Das Schweizer Steuersystem mit der «Heiratsstrafe» hält viele Frauen davon ab, nach der Babypause wieder in Vollzeit – oder überhaupt – in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Das Firmennetzwerk Advance beleuchtet in einem aktuellen Whitepaper die Auswirkungen einer Individualbesteuerung auf den Arbeitsmarkt und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Ein zeitgemässes Steuersystem setze die richtigen Anreize und könne die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt positiv beeinflussen.
In den nächsten zehn Jahren erreicht die Generation der Babyboomer das Pensionsalter. Die Schweiz verliert mit ihnen zehn Prozent der Fachkräfte. 2050 könnten der Wirtschaft gemäss Arbeitgeberverband 1,3 Millionen Personen fehlen – allein aufgrund der demografischen Entwicklung.
Das Interesse der Unternehmen, Frauen in der Arbeitswelt zu behalten, ist entsprechend gross. Neben anderen strukturellen Hindernissen spielt das Steuersystem eine wichtige Rolle bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen. Gemäss einer Untersuchung von Avenir Suisse könnte eine Individualbesteuerung 40'000 bis 60'000 Vollzeitstellen schaffen oder die Erwerbsquote von 300'000 Frauen um 20 Prozent erhöhen.
Das geltende System in der Schweiz ist hingegen auf einen Hauptverdiener pro Familie ausgerichtet. Sind aber beide Ehepartner berufstätig, wirkt es sich finanziell nachteilig aus. Die Einkommen von beiden Partnern werden zur gemeinsamen Besteuerung addiert. Die Folge: Aufgrund der Progression ist die Steuerlast höher, als wenn Partner individuell besteuert würden. So frisst die Progression einen grossen Teil des «Zweiteinkommens» auf.
Frauen müssen sich fragen: Lohnt es sich überhaupt, wieder zu arbeiten? Mit 62 Prozent ist die Rate der erwerbstätigen Frauen im internationalen Vergleich hoch. Jedoch wählen sehr viele Frauen nach der Babypause ein Teilzeitpensum. Fast 45 Prozent der berufstätigen Frauen in der Schweiz arbeiten Teilzeit, das macht das Land zum Teilzeit-Weltmeister (siehe Grafik).
Anteil Frauen und Männer, die 2020 Teilzeit arbeiten
In Finnland und Schweden sind es dagegen nur 17 Prozent. «Die Frauen tun dies nicht immer aus freien Stücken», sagt Alkistis Petropaki, Geschäftsführerin von Advance. Oft sei der Entscheid für Teilzeit auch auf das aktuelle Steuersystem zurückzuführen, das höhere Zweiteinkommen bestrafe.
In Schweden, dem Vorzeigeland für Geschlechtergerechtigkeit, wurde in den 1970er Jahren die Individualbesteuerung eingeführt. Der Anteil beschäftigter Frauen stieg von 37 Prozent (1965) auf 71 Prozent (1990). Auch in Österreich konnte die Erwerbstätigkeit der Frauen mit Einführung der Individualbesteuerung seit 2004 von 50 auf 55,6 Prozent erhöht werden.
Im Oktober 2020 haben die FDP-Frauen Schweiz mit Nationalrätin Susanne Vincenz-Stauffacher als einer der Initiantinnen die Lancierung einer Volksinitiative für eine Individualbesteuerung angekündigt, die Unterschriftensammlung endet Anfang September. Die Initiative wird von vielen Seiten begrüsst. So auch von Economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft. «Das heutige System der Ehepaarbesteuerung führt zu negativen Arbeitsanreizen, vor allem bei verheirateten, gut ausgebildeten Frauen», sagt Economiesuisse-Direktorin Monika Rühl.
Ein Wechsel zur Individualbesteuerung wäre ein wichtiger Schritt, um Frauen besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren und so das Angebot an qualifizierten Fachkräften zu erhöhen. Zwar sei die konkrete Ausgestaltung noch unklar, und auch die Kosten der Systemumstellung müsse man im Auge behalten, trotzdem hält Rühl die geltende Ehepaarbesteuerung für diskriminierend und unzeitgmäss und freut sich daher über die Initiative der FDP-Frauen.