Die Schweiz war schon immer ein Vorzeigeland. Wenn es um Innovation, Wettbewerbsfähigkeit, Demokratie, Wohlstand und Glück geht, geht die Schweiz voran. Dies gilt auch für die neuen kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen, wobei sie in den kritischen Bereichen der Nachhaltigkeit und der Digitalisierung eine führende Rolle spielt.

Im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter ist die Schweiz jedoch bisher ins Hintertreffen geraten. Für ein Land, das den Frauen erst 1971 das Wahlrecht gab, ist das vielleicht nicht überraschend, und die Fortschritte seither waren schmerzlich langsam. Doch in den letzten Jahren hat sich dies geändert, und die Schweiz steht möglicherweise vor einem entscheidenden Entwicklungsschritt. 

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Initiativen der Regierung

Der beeindruckende Frauenstreik von 2019 hat die Mächtigen im Land bewegt und zu einer Reihe von Regierungsinitiativen geführt, um die Gleichstellung der Geschlechter voranzutreiben und die Stellung der Frauen zu verbessern. Diese stützen sich auf vier Säulen: Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe und wirtschaftliche Teilhabe. In den ersten drei dieser Säulen hat die Schweizer Politik und Gesellschaft deutlich Tempo gemacht.

Die Fakten sprechen für sich: Als ich vor 12 Jahren als CEO von IKEA Schweiz hierher kam, lag das Land im Gender-Gap-Bericht des Weltwirtschaftsforums auf Platz 27. Bis 2019 war es auf Platz 18 geklettert. Heute ist die Schweiz in den Top Ten. Eine bemerkenswerte Leistung in so kurzer Zeit - und ein Fortschritt, auf den die Schweiz zu Recht stolz sein kann. Aber kann das Land noch weiter gehen? Kann sie tatsächlich nicht nur in Europa, sondern auch weltweit zum Massstab für die Gleichstellung der Geschlechter werden?

Sehr gut aufgestellt

Das Ziel ist vielleicht gar nicht so abwegig, wie es scheint. Wenn man sich andere Länder ansieht und die Voraussetzungen für die Gleichstellung der Geschlechter untersucht (Ressourcen, Infrastruktur und Demographie), ist die Schweiz sehr gut aufgestellt. In finanzieller Hinsicht und in Bezug auf die Kompetenzen und Fähigkeiten der Menschen auf allen Ebenen verfügt die Schweiz über das Humankapital, um den Fortschritt zu beschleunigen.

Sie verfügt über gleich gut ausgebildete Männer und Frauen; tatsächlich gibt es heute mehr Frauen mit Hochschulabschluss als Männer. Was die Infrastruktur betrifft, so ist die Schweiz global sehr gut vernetzt und kann sich vieler weltweit führender, innovativer Unternehmen rühmen, insbesondere in den Bereichen Pharma und Digitaltechnik. Und was die Demographie betrifft, so steht die Schweiz an der Schwelle eines bedeutenden demographischen Wandels. 

Grosse Chance für Nachwuchskräfte

Im Laufe dieses Jahrzehnts werden 1,1 Millionen Angehörige der Babyboomer-Generation das Rentenalter erreichen, was dazu führt, dass mehr als 800.000 aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Gleichzeitig wird die Zahl der 20- bis 25-Jährigen, die in den Arbeitsmarkt eintreten, in den nächsten 10 Jahren sinken, was eine grosse Chance für gut ausgebildete weibliche Arbeitskräfte darstellt.

Auch wenn die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter positiv sind, gibt es noch einige Herausforderungen zu bewältigen, nicht zuletzt in kultureller Hinsicht. Männer sind immer noch durch Rollenmodelle konditioniert, die von ihnen verlangen, dass sie Vollzeit arbeiten und die Betreuungs-Rolle in der Familie ihren Partnerinnen überlassen. Frauen hingegen sind in ähnlicher Weise darauf konditioniert, bescheiden und nicht zu ehrgeizig zu sein und ihre Rolle als Hauptversorgerin, Hausfrau und Mutter zu erfüllen.

Falsche Anreize

Organisationen, die Regierung und die lokalen Kantone halten - vielleicht unbeabsichtigt - an dieser Denkweise fest: In den Unternehmen herrschen oft sehr starre Arbeitsregeln und -praktiken, und es gibt Gesetze in Bezug auf Familien und Eigentum, die inzwischen veraltet sind. Im Steuersystem zum Beispiel wird das geringer verdienende Mitglied eines Ehepaars - in der Regel die Frau - zum gleichen Satz besteuert wie das höher verdienende Mitglied. Dieses veraltete Modell beseitigt den Anreiz für Frauen, mehr als nur Teilzeit zu arbeiten - und den wirtschaftlichen Vorteil, der sich aus der Aufrechterhaltung ihrer beruflichen Laufbahn ergibt. Es bedeutet auch, dass sie noch weniger Geld für lebenswichtige Dinge wie die Kinderbetreuung zur Verfügung haben, wodurch ein Teufelskreis entsteht, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint.

Was muss sich also ändern? Eine grössere Arbeitsflexibilität und eine elternfreundlichere Politik würden sicherlich helfen. Die Kinderbetreuung zum Beispiel ist notorisch teuer, und ein billigeres Kinderbetreuungssystem könnte viel bewirken. Eine Überprüfung des Schulsystems und insbesondere der Schulzeiten würde es Frauen auch ermöglichen, eine Vollzeit- oder längere Teilzeitbeschäftigung anstelle einer kurzen Teilzeitbeschäftigung anzunehmen - etwas, das heute nicht praktikabel ist, ohne Probleme bei der Kinderbetreuung zu verursachen.

Kultureller Wandel

Die Einführung eines grosszügigeren Elternurlaubs für Väter, der es ihnen ermöglicht, eine grössere Rolle im Familienleben und in der täglichen Betreuung ihrer Kinder zu übernehmen, wäre ebenfalls hilfreich, ebenso wie eine Änderung des Steuersystems, damit berufstätige Mütter nicht ungerechtfertigt dafür bestraft werden, dass sie Karriere machen. Wie viel höher wären wohl die Steuereinnahmen des Landes, wenn der Anteil der berufstätigen Mütter steigen würde?

Der grösste erforderliche Wandel ist jedoch kultureller Natur. Während es zweifellos Teile des Landes gibt, die den Wert einer gleichberechtigteren Gesellschaft erkennen - vor allem in den grösseren Städten wie Zürich, Genf und Bern -, müssen andere noch überzeugt werden. Es gibt immer noch Widerstände gegen Veränderungen, was sich auch in den jüngsten Zahlen des Bundesamts für Statistik (März 2022) widerspiegelt, die zeigen, dass Frauen für die gleiche Arbeit in der Schweiz im Durchschnitt 11 Prozent weniger verdienen als Männer. Zwar verringert sich die Kluft zwischen den Geschlechtern, doch ist sie in den höheren Einkommensschichten immer noch stärker ausgeprägt, wo weibliche Führungskräfte 16,8 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen.

Referenzland für Gleichstellung

Andere Länder sind in ihren Gleichstellungsüberlegungen und Fortschritten bereits weiter als die Schweiz, auch solche an die man nicht sofort denkt: Nicaragua und Ruanda zum Beispiel sind besonders erwähnenswert, haben aber nur wenige der Vorteile, die die Schweiz derzeit geniesst. Deshalb bin ich so optimistisch, dass die Schweiz in Zukunft das Referenzland für die Gleichstellung der Geschlechter sein kann, und deshalb bin ich ebenso leidenschaftlich dabei, Organisationen durch die EDGE-Zertifizierung die Instrumente, die Messungen und den Aktionsplan an die Hand zu geben, die sie brauchen, um die letzte Hürde zu nehmen. Denn es gibt keine Abkürzungen, um die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, und jeder muss seinen Beitrag leisten: Regierungen, Organisationen und Einzelpersonen. 

Die Dynamik nimmt zu, und dies wird von einflussreichen Teilen unserer Gesellschaft unterstützt. Die Initiativen EqualVoice und Equalvoice United von Ringier zum Beispiel, die die Schweizer Medien zusammenbringen, um sich mit der Darstellung von Frauen zu befassen, sowie grosse Schweizer Unternehmen, die sich in diesem Jahr verpflichtet haben, die Gleichstellung und Eingliederung innerhalb ihrer eigenen Belegschaft zu fördern, moderne Arbeitspraktiken einzuführen und die Vorteile für andere Unternehmen und die Gesellschaft zu kommunizieren. Viele Organisationen lassen sich nun freiwillig von unabhängiger Seite messen und zertifizieren, um sich neue Ziele zu setzen und künftige Fortschritte zu überwachen.

Bis wann ist Ziel erreicht?

Aber auch die Politik muss sich ändern. Regeln, die derzeit als Orientierungshilfe dienen, müssen verpflichtend werden, und Gesetze - von denen einige bereits seit 1996 in Kraft sind - müssen vollständig umgesetzt werden. Während private Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten verpflichtet sind, alle vier Jahre über das Lohnniveau zu berichten, muss dies auf eine breitere Schicht von Unternehmen ausgedehnt werden und die Berichterstattung muss häufiger erfolgen, und in Organisationen des öffentlichen Sektors müssen schnellere Fortschritte erzielt werden. Die Nationale Strategie der Schweizer Regierung zur Gleichstellung der Geschlechter zielt darauf ab, die Gleichstellung der Geschlechter bis 2030 zu erreichen. Ich glaube, dass wir dieses Ziel schneller erreichen können.

Eine geschlechtergerechtere Gesellschaft, die Männern und Frauen eine gleichberechtigte Stimme gibt, sorgt für eine bessere Verteilung des Wohlstands, baut soziale Spannungen ab und setzt das Potenzial von Frauen frei, um so weitere Schritte in Richtung Exzellenz zu unternehmen. Die Schweiz hat die Voraussetzungen, um weltweit führend zu sein, und ich bin zuversichtlich, dass sie es schaffen wird.

Simona Scarpaleggia ist Vorstandsmitglied von EDGE Certification, ehemalige Chefin von Ikea Schweiz und Gewinnerin des Swiss Economic Forum (SEF) Women Award Ehrenpreises 2022.