In unserem Verkaufsteam in Stuttgart nannten sie Erwin spöttisch den «Adler». Seit weit über einem Jahr kreiste er über dem möglichen Grosskunden Mercedes-Benz, den sie in Stuttgart immer noch Daimler nennen. Erwin kreiste und kreiste, Meeting reihte sich an Meeting, Erwin kreiste, und nichts geschah.
Dann machte es auf einmal bum! Erwin hatte Beute gemacht. Er verkaufte dem Automobilhersteller unsere crossmediale Lösung für dessen Kunden-Newsletter. Es war ein unglaublicher Erfolg, denn rund um die Autometropole Stuttgart, mit den Produktionsstätten von Mercedes und Porsche, ist die Konkurrenz bei Softwareanbietern gewaltig.
Sie nannten Erwin dann weiterhin «Adler», aber nicht mehr spöttisch, sondern schulterklopfend.
«Think Big»: Adler trauen sich an grosse Beute
Erwins Adler-Strategie war durchaus dem sogenannten König der Lüfte nachempfunden. Adler haben auf der Jagd zwei arttypische Eigenschaften: Kein anderes Raubtier wagt sich, im Vergleich zum eigenen Wuchs, an ähnlich grosse Beutetiere heran; und Adler wissen sehr genau, dass nur lange Geduld den betriebswirtschaftlichen Erfolg sicherstellt.
Der Steinadler beispielsweise, der bei uns verbreitet heimisch ist, hat eine Spannweite von etwa zwei Metern und wiegt in der Regel um die vier Kilogramm. Dennoch jagt er erfolgreich Tiere wie junge Gämsen oder Steinböcke, die bis zum Vierfachen des eigenen Körpergewichts ausmachen können.
«Think Big» könnte man diesen lehrreichen Ansatz nennen. Viele kleinere Unternehmen bleiben für immer klein, weil sie sich nicht an die grosse Beute herantrauen. KMUs verkaufen und liefern an andere KMUs, und bei diesen eigenen Dimensionen bleibt es dann.
Ich habe einen Freund, der mit drei Kollegen eine digitale Lösung für die Vermögensverwaltung entwickelt hat. Die verkaufe er nun der Credit Suisse, sagte er eines Abends in unserem Kreis – lautes, ironisches Gelächter folgte auf seine Ankündigung. Der Adler-Typ verkaufte sie dann tatsächlich an die Grossbank und hat heute über 200 Mitarbeiter.
«Take Time»: Mit Geduld zum Erfolg
Das zweite entscheidende Element der Adler-Strategie ist das Time Management. Ich kann von meiner Terrasse aus manchmal einen Adler beobachten, der lang und länger in halbhohem Flug über das Gelände zieht, oft dicht den Hängen und Baumkronen entlang. Im Akquisitionsprozess, so weiss der Vogel genau, ist Geduld die primäre Eigenschaft.
Erwin, unser erfolgreicher Verkäufer in Stuttgart, hat später einmal nachgerechnet, wie viel Zeit er aufgewendet hatte, bis er bei Mercedes-Benz endlich Beute machte. Es waren, wenn ich mich richtig erinnere, über 200 Stunden, investiert in Verkaufsunterlagen, Meetings, Mails, Telefonate und Business Lunches.
Der Adler ist mit seinem Marketingmix aus «Think Big» und «Take Time» zum populärsten Vogel der Welt und zum zweitpopulärsten Tier überhaupt aufgestiegen. Die Popularität lässt sich anhand der Heraldik ermessen: Mit seiner Präsenz auf Fahnen und Wirtshausschildern, vom Bundes- bis zum Genfer Adler, ist der Adler die Nummer zwei der Zoologie.
Noch populärer als Wappentier ist nur der Löwe, vom Zürileu bis zu den Three Lions of England. Der Löwe allerdings hat dem Adler einen entscheidenden Punkt voraus: Er geht nicht selber auf die Jagd, sondern schickt zur Nahrungsbeschaffung seine vielen und wechselnden Weibchen los.
Diese Chance zur Delegierung der Arbeit hat der Adler nicht. Er ist sein ganzes Leben lang monogam.