Wenn Kleinkinder laufen lernen, funktioniert das so: sich hinsetzen, sich umschauen, eine Katze oder ein Spielzeug sehen, loslaufen. Die ersten drei bis vier Schritte gehen meistens ganz gut. Dann kommt ein Moment, wo es so aussieht, als würden sie selbst merken, dass sie laufen. Dann fallen sie um.
Kleinkinder können also besser laufen, wenn sie nicht darüber nachdenken. Die Katze entkommt wegen eines Paradoxons menschlicher Leistung: Manche Fähigkeiten nehmen ab, wenn man sich ihrer bewusst wird und sich darauf konzentriert.
Man kann diesen Effekt nicht nur bei Kleinkindern beobachten, sondern überall dort, wo Leistung verglichen wird: im Sport beispielsweise oder beim Fällen von Entscheidungen in Unternehmen. Für Kleinkinder gibt es zwei Arten des Laufens beziehungsweise Umfallens: unbewusst und bewusst. Durch mehr und mehr Literatur zu diesem Thema kristallisiert sich auch heraus, dass es zwei Arten gibt, in Unternehmen zu entscheiden: mit Bauchgefühl und Daumenregeln oder streng rational nach Zahlen und Fakten. Das Erstaunliche daran ist, dass Bauchgefühl und Daumenregeln den Zahlen und Fakten oft ebenbürtig sind – wenn nicht überlegen.
Der Mut zum Bauchgefühl kann für den Erfolg eines Unternehmens ausschlaggebend sein: «Nach meinen Untersuchungen ist in grossen Unternehmen jede zweite Entscheidung eine Bauchentscheidung. Das gibt man in der Regel nicht zu, denn man hat Angst. Wir bewegen uns immer mehr in Richtung Absicherungskultur: Es geht nicht primär um Leistung oder um die richtige Entscheidung, sondern darum, eine eventuell falsche Entscheidung begründen zu können. Intuition kann man per definitionem nicht begründen,» erklärt Psychologie-Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Zentrums für Risikokompetenz am Max-Planck-Institut. Die Konsequenz davon ist, so Gigerenzer, dass Manager von grossen Unternehmen ihre Mitarbeiter beauftragen, rationale Gründe für eine Entscheidung zu finden, die sie sowieso schon getroffen haben. Oder aber – und das ist laut Gigerenzer die teuerste Option – Manager treffen «defensive Entscheidungen»: Entscheidungen, an die sie selbst nicht glauben, die sich aber im Nachhinein gut rechtfertigen lassen.
Intuition kann man stören
Mit seinen Experimenten zu Bauchgefühl und Rationalität ist Verhaltenspsychologe Gigerenzer auch in der Wirtschaft aufgefallen. Bei einer Studie zu Aktienentscheidungen ging er in München mit einer Liste von 300 Internetunternehmen auf die Strasse und fragte Passanten, welche Unternehmen sie auf der Liste kannten. Von den zehn bekanntesten Firmen kaufte er für 50 000 Euro Aktien. Obwohl die Passanten angaben, von Aktien keine Ahnung zu haben, stieg der Wert von Gigerenzers Laien-Portfolio in sechs Monaten um fast 50 Prozent und überflügelte die Portfolios von Experten.
Den Erfolg der Laien erklärt Gigerenzer mit ihrer Unbekümmertheit, sich ohne jedes Risiko für die Unternehmen zu entscheiden, die sie kannten. Experten hingegen sind oft durch zu viele Informationen verunsichert; sie sind sich des Risikos bewusst und können nicht mehr so einfach aus der Hüfte schiessen. Natürlich kann man daraus nicht den Schluss ziehen, dass Wissen schadet. Es ist vielmehr eine Frage, wie man es einsetzt.
Im Telefonat erklärt Gigerenzer: «Intuitionen kann man stören, wenn man sich der Tätigkeit bewusst wird. Wenn man erfahrene Golfspieler anweist, auf ihre Bewegungsfolge aufzupassen, dann spielen sie im Schnitt schlechter. Oder im Tennis: Wenn Ihnen die starke Vorhand ihres Gegners zu schaffen macht, machen Sie ihm ein Kompliment dazu. Dann denkt er darüber nach und die lockere Vorhand ist passé.» Anderseits heisst das aber auch: Die gute Vorhand eines erfahrenen Tennisspielers bleibt eine Gewinnervorhand, wenn er locker bleibt und sich nicht verunsichern lässt. «Intuition ist keine Willkür und auch kein sechster Sinn, sondern langjährige Erfahrung», so Gigerenzer. «Man kann das, aber man kann nicht erklären wieso. Das ist gefühltes Wissen, ungefähr so wie das Laufen, Fahrradfahren oder die Grammatik der Muttersprache.»
Gute Entscheidungen zu treffen, so Gigerenzer, hängt auch davon ab, dass man berechenbare und unberechenbare Situationen nicht verwechselt: «Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Truthahn und es sei der erste Tag in Ihrem Leben. Ein Mensch kommt und füttert Sie. Nach allen mathematischen Modellen steigt die Wahrscheinlichkeit, weiterhin gefüttert zu werden, mit jedem Tag der Fütterung. Und plötzlich kommt ein Tag, an dem Sie nicht gefüttert werden, sondern unters Beil kommen.» Gigerenzer spielt mit der Anekdote auf die Finanzmärkte vor der letzten grossen Krise an. Auch die Algorithmen von Standard and Poor’s waren auf ein Zeitfenster kalibriert, in dem die Preise nur gestiegen waren. Letztlich eine Truthahn-Illusion.
Gefühltes Wissen ist nicht Stimmung
«Man kann grob unterscheiden, wo man Risiken berechnen kann und wo das nicht geht: Beim Roulette brauchen Sie keine Intuition, Sie können ausrechnen, wie viel Sie auf lange Sicht verlieren. Wenn Sie aber unter Ungewissheit komplexe Modelle verwenden, machen Sie wahrscheinlich so viele Schätzfehler, dass es Ihnen nicht hilft. Im Ungewissen brauchen Sie Heuristiken, Faustregeln. Ich habe gerade mit jemandem gesprochen, der Krankenhäuser kauft. Er geht in ein Krankenhaus und beobachtet drei Aspekte: Wie riecht es, wie gehts den Patienten, wie gehts den Pflegern. Krankenhäuser sind komplex, aber erfahrene Leute haben Kernmerkmale.»
Einer der Knackpunkte bei Heuristiken, so Gigerenzer, sei Mut. Die Aktienempfehlungen der Laien in München waren auch deshalb so erfolgreich, weil die Probanden völlig angstfrei entscheiden konnten – es war ja nicht einmal ihr Geld. In anderen Worten: Direkt an einer Bordsteinkante zu stehen, ist kein Problem, man fällt ja nicht einfach vorwärts um. Auf dem Dach eines Hauses würde man sich nicht mit den Fussspitzen an die Kante trauen – denn was, wenn man umfällt?
Eine Gefahr aber besteht darin, Erfahrung und gefühltes Wissen mit Stimmung zu verwechseln. Stimmungen schwanken – und damit die Frage, ob wir der Welt eher positiv oder negativ gegenüberstehen. Es gibt Tage, an denen finde ich, ist es eine gute Idee, Geld in Bitcoin zu stecken. An anderen ist mir das zu heikel. Mit Bitcoin selbst und dem Markt hat das eher wenig zu tun. «Wenn ich am Morgen schlecht aufgestanden bin, sehe ich alles etwas düster, dann ist das eine Stimmung und keine Heuristik», sagt Michael Siegrist, Psychologie-Professor an der ETH Zürich zusammenfassend. Die Frage, wann man sich auf Heuristiken verlassen kann, nennt Siegrist: «Domainspezifisch. Wenn beispielsweise ein Hochwasser statistisch alle hundert Jahre kommt, dann führen Heuristiken eher zu schlechten Entscheidungen. Einfach weil wir nicht in so langen Zeithorizonten denken. Wenn wir uns Hochwasser aber gut vorstellen können, weil wir selbst mal eins erlebt haben oder uns viel davon erzählt wurde, schätzen wir die Wahrscheinlichkeit gleich sehr viel höher ein, oft zu hoch.»
Adrian Bührer leitet den Startup-Ableger von Swiss Life und berät sowie investiert selbst in verschiedene Fonds. Bauchentscheidungen, erklärt er am Telefon, habe er fast jede Woche. «Ich investiere meistens in der Seed- oder Pre-Seed-Phase. Da liegt die Bewertung der Startups zwischen 0,7 und 3 Millionen Franken. Man kann da auch schlecht mit Zahlen argumentieren, weil es oft noch keine Zahlen gibt. Das Bauchgefühl ist dabei quasi die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung.»
Bührer hält sich intuitiv an Gerd Gigerenzers Regeln für den Gebrauch der Intuition und Erfahrung: «Ich mache nichts in Bereichen, wo mir das Wissen fehlt. Wenn jemand mit Biotech kommt, mach ich nicht mit, weil ich davon keine Ahnung habe und dazu auch kein Bauchgefühl», erklärt er.
Der Hofladen Farmy.ch sei so ein Fall gewesen, sagt Bührer. «Ich hatte denen schon zweimal abgesagt und gemäss Zahlen hätte ich ihnen – ganz klar – wieder absagen müssen. Aber ich hatte ein gutes Gefühl beim Team und den Themen Essen, Regional, Bio. Damals war ich quasi gleichzeitig deren erster Investor und erster Kunde. Jetzt läuft das super: Sie haben wieder eine Finanzierungsrunde abgeschlossen und alle findens toll. Aber wenn ich schlechter geschlafen hätte, hätte ich vielleicht nein gesagt.»
Emotionale Argumentation Ihre Schlussfolgerungen basieren auf starken Gefühlen: Ich fühle mich schuldig – ich muss bei diesem Projekt etwas falsch gemacht haben. Übergeneralisierung Ein negatives Ereignis wird als Teil eines endlosen Musters von Niederlagen gesehen: Ich habe den neuen Kunden nicht gewonnen, ich werde nie wieder einen Kunden gewinnen.
Positives disqualifizieren Alles, was gut ist, ist nur ein vernachlässigbarer Zufall: Ich wurde zum Chef befördert, aber bald fliegen meine versteckten Schwächen auf.
Alles oder nichts Themen gibt es nur in Schwarz-Weiss: Mein Team hat mich kritisiert, ich muss zurücktreten.