Frau Bruch, wir lesen von Entlassungen, gleichzeitig ist der Fachkräftemangel auf einem Rekordhoch. Was ist da los?
Es finden grundlegende Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt statt. Seit Jahren wurde zwar eine Knappheit prognostiziert, der demografische Wandel zigfach berechnet. Doch man hat nicht erwartet, dass er so schlagartig eintritt.
Der demografische Wandel kann aber nicht die einzige Hürde sein?
Die Einstellung zur Arbeit hat sich verändert. Die Arbeit steht weniger selbstverständlich im Zentrum des Lebens. Die Anforderungen an eine motivierende Aufgabe und persönliche Flexibilität haben sich erhöht. Und die Anzahl psychischer Beeinträchtigungen steigt. Das ist ein ungesunder Mix, den es zu lösen gilt.
Von psychischen Problemen liest man vor allem oder gerade bei den jungen Arbeitnehmenden.
Das ist tatsächlich so. Es gibt hierfür verschiedenste Erklärungen: Die Corona-Zeit war für viele besonders schwer – verbunden auch mit Ängsten, Einschränkungen und einer Überdosis an virtueller Arbeit. Ausserdem sind viele junge Menschen mit der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, dass es zu wenige von ihnen gibt und sie immer einen sicheren Job haben. Corona und die verschiedenen Krisen haben zu einer enormen Erschütterung geführt, sodass die Sicherheitsorientierung wieder in den Fokus gerät. Andere sehen die Gründe in der starken Social-Media-Nutzung – im enormen Druck, der aus einem permanenten sozialen Vergleich erwächst. Wieder anderen fällt der Einstieg ins Berufsleben schwer, weil ihnen vermittelt wurde, dass sie nur das tun sollen, was sie wirklich erfüllt. Und letztendlich passt die Arbeitswelt, wie wir sie vielerorts vorfinden, auch nicht gut zu den Ansprüchen oder Vorstellungen der jungen Menschen.
Weg von den Jungen: Sie sagten zuvor, die Einstellung zur Arbeit habe sich verändert. Sind nicht auch die Anforderungen an die Arbeitnehmenden heute anders?
Es findet eine Verschiebung der Kompetenzen statt. Mit der Digitalisierung entstehen neue Berufe und Kompetenzanforderungen. Das Aufkommen künstlicher Intelligenz verleiht dem einen Zusatzschub. Umso wichtiger ist, dass sich Arbeitgeber und Führungskräfte frühzeitig mit KI befassen, um die Transformation proaktiv vorantreiben zu können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Unternehmen und ihre Mitarbeitenden von den Entwicklungen überrollt werden.
Laut Studien ist heute ein Drittel der Arbeitnehmenden unzufrieden. Woher kommt das?
In vielen Unternehmen finden wir veraltete Arbeitssysteme mit zwei Defiziten: Erstens sind sie der Geschwindigkeit nicht mehr gewachsen, und zweitens sind sie nicht attraktiv. Sie passen nicht mehr zu dem, was sich Menschen in Bezug auf die Arbeit wünschen.
Das da wäre?
Der Stellenwert der Arbeit hat sich verändert. Früher war die Arbeit das Zentrum des Lebens. Man gruppierte alles darum herum, die Familie, die Lebenssituation, den Wohnort. Heute ist das anders. Eine Konsequenz ist beispielsweise, dass Führung nicht mehr so attraktiv ist. Viele wollen keine klassische Karriere mehr machen.
Was macht das mit uns?
Es macht die Zeiten spannend, aber auch stressig. Viele Führungskräfte, genauer gesagt 55 Prozent der Chefs und Chefinnen, sind müde: Sie haben keine Lust mehr. Manche sind auch verärgert, weil sie merken, dass nicht alle Verantwortung übernehmen wollen. Die Stimmung ist dadurch in vielen Unternehmen aufgeheizt.
Folgt bald ein Knall?
Nein, das nicht. Aber Firmen müssen, um die Leute zu halten, innovativer werden. Sie müssen andere Lösungen suchen.
Dieser Beitrag entstand im Rahmen des grossen Branchenüberblicks der Schweizer Personaldienstleister. Alle weiteren Beiträge finden Sie hier:
Können Sie Beispiele nennen?
Mehr bezahlen, mehr Teilzeit, eine Viertagewoche, Flexibilität. Das wird in Zukunft normal sein – und gleichzeitig nicht mehr reichen. Wie eine Lösung aussieht, das weiss man noch nicht. Sicher ist jedoch, dass Unternehmen gerade junge Menschen stärker einbeziehen müssen. Dazu gehört beispielsweise, jungen Menschen umfangreiche Verantwortung zu geben. Firmen müssen mutiger werden.
Das stellt also ziemlich alles auf den Kopf, was bisher Standard war?
Ja, wir müssen verändern, was wir bisher kennen. Heute dürfen wir nicht mehr allen Arbeitnehmenden unterstellen, dass sie aufsteigen oder 100 Prozent arbeiten wollen. Hier müssen wir die richtigen Fragen stellen und kreative Lösungen finden – gerade mit den jungen Leuten zusammen, die nicht nur, aber vor allem, die Treiber hinter dieser Entwicklung sind.
Wie kann man dieses Bewusstsein in die Firmen bringen, dass auch Quereinsteigern eine Chance gegeben wird?
Der Mut kommt von allein. Schon jetzt wissen viele nicht, wie sie ihr aktuelles Problem lösen können – weil sie zum Beispiel Fachspezialistinnen oder Führungskräfte suchen. Dabei sollte man heute gerade beim Rekrutieren stärker auf zwei Dinge achten. Erstens, ob die Person zur Kultur passt. Besteht eine Übereinstimmung der persönlichen Werte? Und zweitens auf die Art des Arbeitens: Bringt jemand die Schlüsselqualifikation mit, so zu arbeiten, wie wir es tun? Das kann die totale Flexibilität in der Firma sein, Teamorientierung – aber auch eine starre, traditionell gewachsene Firmenstruktur. Dieser Match von Personen mit Kultur und Arbeitsform wird viel wichtiger.
Wie tragen Firmen diese Kultur nach aussen? Wie findet eine stellensuchende Person heraus, ob ihr die Kultur einer bestimmten Firma entspricht?
Ideal ist, wenn die eigenen Mitarbeitenden Fans des Unternehmens sind und die Kultur von sich aus nach aussen tragen. Sie müssen also mit vollem Herzen dahinterstehen. Wir messen das mit dem «Fan-Index» – er ist vergleichbar mit einem Fussballclub. Die Leute tragen zwar nicht den grün-weissen FC-St.-Gallen-Schal oder das gelb-schwarze YB-Hemd, aber sie reden im Ausgang mit ihren Kollegen über ihren Arbeitgeber.
Firmen werben auch mit ihren Leuten auf der Website oder schicken sie an Messen. Ist das nicht gekünstelt?
Nein. Noch besser ist, wenn Unternehmen ihre eigenen Angestellten in die Rekrutierung einbeziehen. In einzelnen Firmen übernehmen gar Teams die Ausschreibung wie auch die Besetzung einer Stelle. Das ist von der Corporate Identity her gesehen mitunter grenzwertig, aber es wirkt authentisch.
Sie haben die Kultur angesprochen, die neuen Sinnbilder hinter der Arbeit und mögliche neue Rekrutierungsformen. Doch Hand aufs Herz: Genügend Studien zeigen auf, dass am Schluss nur ein Element ausschlaggebend ist – der Lohn.
Da haben Sie recht, aber nur zum Teil. Man muss schauen, dass der Lohn nicht nach unten abfällt. Es gilt: Der Lohn ist ein Hygienefaktor, der die Mitarbeitenden tatsächlich demotiviert, wenn er zu tief ist. Aber Unternehmen mit einer tollen Kultur zahlen zum Teil geringere Löhne und haben Mitarbeitende, die härter arbeiten, stärker engagiert und zufriedener sind. Denn das Entscheidende sind gute Arbeitsbedingungen – und dann vor allem eine erfüllende Arbeit. Andere Firmen müssen Schmerzensgeld zahlen – das zieht wiederum bestimmte Menschen an und ist kein nachhaltiges Motivationsinstrument.
Führungspersonen sind zentral für die Arbeitswelt und dafür, wie jemand seinen Arbeitsplatz wahrnimmt. Wie sieht die moderne Führungskraft aus?
Im Zentrum steht die Emotion. Führungskräfte begeistern ihre Mitarbeitenden für ihre Aufgabe. Sie inspirieren sie. Auch bei negativen Themen muss eine Führungsperson da sein. Sie zeigt, dass man sich bei Problemen auf den Chef oder die Chefin verlassen kann – das ist unfassbar wichtig. Dazu gehört auch, dass Führungskräfte ihre Mitarbeitenden schützen, vor Überforderung, Überhitzung, Burn-out.
Ist Führung persönlicher geworden?
Sie muss es werden. Teams funktionieren heute stärker selbstorganisiert. Neue Technologien fördern dies. Das verringert die Management- und vor allem Kontrollaufgaben. Was dabei nun besonders zählt, ist das Persönliche und das Emotionale. Vorbild sein, Beziehungen aufbauen, Vertrauen, Wertschätzung. In der virtuellen Welt wird das umso wichtiger. Es heisst Mut zur Nähe.
Verschwimmen die Grenzen zwischen privat und beruflich?
Das muss nicht sein. Es passiert, weil Arbeitszeit und -ort heute teilweise ineinanderfliessen wegen Homeoffice und flexibler Arbeitszeiten. Aber Führungskräfte sollten die persönlichen Grenzen achten. Es zählt das Signal: Ich sehe dich, du bist wichtig.