenarbeit spielt für die Herausforderungen agilen Organisierens in Zeiten der Digitalisierung selbstverständlich auch die Person eine zentrale Rolle. Dies auch dann, wenn aus Optik Organisation der Mensch – entgegen anders lautender Bekundungen aus betrieblichen Sonntagsreden – eben genau nicht im Zentrum steht. Aus Optik Organisation ist der Mensch – um es mit O. Neuberger zu sagen – schlicht Mittel zur Erreichung von Zwecken, Punkt. Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass man mit «diesem Mittel» beliebig umgehen könnte, ohne einen sehr hohen Preis sowohl für den Menschen als auch für die Organisation zu zahlen.
Die Frage, welche Bedingungen und Voraussetzungen der Mensch braucht, um produktiv, engagiert und erfolgreich im Sinne der Organisation zu arbeiten, steht seit vielen Jahrzehnten im Zentrum arbeitspsychologischen Forschens. Eine zentrale Rolle spielt dabei seit langem schon das Konzept der Persönlichkeitsförderlichkeit von Arbeit. Ein Auszug aus dem Katalog arbeitspsychologischer Anforderungen an persönlichkeitsförderliche Aufgaben liest sich wie ein «who is who» der Anforderungen in der Digitalisierung:
• «Ganzheitlichkeit»: Gemeint ist, dass Verantwortung von Experten vor Ort möglichst komplett übernommen werden soll, und dies von der Planung bis zur Qualitätssicherung.
• «Anforderungsvielfalt»: Keine Überforderung durch Unterforderung angesichts stupider, repetitiver Arbeiten, sondern eine breite, abwechslungsreiche Palette anspruchsvoller Aufgaben.
• «Autonomie»: Handlungs- und Entscheidungsspielräume bieten dem Menschen erst die Option, sein volles Potenzial zu entfalten.
• «Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten»: Anspruchsvolle Aufgaben in der Arbeit geben dem Menschen die Möglichkeit, seine Kompetenzen zu entfalten.
• «Sinnhaftigkeit»: Die Relevanz und Bedeutsamkeit des eigenen Beitrags zum grossen Ganzen sollte transparent und klar erkennbar sein.
Vielfach finden wir in den Unternehmen jedoch Arbeitsumgebungen vor, die diesen Anforderungen entweder nur bedingt oder aber eher unzureichend genügen. Zum Teil ist gar ein Anwachsen sogenannter «Bullshit Jobs» sensu David Graeber beobachtbar. «Bullshit Jobs» sind keine «Shit Jobs». Letztere sind hart, dreckig und in der Regel sehr schlecht bezahlt. Erstere hingegen können durchaus gut bis sehr gut entlöhnt sein; sie zeichnen sich jedoch, bei näherer Betrachtung, durch ein zentrales Kriterium aus: ihre immanente Sinnlosigkeit. Wir haben sie vielerorten in unseren Unternehmen produziert und man erkennt sie eigentlich ganz leicht: Die Kernaufgabe bei «Bullshit Jobs» besteht schlicht darin zu schauen, dass geschaut wird. Das ist sowohl Gift für die betroffenen Personen, die in das Burnout laufen oder aber dem Zynismus anheimfallen können, als auch für die Organisation, die – zumindest in Teilen – dem resultierenden rasenden Stillstand zuarbeitet: Alle sind irgendwie total busy, aber voll im Hier und Jetzt eingefroren.
Warum gibt es diese «Bullshit Jobs»? Sie sind ein Effekt hierarchieorientierter Selbstbeschäftigungsmechanismen. Und sie sind Ausdrucks eines Mangels an Vertrauen in die Verantwortungsübernahme der Menschen vor Ort. Sonst müsste man nicht so relativ viele, selbst wiederum schlicht unproduktive «Beobachtungsposten» aufstellen. Würden wir in unseren Unternehmen die Aufgaben und Arbeitsumgebungen stärker im Sinne der oben hervorgehobenen Kriterien persönlichkeitsförderlicher Arbeit gestalten, dann würden wir in gleichem Masse die Zahl der «Bullshit Jobs» reduzieren; deren Charakter ist nämlich schlicht inkompatibel mit dem der Persönlichkeitsförderlichkeit.
Entwicklung dank Doppel-Helix
Die Bedingungen sind eine Seite der Medaille, die Person ist die andere. Mit anderen Worten: Neben persönlichkeitsförderlichen Bedingungen in der Arbeit, die wir über Führungsentscheide beeinflussen können, braucht es Menschen, die diese Bedingungen nutzen und selbst gestalten wollen. Und das ist wiederum eine Frage der Persönlichkeit. Zur Kompetenzentwicklung braucht es sowohl den Beitrag der Organisation wie den der Person. Die Arbeitspsychologie spricht hier auch von der Doppel-Helix der Kompetenzentwicklung. Wenden wir uns nun also der Person zu.
Ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeit, der für die Übernahme von Verantwortung in der Arbeit von hoher Relevanz zu sein scheint, ist der Stand der Ich-Entwicklung. Die Forschung zeigt, dass die Effektivität des Führungshandelns stark mit dem Stand der jeweiligen Ich-Entwicklung der Person korreliert. Mit der Ich-Entwicklung einer Person ist die Art und Weise angesprochen, wie sie die Welt betrachtet und in welchem «Reifegrad» sie dies tut. Je reifer die Ich-Entwicklung, desto stärker ausgeprägt und differenziert ist die Reflexionsfähigkeit der Person gegenüber den eigenen Aufgaben und Rollen, der Art und Weise, wie sie mit anderen umgeht, was sie wahrnimmt und was nicht, wie sie kommuniziert, wie gut sie den Fokus wechseln kann, wie präsent sie ist etc. Wir sprechen im Zuge der Ich-Entwicklung auch von der Reife der persönlichen Handlungslogik.
Die Ich-Entwicklung vollzieht sich in Stufen, welche sich dadurch auszeichnen, dass keine ausgelassen werden kann. Es kann dabei zwar vorkommen, dass Menschen situativ von ihrer persönlichen Handlungslogik her auf frühere Stufen zurückfallen («regredieren»), die sie im Prinzip schon hinter sich gelassen haben. Eine einmal erreichte Ich-Entwicklungsstufe ist jedoch prinzipiell unumkehrbar. Stehenbleiben können wir allerdings auf jeder Stufe unserer Ich-Entwicklung. Daher sind reifere Entwicklungsstufen immer nur Möglichkeiten und nie festgelegte Endpunkte der Entwicklung.Es braucht aktive Reflexion und Arbeit mit sich selbst, um in der Ich-Entwicklung fortzuschreiten. Daher ist Selbst-Vergessenheit Gift für die Ich-Entwicklung. Menschen auf späteren Entwicklungsstufen verstehen die Logik früherer Stufen (sie haben sie ja selbst durchlebt); hingegen interpretieren Menschen auf früheren Entwicklungsstufen die Handlungen reiferer Personen allein gemäss der ihnen möglichen Denkweise, d.h. ihrer Stufe der Ich-Entwicklung.
Kegan oder Loevinger – klassische Vertreter dieses psychologischen Ansatzes – unterscheiden prinzipiell drei grosse Phasen der Ich-Entwicklung, welche sich wiederum durch je drei Stufen kennzeichnen lassen. Für unsere Zwecke sind lediglich die Stufen E3 bis E8 von Relevanz, da sich die Stufen E1 und E2 auf das Kindheitsalter beziehen und die Stufe E9 empirisch selten vorfindlich ist. Mit der Selbstorientierten Stufe (E3) bewegen wir uns noch im vor-konventionellen Bereich der Ich-Entwicklung; der Fokus liegt auf den Eigeninteressen des Einzelnen und die Relevanz anderer Perspektiven wird entweder nicht gesehen oder ausgeblendet. Die Bedeutung von Regeln ist zwar sehr wohl bekannt, diese kommen allerdings nur dann zur Anwendung, wenn sie dem Eigeninteresse dienen. Auf der Gemeinschaftsorientierten Stufe (E4) – hier beginnt der konventionelle Bereich der Ich-Entwicklung – orientieren sich die Menschen an ihren Peer Groups. Ein zentrales Motiv besteht darin, «dazugehören» und die Welt – entlang der Normen der jeweils eigenen Bezugsgruppe – in Gut und Böse einteilen zu können. Die Menschen bewerten sich selbst dabei mit Massstäben, die vorgeben, wie «man» sein sollte, weniger wie sie als Individuum «sind». Das psychische Innenleben ist noch wenig ausdifferenziert.
Mit der Rationalistischen Stufe (E5) begreifen wir uns eigentlich erst als eigenständiges und eigenverantwortliches Individuum im Kontext von Normen und Werten, die wir auch in der Lage sind, in Rechnung zu stellen. Ein Mensch auf dieser Stufe ist selbstreflektiert und argumentiert für seine Sache. Er sieht andere Perspektiven, zielt jedoch oftmals darauf ab, sich von anderen abzuheben und sich so seiner Individualität und Kompetenz zu versichern. Mit dem Erreichen der Eigenbestimmten Stufe (E6) gelingt es einer Person, alle Möglichkeiten der konventionellen Phase der Ich-Entwicklung auszuschöpfen. Menschen auf dieser Stufe haben eigene Standards und Wertevorstellungen entwickelt, an denen sie sich und andere messen. Sie sind sich bewusst, dass es andere Standards gibt, tendieren jedoch dazu, die eigenen Grundlagen als die richtigen zu setzen. Ein zentrales Motiv ist auf dieser Stufe, effektiv zu handeln. Mit dem Umschlag zur Relativierenden Stufe (E7) und erst recht beim Erreichen der Systemischen Stufe (E8) wird den Menschen, die diese Stufe erreichen, die Perspektivengebundenheit der Dinge immer deutlicher. Es gelingt diesen Menschen zunehmend, zwischen unterschiedlichen Perspektiven zu wechseln, ohne zwingend darüber entscheiden zu müssen oder zu wollen, welche nun die richtige sei.
Distanz zu anderen und sich selbst
Nicht der Beliebigkeit von Perspektiven wird das Wort geredet, sondern – ganz im Gegenteil – die jeder Perspektive immanenten Stärken und Schwächen werden zunehmend gesehen. Mögliche «Fehler» oder «Schwächen» anderer können zunehmend aus der Distanz betrachtet werden, um Raum für Erfahrung und Entwicklung zu geben. Immer leichter wird es den Menschen auf diesen Stufen auch möglich, Distanz zu sich selbst und ihrer eigenen Rolle einzunehmen. Sie können ihren persönlichen Anteil am sozialen Geschehen immer stärker differenzieren und zunehmend bewusster gestalten. Persönliche Handlungslogiken werden so fluider, weil sich wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten vervielfältigen. Wir sehen auf diesen Stufen schlicht mehr Optionen als andere; sowohl für uns selbst wie auch für andere. Auch die Beobachtung, dass die (Arbeits-)Welt in vielerlei Hinsicht durch niemals vollständig auflösbare Dilemmata, Widersprüche oder Ambiguitäten gekennzeichnet ist, nimmt immer mehr Raum ein.
Aus der Perspektive Ich-Entwicklung gelangen wir so genau zu den Charakteristika persönlicher Handlungslogiken, die in Zeiten von VUCA – die Welt als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig beschreibend – vor allem gefragt sind. Die gute Nachricht ist, dass die späten Stufen der Ich-Entwicklung eine Handlungslogik hervorbringen, die für die Herausforderungen der Digitalisierung an die Person prädestiniert sind. Die schlechte Nachricht ist – angesichts der zur Verfügung stehenden empirische Evidenzen –, dass offensichtlich nur ein geringer Anteil der erwachsenen Bevölkerung diese späten Stufen überhaupt erreicht (etwa 15 Prozent). Die meisten Menschen entwickeln sich bis weit in die konventionelle Phase hinein, bleiben dann aber in der Entwicklung stehen.
Ein Grund dafür ist, dass Entwicklung aktive Arbeit an sich selbst bedeutet. Und zwar Arbeit an sich selbst in Situationen, denen man (noch) nicht wirklich gewachsen ist. Entwicklung braucht Krisenerfahrungen. Sie ist nicht umsonst zu haben. Wir brauchen Situationen, in denen unser bisheriges Handlungsrepertoire, unser bisheriges Vermögen, die Dinge zu denken, zu fühlen oder zu erleben an seine Grenzen gelangt. Das zwingt uns – mit dem Genfer Entwicklungspsychologen Piaget gesprochen – zur Akkomodation. Wir müssen uns entwickeln, um antwort- und resonanzfähig zu bleiben. Das geht nicht in der persönlichen Komfortzone der erreichten Stufe der Ich-Entwicklung.
Dies legt den nicht ganz unplausiblen Schluss zu, dass wir – zumindest insofern unsere Arbeitswelten betroffen sind –, schlicht und einfach zu gut gelernt haben, in unseren Komfortzonen zu bleiben und wir dort zu wenig Herausforderungen oder Notwendigkeiten zur Entwicklung erleben. Auch wenn wir uns oft über die Kompliziertheit von Hierarchien und Prozessen beschweren, über angeblich inkompetente Chefs schimpfen oder aber über Mitarbeitende klagen, die viel zu wenig bereit sind, Verantwortung zu übernehmen… Wir haben einfach viel zu gut eintrainiert, mit all dem zu leben. Wir wissen, was schlecht läuft, wissen es nicht zu ändern, also stellen wir uns drauf ein und machen ansonsten das Beste daraus (für uns selbst). Zudem schlägt auch noch der in der Psychologie gut erforschte status-quo-bias zu: Je mehr sich die Möglichkeiten vervielfältigen, je komplexer und somit schwieriger es wird, den weiteren Verlauf der Dinge vorherzusagen, desto lieber bleiben wir bei unserem Leisten. So wie es ist, kann es eigentlich, genau betrachtet, doch ganz gut bleiben. Die Psychologie nennt das dann auch resignative Arbeitszufriedenheit.
Raus aus dem Teufelskreis
Um aus dem Teufelskreis der drohenden Nicht-Entwicklung herauszukommen – die Sogkräfte der operativen Hektik des Alltags entfernen uns nur noch mehr davon –, sollten wir eben genau auf der Bedingungsseite der Organisationsgestaltung wieder ansetzen; also an den oben beschriebenen Prinzipien persönlichkeitsförderlicher Arbeit sowie den an dieser Stelle in den vergangenen Monaten publizierten Beiträgen zu strukturellen und kulturellen Aspekten von Führung und Zusammenarbeit in Zeiten der Digitalisierung.
Eine alte, für den Alltagsgebrauch recht gut einsetzbare psychoanalytische Weisheit besteht darin, dass man sich von sich selbst nicht alles zumuten lassen muss. Um von diesem Hinweis jedoch wirklich profitieren zu können, braucht es etwas weniger Selbst-Vergessenheit und etwas mehr Ich-Stärke. Denn je mehr wir die potenzielle Vielfalt unseres Selbst erkunden, desto stärker kann unser Ich dieses in Rechnung stellen, beeinflussen und so unser Handeln fluider gestalten. Und genau das ist es, was es für die Verantwortungsübernahme in komplexen Kontexten braucht; vollkommen unabhängig von Hierarchieebenen. Vielleicht noch ein aus der Forschung bekannter Hinweis zum Schluss: Späte Stufen der Ich-Entwicklung machen das Handlungsrepertoire des Menschen reichhaltiger und somit flexibler für die Herausforderung komplexer Umwelten; sie korrelieren jedoch nicht mit Glück. Den Weg zum Glücklichsein gibt es ja nicht; ausser – so eine bekannte philosophische Position – man ist es.
PROF. DR. CHRISTOPH CLASES ist Dozent an der Hochschule für Angewandte Psychologie – FHNW. Zudem ist er seit 2009 Partner der AOC Unternehmensberatung in Zürich.