Warum LVMH nicht daran interessiert ist, die Kalibermanufaktur Vaucher zu kaufen. Wie die Zukunft der LVMH-Uhrenmarken aussieht. Und warum Bulgari eine neue Manufaktur eröffnet. Frédéric Arnault, Chef der Uhrendivision der Gruppe, und Jean-Christophe Babin, CEO von Bulgari, im Doppel-Interview.
Beginnen wir mit einer persönlichen Frage: Herr Arnault, was bedeuten Ihnen Uhren?
Frédéric Arnault: Ich bin erst über meine Funktion bei TAG Heuer zu den Uhren gestossen. Da hat mich rasch die disruptive, junge, sportive und auch mechanische Seite dieser Marke angezogen, und ich begann, die Branche richtig zu lieben. Ich bin ein leidenschaftlicher Uhrenfan geworden und komme deshalb auch jede Woche mehrere Tage in die Schweiz. Zum Beispiel nach Delémont, wo wir eben die Marke L’Epée gekauft haben. Da haben wir einiges vor, die Nachfrage ist stark und wachsend.
Frédéric Arnault
Wir sitzen jetzt in Saignelégier, weil Sie da eine Manufacture d’habillage eröffnen – also eine Manufaktur für Gehäuse, Zifferblätter und alles, was sonst noch zur Ausstattung einer Uhr gehört. Herr Babin, was ist für Bulgari die Strategie dahinter?
Jean-Christophe Babin: Für Bulgari begann die Geschichte 2019 mit einer grossen Innovation: Wir legten, das war neu, die normalerweise separaten Abteilungen für Gehäuse und für Zifferblätter in einem Pool d’habillage zusammen. Wir waren überzeugt, dass es in Bezug auf das Know-how Synergien gibt, weil wir die Leute polyvalent nach Bedarf für beide Bereiche einsetzen können. Das war ein wichtiger Schritt, der uns eine wesentlich flexiblere und der Nachfrage angepasste Steuerung der Produktion erlaubt. Zunächst war das vor allem für etwas alltäglichere Uhren der Fall.
Und heute?
Babin: Bulgari hat viel Erfolg im obersten Luxussegment, gerade im femininen Bereich. Da ist neben feiner Mechanik meist eine vertiefte kunsthandwerkliche Expertise gefragt. Lange bauten wir in diesem Bereich vor allem auf Zulieferer, jetzt integrieren wir auch das Kunsthandwerk in die Manufacture d’habillage. Wir haben dafür ein eigenes Stockwerk, wo in der Sertissage Edelsteine gesetzt werden, wo Miniaturmalerei gepflegt wird und wo wir zum Beispiel Pfauenfedern für die Zifferblatt-Dekoration einsetzen. Oder Zifferblätter aus einem Malachit-Mosaik herstellen.
Jean-Christophe Babin
Und was ist die Bedeutung dieser Manufaktur für die LVMH-Gruppe?
Arnault: Für uns ist es die Gelegenheit, unsere Verbindung zur Schweizer Uhrenindustrie zu betonen. Wir sind erst seit 1999 in signifikanter Weise in der Uhrenbranche aktiv, damals erwarben wir TAG Heuer, Ebel und Zenith. Seither haben wir die Marken weiterentwickelt und auch ein paar weitere Akquisitionen getätigt, Bulgari und Hublot zum Beispiel. Wir haben 16 industrielle Standorte in der Schweiz, beschäftigen 3500 Mitarbeitende und haben allein in den letzten fünf Jahren 500 Millionen Franken in die Schweizer Uhrenindustrie investiert. Und wir werden das in den nächsten Jahren weiterhin stark tun. Wir haben viele Projekte – für TAG Heuer, für Hublot oder für unsere Fabrique du Temps.
Was weitere Akquisitionen obsolet macht? Sie haben doch Gelüste auf den Pôle Horloger der Sandoz-Stiftung mit dem Manufakturbauer Vaucher, der aktuell zum Verkauf steht?
Arnault: Richtig ist, dass wir da sehr gute Beziehungen haben. Aber aufgrund unseres industriellen Set-ups, das schon konsequent ist, besteht kein Interesse an Vaucher, wir haben deshalb kein Angebot gemacht. Jede unserer Marken hat ihr eigenes Werk. Und ohnehin haben wir mit Zenith und ihrem El-Primero-Kaliber einen Schatz, den man für die ganze Gruppe weiterentwickeln kann. Was wir auch tun werden.
Gäbe es dennoch eine Uhrenmarke, die Sie gerne kaufen würden? Sie würden doch zu Patek Philippe nicht Nein sagen, wenn die Marke zu haben wäre?
Arnault: Es gibt wunderschöne und extrem solide Marken, die familiengeführt sind und die Berufung haben, unabhängig zu bleiben. Ich finde das gut für die Branche. Man vergleicht die Gruppen oft mit den unabhängigen Akteuren. Wir befinden uns bei LVMH – ebenfalls familiengeführt – in einer ziemlich einzigartigen Situation, da jede Marke in ihrem Inneren sich so entwickelt, als wäre sie unabhängig, und gleichzeitig von der Unterstützung der Gruppe profitiert.
Schaut man sich das Umsatz-Ranking der Uhrenmarken von Morgan Stanley und LuxeConsult an, fällt auf, dass im sogenannten Club der Milliardäre, also bei Marken, die über eine Milliarde Umsatz haben, keine LVMH-Marke vertreten ist. Herr Arnault, haben Sie die Ambition, dies zu ändern?
Arnault: Wir sind überzeugt, dass wir mehr als eine Marke haben, die das Potenzial dazu hat.
TAG Heuer und Hublot?
Arnault: Beide werden sehr bald im Club sein. Und die Milliarde weit übertreffen. Schaut man den Sell-out an, also den Umsatz, der mit den Uhren inklusive Distribution erzielt wird, wären wir schon lange im Club der Milliardäre. Einige Mitbewerber sind in Bezug auf die Distribution mit eigenen Boutiquen sehr integriert, was die Zahlen etwas verzerren kann. Wir haben ein einzigartiges Portfolio mit Uhrenmarken, die stark komplementär sind.
Nun gab es aber eine Zeit, in der man das Gefühl hatte, bei Hublot, Zenith und TAG Heuer begännen sich die Produkte sehr zu ähneln. Strebt die Gruppe im Design eine Art LVMH-Identität an?
Arnault: Nein. Es ist im Gegenteil sehr wichtig, dass jede Marke ihre eigene Identität und ihre starken Produkte hat. Hublot zum Beispiel hat ein sehr starkes Design mit dem Thema Fusion und der Big Bang, TAG Heuer pflegt mit der Monaco und der Carrera starke historische Ikonen, Zenith hat mit dem El Primero ein aussergewöhnliches Werk. Jede Marke muss ihr eigenes Territorium pflegen.
Auch in Bezug auf die Preispositionierung – streben Sie da eine Art Marken-Preispyramide an?
Arnault: Nicht wirklich. Wir haben bei LVMH nicht zwingend die Vision, die Marken in der Preispositionierung zu differenzieren. Wir erlauben uns zum Beispiel ohne weiteres, bei TAG Heuer in höhere Preissegmente aufzusteigen und komplexere Mechanik anzubieten. Eine Rattrapante für 130’000 Franken zum Beispiel oder ein Tourbillon, also Stücke, die durchaus in der Hublot-Liga spielen.
Wie sieht es bei Bulgari aus, Herr Babin? Unter Ihrer Leitung ist die Marke seit 2013 stark gewachsen. Wo steht sie in fünf Jahren?
Babin: Wir werden die Begehrlichkeit der Marke Bulgari weiter steigern. Und da haben wir den Vorteil, transversale Ikonen zu haben.
Will heissen?
Babin: Ich denke etwa an die Serpenti-Kollektion. Die ist gleichzeitig unsere erste Uhren-Linie, unsere erste Joaillerie-Linie und unsere erste Linie bei den Accessoires. Und Octo hat im Herrenbereich ebenfalls eine starke Position erobert. Wir haben aktuell damit zwei Uhrenikonen, die es früher gar nicht gab. Sie sind in den letzten zwölf Jahren entstanden, also noch sehr jung, und haben mithin noch viel Potenzial. Das erlaubt uns eine vernünftige Hoffnung auf ein starkes Wachstum, zumal Serpenti derzeit alle Verkaufsrekorde schlägt. Wir ernten, was wir in den letzten Jahren gesät haben.
Was ist bezüglich Umsatz wichtiger bei Bulgari: der Schmuck oder die Uhren?
Babin: Die Joaillerie ist nach wie vor unsere erste Domäne, und wir wollen, dass es auch so bleibt. Es ist völlig klar, dass unser Erfolg in der Uhrmacherei ein Derivat der Joaillerie ist. Und wenn zum Beispiel die Serpenti-Kollektion im Schmuck weiterhin explosiv Erfolg hat, profitiert auch die Serpenti-Uhr davon.
Aber global hat Schmuck das grössere Wachstumspotenzial?
Arnault: In der Joaillerie haben wir das spezielle Phänomen, dass es einen grossen Markt ausserhalb der grossen Schmuckhäuser gibt. Es gibt in vielen Ländern viele lokale Juweliere, die keine eigentlichen Marken sind und nur wenige Geschäfte haben. Gegenüber solchen Akteuren sehen wir einen starken Aufwind der grossen Marken.
Babin: Hinzu kommt, dass wir vermehrt Frauen in starken Positionen mit immer besseren Einkommen haben, welche sich gerne ihren Schmuck selber kaufen. Noch vor 30 Jahren war Schmuck eher ein Geschenk, das sie von ihren Männern und Freunden erhielten.
Momentan durchläuft die Branche ein eher schwieriges Jahr. Wie sehen Sie das?
Babin: Es hat immer wieder Verlangsamungen in der Uhrenbranche gegeben. Die kamen stets nach einem starken Zyklus, und der Rückgang war in der Regel relativ schwach. Wir stehen zum Beispiel dieses Jahr beim Export im Vergleich zum Rekordjahr 2023 bei minus drei Prozent. Da mögen einige ein Drama daraus machen, ich kann gut damit leben, auch wenn natürlich plus zehn Prozent hübscher wären. Und wenn man auf die letzten 25 Jahre zurückblickt, sieht man, dass nach jeder Erosion ein Schub auf einen neuen Höhepunkt folgte.
Aber man verkauft immer weniger Uhren?
Babin: Die generelle Tendenz in den letzten Jahren ist klar: Die Branche verzeichnet bei den Stückzahlen einen Rückgang, in Bezug auf den Wert aber eine Zunahme – die Musik spielt immer stärker im mittleren und im oberen Preissegment. Das kommt uns zugute, da wir keine Marke im Einsteigerbereich haben. Das läge nicht im Wesen der LVMH-Gruppe, wir sind eher im Bereich des Hyperluxus aktiv als bei den Massenkonsumgütern.
Arnault: Und wir werden unsere Uhrenmarken tendenziell noch höher positionieren. Diese Élevation des marques ist mir wichtig.
Nehmen wir an, in 100 Jahren erscheint ein Buch über die Geschichte der Uhrmacherei bei LVMH. Es wird darin auch ein Kapitel zu Frédéric Arnault geben. Was wäre für Sie der Titel darüber, den Sie gerne lesen würden?
Arnault: Ich konnte als Chef der Uhrendivision eine Situation übernehmen, die schon sehr stark war. Wir haben starke Marken und ein starkes Know-how. Mein Wille ist es, weiter zu investieren, um die Marken noch besser und höher zu positionieren und unsere globale Positionierung in der Uhrmacherei mit einer Langfriststrategie zu verstärken.
Und knapp auf einen Titel verkürzt?
Arnault: «Héritage und Innovation.» Die Uhrmacherei unterscheidet sich von vielen Tätigkeiten der LVMH-Gruppe. Man könnte dazu neigen, die Dinge in einer Fashion-Optik zu betrachten, was aber mit der Uhrmacherei gar nichts zu tun hat.
Babin: Ich kann das nur bestätigen. Wir sind in der Uhrmacherei für die Ewigkeit da. Wir können nicht alle paar Jahre eine neue Ikone lancieren. Sonst gehen wir drauf. Der Fashion-Kunde wird oft mehrmals im Jahr ein Produkt kaufen. Wenn hingegen jemand jedes Jahr eine Uhr kauft, haben wir es mit einem Sammler zu tun. Ein normaler Kunde erwirbt vielleicht drei, vier Mal in seinem Leben eine Uhr, die mehr als 3000 bis 4000 Franken kostet.
Dies war für Sie, Herr Arnault, die grösste Veränderung?
Arnault: Wir haben zwar schon immer langfristig gedacht. Aber das liegt mir bei der Uhrmacherei besonders am Herzen. Wir haben eben im Formel-1-Bereich eine Partnerschaft für die nächsten zehn Jahre abgeschlossen, was eher ungewöhnlich ist. Aber das erlaubt uns, das Thema langfristig aufzubauen.
Und bei Bulgari? Welchen Titel wünschten Sie sich da im Bulgari-Buch für das Kapitel zu Babin?
Babin: Für mich wäre es der Traum, aus Bulgari den grössten italienischen Uhrmacher gemacht zu haben.
Mit einem Made-in-Switzerland-Produkt?
Babin: Ja. Weil wir anerkennen, dass es diesbezüglich in der Schweiz eine Expertise gibt, die man nicht zwingend in Italien findet. Aber Sie werden an unseren Standorten auch viele italienisch sprechen hören, weil wir Talente aus Italien geholt haben. Vor zehn Jahren galten wir vielleicht noch als opportunistische Amateure, heute werden wir als echte Uhrenmarke betrachtet.
Arnault: Das gilt ähnlich für fast alle Marken, die wir haben. Vor 25 Jahren war TAG Heuer zwar eine sehr bekannte Marke, aber es gab kein internes uhrmacherisches Savoir-faire, keine eigene Produktion, keine Ateliers. Bei Hublot gab es zwar Innovationen in Bezug auf Materialien, aber null internes Know-how. Und dasselbe gilt für Louis Vuitton, wo wir, wie auch bei Bulgari, die Uhrmacherei «from scratch» erlernen mussten. Das manifestiert sich auch an den 16 Standorten, die wir haben. Das ist nicht Marketing, sondern eine industrielle Realität.