Wie ticken die unterschiedlichen Zentralbanken? Wie wichtig ist einer Zentralbank der Kaufkrafterhalt der Währung? Wie stark gewichtet sie andere Faktoren? Dies lässt sich derzeit gut beobachten, denn die Zentralbanken haben bei ihren Zinsentscheiden aktuell einen gewissen Handlungsspielraum. Im Vergleich zu den Höchstwerten ist die Inflation deutlich gefallen. Damit besteht kein Zwang mehr, die Zinsen auf dem gleich hohen Niveau zu halten. Eine Zinssenkung wäre möglich. Da keine Rezession absehbar ist, besteht aber gleichzeitig kein unmittelbarer Druck, diese Zinssenkung auch vorzunehmen.
Die Entscheidungsträger stehen damit vor einer Entscheidung: Sie können den Spielraum der tieferen Inflation nutzen, um die Zinsen so bald wie möglich zu senken und die Konjunktur nicht unnötig zu drosseln. Oder sie können den Zinsschritt möglichst hinauszögern, um die Politik im Zweifelsfall restriktiv zu gestalten und damit die unerwünschten Nebenwirkungen von zu billigem Geld zu vermeiden.
Adriel Jost ist Ex-SNB-Mitarbeiter, Fellow am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern und Präsident des Thinktanks Liberethica.
Ordnet man die Zentralbanken gemäss diesem Kriterium ein, zeigt sich ein überraschendes Ergebnis. Ausgerechnet die als konservativ geltende SNB hat im März die erste Möglichkeit genutzt, um die Zinsen zu senken. Vorsichtiger agieren hingegen die Zentralbanken der Eurozone und der USA, wo erste Zinssenkungen frühestens im Frühsommer möglich, aber noch keineswegs in Stein gemeisselt sind.
Natürlich lassen sich die Zentralbanken hinsichtlich ihrer Geldpolitik nicht direkt vergleichen, da sich die Ausgangslage in den Währungsräumen unterscheidet. Allerdings deuten die Äusserungen der Verantwortlichen tatsächlich auf eine veränderte geldpolitische Kultur hin. Insbesondere in den USA sitzt der Schock der im Nachgang zur Corona-Krise stark angestiegenen Inflationsraten noch tief. Die Bevölkerung hat die schmerzhaften Konsequenzen von hohen Inflationsraten sehr direkt gespürt, und die Entscheidungsträger wollen sich nicht noch einmal vorwerfen lassen, die Inflation auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie nehmen Zinssenkungen darum nicht vorschnell vor.
Anders die Ausgangslage in der Schweiz: Seit 2009 versucht die Schweizerische Nationalbank (SNB), die Glaubwürdigkeit des Frankens so weit wie möglich zu mindern, damit dieser gegenüber den schwächelnden Hauptwährungen nicht zu stark aufwertet. Die SNB ist dementsprechend bezüglich Zinsniveau und Bilanzausbau schon lange expansiver unterwegs als die Zentralbanken der Eurozone und der USA. In diesem Sinn war es nur konsequent, dass die SNB die erste Möglichkeit genutzt hat, ihre Zinsen im März wieder zu senken – und dabei die Nebenwirkungen in Kauf nahm, dass die tieferen Zinsen die Inlandsnachfrage erhöhen und damit den Fachkräftemangel und die Ungleichgewichte an den Immobilienmärkten verschärfen. Angesichts der geldpolitischen Ausrichtung überrascht es auch nicht, dass der Franken aktuell eher unter- als überbewertet ist.
Die SNB prescht vor, andere Zentralbanken zögern. Verkehrte Welt? Nein: Der wahre Unterschied zwischen der Schweiz und dem Ausland liegt, entgegen landläufigen Annahmen, schon länger nicht in der Geldpolitik. Die SNB macht weiterhin alles, um nicht als geldpolitische Streberin aufzufallen. Der Unterschied liegt in der Fiskalpolitik. Diese war der Hauptgrund für die stark gestiegenen Inflationsraten im Ausland. Und diese fällt in der Schweiz, auch dank der Schuldenbremse, deutlich konservativer aus. Allerdings scheint auch hier ein latenter Druck zu bestehen, sich den ausländischen Vorbildern anzupassen.