Seit (heute) Montag ist Avaloq in japanischer Hand: Der IT-Konzern NEC übernimmt das Schwyzer Unternehmen für gut zwei Milliarden Dollar.
Der Milliarden-Deal ist die neuste Wendung in einer äusserst bewegten Unternehmensgeschichte, wie Sie im folgenden Porträt von Gründer Francisco Fernandez erfahren - wir haben es Mitte März letzten Jahres erstmals veröffentlicht:
Im Büro von Francisco Fernandez findet sich manches, was man erwarten kann: stapelweise Papiere auf Schreib - und Besprechungstischen, vollgeschriebene Flipcharts an der Wand, eine Grünpflanze. Und manches, was man nicht erwarten kann: ein Weinschrank für Geschenke und Entschuldigungen – und ein grosser elektronischer Klavierflügel. Fernandez hat ihn von seinen Mitarbeitern zum 40. Geburtstag geschenkt bekommen. Wenn er den Kopf frei bekommen will, sei es nach fordernden Meetings oder zum Feierabend, spielt er darauf Jazz von Michel Camilo, Klassik von Frédéric Chopin oder Improvisiertes. Auch daheim hat er ein Klavier, in seinem Ferienhaus auf Mallorca, selbst bei seiner Mutter steht eines. «Ich spiele in jeder freien Minute, in der ich dazu komme», sagt der 56-Jährige.
Nun hat er etwas mehr Gelegenheit dazu. Gerade hat seine Softwarefirma Avaloq, die er in den letzten Jahrzehnten zu nunmehr knapp 600 Millionen Franken Umsatz und 2350 Mitarbeitern aufgebaut hat, die grösste Klippe ihrer Geschichte umschifft. Lange war unklar, ob das 500 Millionen schwere Projekt «Rainbow» Erfolg haben würde: die Umstellung aller Schweizer Raiffeisenbanken auf das Softwaresystem von Avaloq.
Immer wieder gab es Verzögerungen. Letzten Mai geriet das Projekt in massive Schieflage: Die Software zeigte zahlreiche und auch schwere Fehler, gleichzeitig taumelte die Raiffeisenbank durch die Affäre um den verhafteten Ex-Chef Pierin Vincenz. Einzelne regionale Banken nahmen das Projekt als Geisel und stoppten die Avaloq-Einführung, um sich in der Zentrale Gehör in der Causa Vincenz zu verschaffen. Dazu gibt sich Fernandez verschlossen. Projekt-Insider sagen aber, die Turbulenzen seien wenig förderlich gewesen.
Ziel bei Raiffeisen erreicht
Kurz vor Silvester, mit einem Jahr Verspätung, aber budgettreu, wurden die letzten 52 Banken migriert. «Das Ziel wurde erreicht», bestätigt Rolf Olmesdahl, IT-Chef der Raiffeisen Gruppe: «Seit Anfang Januar arbeiten alle Raiffeisenbanken auf dem neuen Kernbankensystem.» Störungsfrei und mit guter Performance, wie man hört.
Insgesamt 250 Banken und 10 000 Benutzer waren betroffen. «Noch nie wurden in der Geschichte der Schweizer Finanzindustrie ähnlich viele Umstellungen in so kurzer Zeit erfolgreich durchgeführt», sagt Olmesdahl. «Eine solche Transformation in nur vier Jahren für nur 500 Millionen hinzubringen, ist einmalig, das hat noch keine andere Soft warefirma geschafft», triumphiert Fernandez, und die Erleichterung ist ihm anzuhören. Denn klar ist: Rainbow hätte den erfolgreichsten Softwareunternehmer der Schweiz zu Fall bringen können.
Zuvor hatte es bereits einmal Zweifel gegeben, ob die Success Story von Avaloq weitergehen würde: Ende 2016 mehrten sich Presseberichte über angebliche Liquiditätsprobleme, nachdem Projekte schiefgegangen und Kunden abgesprungen waren. Von einem Auffangnetz für die Firma gar las man bei besonders abenteuerlichen Medien.
Warburg Pincus kam als Grossaktionär an Bord
Francisco Fernandez reagierte: Erstmals legte er Zahlen offen, um die Gerüchte zu entkräften. Wenige Monate später holte er mit dem amerikanischen Private-Equity-Haus Warburg Pincus einen Grossaktionär an Bord, der die kapitalintensive Expansionsstrategie finanzieren hilft: Seit der Finanzkrise verkauft Avaloq nicht mehr einfach nur Software, sondern betreibt auf Wunsch auch das ganze Bankengeschäft für die Geldhäuser in eigenen, teuren Rechenzentren. Mit 1,1 bis 1,2 Milliarden Franken sei Avaloq beim Einstieg von Warburg Pincus bewertet worden, hört man. Mit 45 Prozent der Anteile ist die Beteiligungsgesellschaft nun der grösste Aktionär. Das Sagen freilich hat noch immer Fernandez: Die restlichen 55 Prozent der Aktien sind im Besitz der Mitarbeiter und in einem Trust in Luxemburg gepoolt. In diesem Trust wiederum hat Fernandez die absolute Mehrheit. Mit 28 Prozent der Stimmen kontrolliert er Avaloq weiterhin.
Der Einstieg der Amerikaner war vielen am Unternehmen beteiligten Mitarbeitern hochwillkommen, war doch zuvor drei Jahre lang wegen der hohen Investitionskosten keine Dividende gezahlt worden. Fernandez’ langjährige rechte Hand Ronald Strässler etwa, bis dahin zweitgrösster Aktionär und treibende Kraft hinter dem Warburg-Deal, reduzierte seinen Anteil bei dieser Gelegenheit von rund elf auf unter zwei Prozent. Doch auch wer nicht verkaufte, profitierte: Auf bestehende Aktien gab es ebenfalls Geld. «Liquidity Event» wird der Einstieg daher intern scherzhaft genannt. Bei Fernandez soll es ein zweistelliger Millionenbetrag gewesen sein, was sich in einem Ferienhaus auf Mallorca und der Erweiterung seiner Autosammlung niederschlug.
Nach dem Einstieg musste Avaloq Standards einführen, die bei amerikanischen Firmen üblich sind: Code of Conduct, Whistleblowing-Policy, Antikorruptionsmassnahmen etc. Ansonsten hat Warburg mit Avaloq keine Visionen – ausser natürlich, damit Geld zu verdienen. «Warburg hat die Schrauben angezogen, die Schonzeit ist vorbei», sagt jemand weit oben im Management. Die Jahresziele 2018 erreichte Avaloq nur mit Ach und Krach, auch weil ein Deal mit der Berner Kantonalbank, für den man zwei Jahre lang antichambriert hatte, in letzter Sekunde von deren VR abgeschossen wurde. Die grosse Frage wird sein, wie sich das Verhältnis von Präsident Fernandez zu Vizepräsident Dan Zilberman (einer von zwei Warburg-Vertretern im sechsköpfigen VR) entwickelt, wenn Avaloq die Zahlen eines Tages nicht mehr liefern sollte. Bereits jetzt gilt die Beziehung als nicht unproblematisch.
Rückzug aufs VR-Präsidium
Wenige Monate nach dem Warburg-Einstieg zog sich Fernandez aufs VR-Präsidium zurück und ernannte Jürg Hunziker zum CEO. «Der Markt soll wissen, dass Avaloq keine One-Man-Show ist», begründet er diese Massnahme. Intern wurde der Schritt positiv aufgenommen, denn, so berichten mehrere Kaderleute unisono, als operativer Manager sei Fernandez bei weitem nicht so gut wie als Stratege.
Seither kümmert er sich nur noch um grosse Deals, Übernahmen, die Organisationsentwicklung und die Strategie. Offiziell. Doch der Abschied aus dem Operativen fällt ihm nach 18 Jahren offensichtlich schwer, er bleibt seinem Lebenswerk nicht nur finanziell, sondern auch emotional stark verbunden. «Er kann nicht loslassen», diesen Satz hört man häufig am Hauptsitz. Dass Fernandez dort weiterhin das grösste und zentralste Büro besetzt (und auch drei bis vier Tage pro Woche nutzt), während CEO Hunziker deutlich bescheidener am Ende des Gangs logiert, spricht für sich. Dass er weiterhin im Board jeder einzelnen Tochterfirma sitzt, ebenfalls.
Wie sehr Avaloq noch auf den Gründer gepolt ist, zeigt auch eine Anekdote vom jüngsten Kick-off-Event: Bei der zweitägigen Veranstaltung Anfang Januar in einem Thuner Hotel wurde das versammelte Kader auch mit einer Quiz-App unterhalten. Auffallend viele Fragen, so ein Teilnehmer, betrafen dabei den Chairman («Was war Franciscos erstes Auto?»).
Kommt hinzu, dass die Messages von Chairman und CEO nicht immer deckungsgleich sind. «Die Unité de doctrine fehlt», sagt ein langjähriger Kadermann. Das sorgt in der Belegschaft bisweilen für Verwirrung – etwa wenn bei besagtem Kick-off-Meeting Hunziker von seinen Leuten einen «Sales Push» verlangt und Fernandez am nächsten Tag von Software spricht, «die sich selbst verkauft». Und manche der langjährigen Mitarbeiter gehen für Entscheidungen nach wie vor zum Chairman statt zum CEO. «Da fehlt Fernandez manchmal das Feingefühl», klagt ein Unterstellter. Der US-Grosskonzern-gestählte Hunziker gilt selber als starker Leader. Dass diese Konstellation dauerhaft gut geht, bezweifeln daher manche in Zürich-Manegg.
ETH- statt Musikstudium
Der Abschluss von Rainbow ist die vorläufig letzte Station eines langen Weges. Eigentlich wollte Fernandez Berufsmusiker werden, liebäugelte mit einem Jazz-Studium in Boston. Die Eltern – sie waren in den 1950er Jahren vor dem Franco-Regime in die Schweiz geflüchtet – freilich waren dagegen, sie wollten nicht, dass der Sohn als Barpianist oder Musiklehrer endet. «Wenn man in der Musik nicht zu den Top Ten der Welt gehört, kann man die Familie nicht ernähren», sagt er selber. Er zog daher das ETH-Studium vor, Informatik, in einem der ersten Jahrgänge, und konnte sich die Jobs nachher aussuchen («Damals bewarben sich die Firmen bei den Absolventen, nicht andersherum», erinnert er sich).
Die Entscheidung fiel auf BZ Informatik, die rechtlich selbständige IT-Abteilung von Martin Ebners BZ Bank. «Wir waren fünf Nasen, 20 PCs, ein kleines Netzwerk und eine in die Jahre gekommene amerikanische Backoffice-Lösung», erinnert sich Fernandez. Er fasste den Auftrag, diese zu ersetzen, suchte in ganz Europa und fand nichts Brauchbares. Denn damals arbeiteten die meisten Banken noch auf Papier – ein Prozess voller Fehler, Redundanzen, Ineffizienzen. «Das hat mich schockiert als ETH-Informatiker», sagt Fernandez. Denn am Schluss zahlten die Bankkunden für diese Ineffizienzen. «Und plötzlich war ich ‹a man on a mission›»: Nun ging es nicht mehr darum, bei der BZ ein Computersystem zu erneuern, sondern der Bankenwelt Effizienz zu bringen.
«Plötzlich war ich ‹a man on a mission›.»
Fernandez sprach bei Ebner vor mit der Idee, die Software selber zu schreiben, der Markt sei gewaltig. «Du bist ein Greenhorn, das finanziere ich nicht», war Ebners Antwort. Schliesslich einigte man sich auf einen Deal: Ebner verkaufte Fernandez und seinen beiden Mitstreitern Peter Leikauf und Philipp Achermann jeweils zehn Prozent der BZ Informatik à 200 000 Franken (Leikauf und Achermann sind heute noch Aktionäre von Avaloq, Letzterer auch VR). Fernandez’ Mannschaft kaufte eine simple holländische Software («viereinhalb Millionen Zeilen Spaghetti-Code»), passte sie notdürftig an Schweizer Verhältnisse an und installierte sie bei der BZ und beim ersten Kunden, der Rabobank. Ebner hatte, was er wollte. «Aber für meine eigenen Ansprüche war das System bei weitem nicht ausreichend», erinnert sich Fernandez.
1989: Francisco Fernandez beginnt nach dem Studium als IT-Ingenieur bei der BZ Informatik, die zu Ebners BZ Bank gehört.
1991: Fernandez, Philipp Achermann und Peter Leikauf beteiligen sich mit je 10 Prozent an der BZ Informatik.
1991: Die Rabobank Schweiz ist der erste Kunde, der Auffrag ist eine Million Franken wert.
1994: Für die Bank Oppenheim programmieren Fernandez und sein Team innert drei Jahren die erste eigene Soffware Advantage 1.0.
1998: Fernandez und seine Mitstreiter übernehmen die BZ Informatik zunächst mehrheitlich, zwei Jahre später vollständig, und taufen sie um in Avaloq.
August 2007: Die Finanzkrise beginnt und rüttelt in der Folge die Bankenwelt durcheinander.
November 2007: Mit dem Schritt nach Luxemburg und Singapur beginnt die Auslandsexpansion.
August 2011: Avaloq übernimmt die Mehrheit an B-Source, der Outsourcing-Tochter der BSI, und beginnt damit den Wechsel des Geschäffsmodells von Soffware zu BPO.
Dezember 2013: Mit 30 Prozent Marktanteil wird Avaloq erstmals Marktführer in der Schweiz.
Januar 2012: Als Spätfolge der Finanzkrise muss Avaloq erstmals 115 Mitarbeiter entlassen.
Juni 2014: Die Raiffeisen Gruppe gibt mit Projekt Rainbow (Projektvolumen: rund eine halbe Milliarde Franken) Avaloq den grössten Auffrag der Firmengeschichte.
Dezember 2015: Raiffeisen übernimmt 10 Prozent der Treasury-Aktien von Avaloq.
November 2016: Es mehren sich Presseberichte über Liquiditätsprobleme. In der Folge legt Avaloq erstmals Zahlen offen.
März 2017: Warburg Pincus übernimmt 35 Prozent an Avaloq, später auch noch jene 10 Prozent, die bei Raiffeisen liegen. Für die Zukunft wird ein möglicher Börsengang angekündigt.
Januar 2018: Fernandez zieht sich auf das VR-Präsidium zurück, CEO wird Jürg Hunziker.
Dezember 2018: Das Raiffeisen-Projekt Rainbow wird abgeschlossen.
Die Episode zeigt zwei Charakteristika von Fernandez. Erstens: Er ist ein Visionär, was auch jene anerkennen, die ihm gegenüber sonst kritisch gesinnt sind. «Er sieht die fernen Horizonte und zeigt, wie man sie erreichen kann», sagt ein Kadermitglied: «Wir realisieren seine Visionen zwar nie ganz, aber ohne sie wären wir nie so weit gekommen.» Und zweitens: Fernandez ist ein Perfektionist, begeistert von der Schönheit von Lösungen – sei es in der Programmierung, sei es in der Musik, sei es in seiner Autosammlung (Ferrari, Porsche und Mercedes). «Es gibt nichts, was er mehr hasst als Mittelmässigkeit», sagt jemand, der ihn schon lange kennt. Auch an sich selber: Gewisse narzisstische Züge bescheinigen ihm diverse Weggefährten.
«Wäre das eingetreten, wären wir beruflich tot gewesen.»
Vor allem aber hat Fernandez einen gehörigen Risikoappetit. «Francisco hat immer derart ambitionierte Ziele gesetzt, dass sie die Organisation gar nicht verdauen konnte», sagt ein langjähriger Mitarbeiter. Abbringen lässt er sich davon nicht, er gilt als stur. Seine Mannschaft macht trotzdem mit. Zum einen, weil der Gründer sie begeistern kann, zum anderen, weil er von sich selbst mindestens ebenso viel verlangt wie von seinen Mitarbeitern und mit höchstem Engagement vorangeht. So ist die Firma bis heute von einer starken Leistungskultur geprägt.
Einmal verwettete Fernandez die ganze Firma, als die Bank Sal. Oppenheim anklopfte, damals die grösste Privatbank Europas. Zwischen dem, was sie suchte, und dem, was Avaloq bieten konnte, gab es eine riesige Lücke. Fernandez sah das als Chance, etwas völlig Neues zu entwickeln. «Aus heutiger Sicht ist das natürlich Bullshit, aber es entsprach damals meinem Spirit, den Ingenieursdurst zu befriedigen und gleichzeitig Impact zu haben», erinnert sich Fernandez. Als Konventionalstrafe war eine Million Franken ausgemacht: «Wäre das eingetreten, wären wir beruflich tot gewesen.»
Scheitern war also keine Option. Stattdessen arbeitete das Team drei Jahre lang Tag und Nacht, bis die erste eigene Software stand. «Normalerweise braucht so etwas 1500 Mannjahre, wir haben es in 30 gemacht», sagt Fernandez. 1998 übernahmen er und seine Mitstreiter die Mehrheit an der BZ Informatik, zwei Jahre später – Ebner war in finanzielle Schieflage geraten – konnten sie den Rest der Firma kaufen und benannten sie in Avaloq um (Ironie der Geschichte: Ebner ist heute Grossaktionär beim wichtigsten Konkurrenten Temenos). Seither wächst Avaloq fast ungebremst, hat Niederlassungen rund um die Welt – und baut weiter aus: Gerade werden am Hauptsitz in Zürich-Manegg neue Bürogebäude hochgezogen. Ab 2022 soll es hier Platz geben für 1100 statt bisher 750 Mitarbeiter.
Fernandez und seine Familien
Familie bedeutet Fernandez viel: Mit seiner Frau Laura feierte der gebürtige Luzerner letztes Jahr den 20. Hochzeitstag. Zwei Töchter haben die beiden, eine 20-jährige Ballerina – und eine fünfjährige Nachzüglerin. «Das Leben schreibt die schönsten Geschichten», schmunzelt Fernandez dazu. Auch Avaloq ist für ihn ein Stück weit eine Familie: In seinem Büro hängen die Porträts der 100 ersten Mitarbeiter. Als er im Januar 2012 als Spätfolge der Finanzkrise 115 Angestellte entlassen musste, war dies einer seiner schlimmsten Momente. «Nicht nur wegen der persönlichen Niederlage, Stellen abbauen zu müssen, sondern auch, weil er mit den Leuten mitgefühlt hat», sagt einer, der damals dabei war. Fernandez verpflichtete die gesamte Geschäftsleitung, jedem Betroffenen bei der Jobsuche zu helfen. Am Schluss wurden alle Entlassenen in der Avaloq-Community platziert. «Wir hatten mehr Nachfrage nach Mitarbeitern als Angebot», erinnert sich Fernandez.
Doch die Avaloq-Familie ist ein Stück weit eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Jene, die eng mit ihm arbeiten oder ihn lange kennen, geniessen Fernandez’ Vertrauen, viele Freiheiten und guten Zugang zu ihm. «Durch die anderen schaut er häufig hindurch», sagt ein Mitarbeiter. Und immer wieder kritisiert wird die «Heldenkultur», die bei Avaloq gepflegt werde: Nur wenigen Stars (vorwiegend erfahrenen Softwareentwicklern) traue man zu, Probleme zu lösen, weshalb fast immer die gleichen an die Brandherde geschickt würden.
Doch Helden sind per definitionem Einzelkämpfer, komplexe Probleme können so nicht gelöst werden, und dem Teamgeist in der Firma ist diese Kultur auch nicht förderlich. Auffallend ist zudem, dass in der Geschäftsleitung ausschliesslich Quereinsteiger sitzen. «Den eigenen Leuten traut Fernandez weniger zu als externen», sagt jemand, der sein Vertrauen hat. Immer mal wieder jedoch erweisen sich die hochgelobten Neuzugänge als Fehlgriff und sind schnell wieder weg. Das erklärt auch die relativ hohe Fluktuation in der Geschäftsleitung. Dass kulturell einiges im Argen liegt, zeigt eine eben durchgeführte Mitarbeiterumfrage: Demnach erreicht die Zufriedenheit der Angestellten im Schnitt nur sechs von zehn Punkten.
Fernandez baut nun Jungfirmen
Das grösste Projekt der Firmengeschichte erfolgreich abgeschlossen, die Finanzkraft gestärkt, die Nachfolge geregelt, den Ausbau aufgegleist – eigentlich könnte sich Fernandez jetzt zurücklehnen. Kann er nicht. Stattdessen erfindet er sich neu. Ein halbes Dutzend Businesspläne landet jede Woche auf seinem Schreibtisch: «Wenn mich etwas anspricht, kann es sein, dass ich investiere.» Mit der gleichen Begeisterung, mit der er Software baut, baut er nun Jungfirmen, schliesslich will das Geld aus Warburgs «Liquidity Event» investiert werden. «Er ist und bleibt ein Risktaker», nennt es ein Kadermann.
So ist Fernandez etwa mit dem Start-up Formula V in den Gaming-Markt eingestiegen. «Ich habe mein ganzes Leben lang B2B gemacht, es war mein innigster Wunsch, auch mal Emotionen zu verkaufen», begründet er den ungewöhnlichen Schritt. Am Anfang stand sein Versicherungsbroker. Der wollte einen Formel- 1-Simulator kaufen (Stückpreis: 150 000 bis 200 000 Franken) und damit in Zug einen kleinen Spielsalon eröffnen. Fernandez formulierte die Geschäftsidee um: «Wir digitalisieren Car Racing und machen so aus dem Elitesport einen Massensport.»
Und statt nur in Zug will er das Konzept weltweit ausrollen, in 60 grossen Städten mit jeweils vier bis fünf Centern und wiederum jeweils vier bis zehn Simulatoren. Kostenpunkt pro Center: zwei bis drei Millionen Franken, aufgebracht durch unabhängige Franchisenehmer. Die Kunden sollen pro Eintritt zahlen oder im Abo und dank Vernetzung auch gegeneinander fahren können. Ein eigener YouTube-Kanal, Werbung auf den virtuellen Banden, Sponsoren für die Autos – Fernandez hat viele weitere Ideen, das Konzept zu Geld zu machen. «‹Think Big› ist eines meiner Credos», sagt er.
Auch beim Start-up Crowdhouse ist er eingestiegen, als Aktionär (er besitzt ein Drittel der Anteile) und als Verwaltungsrat. Das Zürcher Jungunternehmen bietet Privatanlegern die Möglichkeit, Anteile an einzelnen Renditeimmobilien zu erwerben, und verspricht über fünf Prozent Rendite. «Wir kreieren eine neue Assetklasse für die Welt», nennt es Fernandez, Stichwort: Think Big. Nach zwei Jahren ist die Firma bereits profitabel – auch weil ihre Dienste in die Avaloq-Software eingebunden sind. So können die Banken die Hypothekarvergabe automatisieren.
Geld verdienen mit den Ärmsten
Am ungewöhnlichsten freilich ist Fernandez’ Aktivität bei Pioneering Ventures: Der Agritech-Inkubator mit Sitz in Zürich baut Technologiefirmen entlang der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette auf – in Indien. Etwa eine unbemannte Riesenfabrik, die Zitrussaft herstellt für Coca-Cola und Pepsi, oder einen Milchlieferanten, der den Bauern via App die richtige Kuhzucht beibringt und gleichzeitig die Logistik der Milchlaster optimiert. Ebenfalls zu Pioneering Ventures gehört einer der weltgrössten Bananenproduzenten, bei dem 700 Mitarbeiter, angeleitet durch eine App, jeden Tag knapp eine Million Bananen ernten. Auch ein Fintech-Unternehmen, das die Bauern mit Fremdkapital versorgt, ist im Portfolio. «Wir helfen den Ärmsten und sind dabei sogar profitabel», sagt Fernandez. Für knapp ein Drittel der Anteile an Pioneering Ventures hat er einen zweistelligen Millionenbetrag bezahlt.
Zu Fernandez 2.0 passt auch seine äusserliche Verwandlung: Das Menjoubärtchen, das er nur dank seiner spanischen Abstammung guten Gewissens jahrzehntelang tragen durfte und das so zu seinem Markenzeichen wurde, hat er nun eingetauscht gegen einen Vollbart.
Doch trotz seiner Start-ups, trotz seiner zahlreichen weiteren Funktionen (Stiftungsrat der ETH, Fachrat des Institutes für Finanzdienstleistungen Zug, Vorstand des Efficiency Club Zürich) füllt Avaloq weiterhin rund 80 Prozent von Fernandez’ Terminkalender aus. Denn die Liste der strategischen Zukunftsprojekte ist lang. Da ist die geplante Expansion in die USA, einen ebenso grossen wie anspruchsvollen Bankenmarkt. Da ist das Thema Blockchain, das «alle Bankprozesse verändern wird», wie Fernandez sagt. Zehn Prozent aller Assets werden in den nächsten fünf Jahren digital sein, schätzt er, das würde bei Avaloq dann wohl mehr als eine halbe Milliarde Franken ausmachen.
«Was Amazon kann, müssen wir auch können.»
Seine Firma bezeichnet er als Early Mover in dem Bereich: «Wir wollen nicht die Banken disrumpieren, sondern ihnen helfen, in die digitale Zukunft zu kommen.» Auch beim Thema künstliche Intelligenz will er mitspielen und die Avaloq-Transaktionen, ergänzt mit unstrukturierten Daten aus dem Internet, für Big-Data-Analysen nutzen, um Fragen zu beantworten wie: Welche Kundensegmente kaufen welche Investmentvehikel? Welche Portfoliostrukturen geben die beste Performance? «Was Amazon kann, müssen wir auch können», sagt er. Die grosse Herausforderung freilich wird sein, dies im Einklang mit den Schweizer Datenschutzgesetzen und dem Bankgeheimnis zu schaffen.
Und dann ist da am Horizont natürlich noch der Börsengang. Wenn Avaloq zwischen 800 Millionen und 1,2 Milliarden Franken Umsatz erzielt, könnte er erfolgen. Rund fünf Jahre würde der Weg dahin dauern, kündigte Fernandez beim Einstieg von Warburg Pincus an. Das war vor eineinhalb Jahren. Bleiben noch dreieinhalb. Geht alles nach Plan, ist Fernandez dann 60 Jahre alt. Dann hätte er sein Lebenswerk vollendet, dann könnte er, wenn er es denn kann, endgültig loslassen.
Und dann hätte er endlich genug Zeit für seine Klaviere.
Dieser Text erschien in der Februar-Ausgabe 02/2019 der BILANZ.