Wann haben Sie sich zum letzten Mal bei einem Vorurteil ertappt, das auf dem Geschlecht Ihres Gegenübers basierte?
Iris Bohnet*: Das passiert einem ja eigentlich dauernd. Als ich zum Beispiel einen meiner Söhne das erste Mal in den Kinderhort in Harvard gebracht habe, empfing uns ein männlicher Betreuer. Meine spontane Reaktion war: Weg hier, das ist ja furchtbar. Dieser Impuls dauerte glücklicherweise nur ein paar Sekunden. Aber wir alle haben diese Reaktion, wenn wir Menschen erleben, die nicht in unsere Stereotypen hineinpassen.
Wir alle diskriminieren?
Um Vorurteile zu überwinden, sind Informationen zuträglich. Selbst ein grosses Bewusstsein reicht aber nicht aus, um unsere erste, spontane Reaktion einem anderen Menschen gegenüber zu verhindern. Einerseits ist das eine schlechte Botschaft, weil es offensichtlich nicht so einfach ist, Geschlechterklischees und Vorurteile hinter uns zu lassen. Auf der anderen Seite ist es befreiend: Wir sprechen nicht länger über die bösen Menschen, die diskriminieren und zum Beispiel Frauen oder Männern in bestimmten Jobs keine Chance geben wollen. Vielmehr betrifft es uns alle. Es ist befreiend zu sagen, so funktioniert eben unser Gehirn. Wenn wir das akzeptieren, können wir immerhin versuchen zu verhindern, dass unsere Reflexe auch gleich bestimmtes Verhalten nach sich ziehen.
Und wie?
Indem wir andere Rahmenbedingungen schaffen. Bei der Auswahl von Personal zum Beispiel haben einige Unternehmen mittlerweile blinde Evaluationsverfahren eingeführt, bei denen der Name des Bewerbers oder der Bewerberin abgedeckt wird. In Frankreich wird bei der nationalen Arbeitsvermittlung sogar die Adresse abgedeckt. Denn auch der Wohnort ist häufig mit sozio-ökonomischen Faktoren und bestimmten Nationalitäten korreliert. Es gibt sogar Firmen, die den Lebenslauf gar nicht mehr anschauen, sondern nur die Qualifikationen testen, die nachher im Job gebraucht werden.
Wie funktioniert das, eine Jobvergabe ohne Blick auf den Lebenslauf?
Wenn ich zum Beispiel einen wissenschaftlichen Assistenten oder eine Assistentin anstellen möchte, gebe ich den Bewerbern ein Problem, das ihrem späteren Arbeitsalltag entspricht. Sagen wir, sie müssen Daten analysieren und einen Report schreiben. Diese sogenannten Work Sample Tests eignen sich am besten, um vorherzusagen, wie sich jemand im Job bewähren wird.
Wie realistisch sind diese Tests? Es gibt mittlerweile Software, die Arbeitssituationen simuliert, mit denen die Bewerber dann umgehen müssen. Ich habe zum Beispiel kürzlich eine neue Assistentin angestellt. Sie und ihre Mitbewerber mussten sich vorher einem zweistündigen Test unterziehen, in dem sie mit verschiedenen Sekretariatsarbeiten und Problemsituationen, wie zum Beispiel die Beantwortung einer schwierigen E-Mail, konfrontiert waren. Die Antworten wurden dann anonymisiert ausgewertet. Das heisst, Personalverantwortliche sehen die Performance, ohne zu wissen, wer dahinter steht. Man bewertet also die Leistung und nicht die Person.
Warum ist das anders bei üblichen Bewerbungsverfahren?
Wenn ich mir den Lebenslauf von jemandem anschaue und mit ihm oder ihr spreche, bin ich im Normalfall voreingenommen. Sagen wir, jemand gibt als Hobby an, dass er oder sie gerne schwimmt, wie ich auch. Das wird mich beeinflussen, selbst wenn ich das nicht möchte und obwohl diese Kriterien keinen Einfluss darauf haben, ob jemand etwa ein guter Professor oder eine gute Professorin in Harvard wäre. Deshalb will man die Grundlage der Personalentscheidung von der Person trennen. Die Personalbeauftragten sind bei diesen Tests manchmal total überrascht, wer als Bestes abschneidet.
Wer einen Bewerber auswählt, achtet aber oft auch darauf, ob dieser gut ins Team passt. Ist es wirklich klug, einen Job so losgelöst von der Persönlichkeit des Kandidaten zu vergeben?
Interessanterweise gibt es kaum Belege dafür, dass unstrukturierte Interviews zur Auswahl von Jobbewerbern taugen. Trotzdem machen wir damit immer weiter. Es ist offensichtlich, dass ein Bedürfnis danach besteht, jemanden persönlich kennenzulernen, bevor wir jemanden einstellen. Darum argumentiere ich auch nicht, dass wir die Interviews völlig streichen sollten. Aber lasst uns den Interviewprozess verbessern. Es empfiehlt sich, Jobinterviews zu strukturieren, das heisst, wir prüfen an allen Kandidaten die gleichen Fragen ab. Wenn zum Beispiel die Empathiefähigkeit wichtig ist, müssen wir uns überlegen, wie wir diese messen wollen. Ganz schlecht wäre, als Personalverantwortliche einfach zu sagen: «Ich spüre das.» Dann kommen Vorurteile ins Spiel. Wir «spüren» eben eher etwas bei Leuten, die so ausschauen und denken wie wir selbst.
Was sind dann die richtigen Fragen bei der Jobauswahl?
Was auch immer Sie fragen, Sie sollten allen Ihren Kandidierenden die gleichen Fragen stellen und auch in der gleichen Reihenfolge, um eine Vergleichbarkeit herzustellen. Es gibt heute gute Möglichkeiten, abzutesten, welche Fragen zielführend sind – also nützlich, um die geeigneten Qualifikationen für einen Job zu ermitteln. Das macht Google zum Beispiel anhand einer Big-Data-Analyse. Bei einem Konzern wie Google entsteht mit der Zeit ein grosser Datensatz an Bewerberantworten, der valide Rückschlüsse zulässt, welche Fragen sich für die Prognose von zukünftigem Erfolg in der Firma besonders eignen. Es zeigt sich dann zum Beispiel, dass Frage 1 geeigneter ist, um eine Top-Mitarbeiterin zu ermitteln als Frage 5. Dann kann man Frage 5 gegebenenfalls aus dem Katalog streichen.
Big Data hilft uns also, Job-Kandidaten gerechter und objektiver zu beurteilen.
Ja, es geht darum, der Chancengleichheit eine Chance zu geben und passende Ausgangskriterien festzulegen, um ökonomisch sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Die treffe ich, wenn ich nach Talent und Kompetenz einstelle und nicht danach, ob jemand optisch ins Schema passt. Datenanalyse bietet letzten Endes nur einen Indikator für die Personalentscheidung. Aber viele Unternehmen haben ja aktuell gar keine Grundlage, da passiert die Evaluation nach Gefühl oder gegebenenfalls auf dem Golfplatz. Genau dieser Art von Jobvergabe liegen dann aber am ehesten Vorurteile zugrunde.
Zum Thema Chancengleichheit: In der Schweiz wird aktuell eine Initiative für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub lanciert. Viele Befürworter plädieren darüber hinaus für eine gleichberechtige Elternzeit. Wäre diese ökonomisch sinnvoll?
Sinnvoll wäre Elternurlaub, weil dann weder Männer noch Frauen aufgrund von Kinderbetreuungszeiten diskriminiert würden. Gegenwärtig ist die Situation so, dass ein Arbeitgeber weiss, dass Männer kaum wegen einer Geburt ausfallen, Frauen aber viel häufiger. Hätten wir wie etwa in skandinavischen Laendern Elternurlaub, den beide nehmen können, würden Frauen weniger diskriminiert.
Die USA und die Schweiz werden oft in einem Atemzug genannt als zwei der wenigen Länder, die keinen Elternurlaub kennen. Sie sind Schweizerin, leben in den USA – wie erleben Sie das?
In den USA ist es einfacher, Familie und Arbeit zu verbinden. Das hat ganz praktische Gründe: Alle Kinder sind den ganzen Tag in der Schule, während die Kinder in der Schweiz immer noch zum Mittagessen nach Hause kommen. Aber auch die Normen sind andere, weil in vielen Familien beide Eltern voll arbeiten. Das heisst, die Umwelt musste sich auch an diese neuen Normen anpassen. Es gibt also keine Kindergeburtstage unter der Woche, es gibt keinen freien Mittwochnachmittag, es gibt keine Klavier- oder Theatervorstellung vor sechs Uhr abends. Und wer am Wochenende zum Essen einlädt, weiss, dass dann normalerweise die Kinder mitkommen. Das macht schon viel aus und erleichtert es Eltern, Familie und Beruf miteinander zu verbinden.
Wichtig für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist also auch die kulturelle Akzeptanz.
Auf jeden Fall. Möglicherweise entsteht diese Kultur dadurch, dass bei vielen Paaren beide Vollzeit arbeiten. Das heisst, wenn die Lebens- und Arbeitswelt auf eine bestimmte Art und Weise organisiert ist, passen sich die Normen an. Irgendwann ist es dann einfach nicht mehr akzeptiert, dienstags um 14 Uhr einen Kindergeburtstag zu feiern.
Bis sich die Normen einer Gesellschaft ändern, über welche Zeiträume sprechen wir da?
Es gibt eine Studie, die hier Hinweise gibt. Indien hat 1993 eine Quote eingeführt. Ein Drittel der indischen Bürgermeisterämter muss seitdem an Frauen vergeben werden. Das hat den Vorteil, dass hier zum einen die Daten sehr umfangreich sind, da es ja Hunderttausende Dörfer in Indien gibt, die diese Regelung betrifft. Zum anderen ist der Vorgang auch wissenschaftlich interessant, weil das Drittel der Dörfer zufällig ausgewählt wurde.
Was hat das zur Folge?
Es kamen nicht jene Dörfer zum Zuge, die schon Frauen in politischen Ämtern hatten, sondern es wurde per Zufall entschieden. Die Entwicklungen dort können wir jetzt mittlerweile über mehr als 20 Jahre nachvollziehen. Was man festgestellt hat: Ein Dorf, das einmal eine Bürgermeisterin hatte in diesen 23 Jahren, hat sich wenig verändert. Die Frauen, die als erste Bürgermeisterin antreten, fühlen sich selbst sehr unsicher. Die Erste zu sein, ist immer hart. Man muss sich anpassen und in seiner Umgebung bewähren. Diese Frauen wollen nicht wiedergewählt werden, werden auch nicht wiedergewählt und die Stereotypen verändern sich nicht. Interessant wird es aber, wenn Dörfer zum zweiten Mal eine Bürgermeisterin bekommen. Dann beginnen sich die Veränderungen zu zeigen, auch in den Köpfen der Dorfbewohner: Politische Führung wird auch zu einem Beruf für Frauen. Diese Dorfbewohner gaben in einer kürzlichen Umfrage zum Beispiel an, dass sie hoffen, ihre Töchter könnten Politikerinnen werden. Dieser Beruf ist jetzt für Mädchen akzeptiert. Aber die Bürgermeisterinnen sind auch Vorbilder für die Dorfbewohnerinnen, die sich dadurch zum Beispiel in den Gemeindeversammlungen mehr zu Wort melden.
Es braucht also den Gewöhnungseffekt.
Ja, es braucht ein bisschen Zeit und es braucht auch mehrere Beispiele, damit eine Gewöhnung oder Akzeptanz eintritt. Und so herum betrachtet: 20 Jahre sind eigentlich eine kurze Zeit, um eine so grosse Veränderung in der Akzeptanz von Frauen als Politikerinnen herbei zu führen.
Ein Bereich, bei dem sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der westlichen Welt noch zeigen, ist das Gehalt. Warum verhandeln Frauen offenbar schlechter?
Es stimmt, die Forschung zeigt, dass Frauen sich schwer tun, die gleiche Gehaltshöhe zu verhandeln wie Männer. Sie können aber nicht weniger gut verhandeln, vielmehr ist es weniger sozial akzeptiert, dass eine Frau es versucht. Selbstbewusstes Verhalten von Frauen wird schneller als Aggression gewertet. Das ist ein Dilemma: Frauen möchten natürlich auch lieber 500 Franken mehr verdienen als 500 weniger. Aber sie trauen sich oft nicht, das anzusprechen, weil sie Angst haben, sozial bestraft zu werden. Es spielt dabei übrigens kaum eine Rolle, ob der Vorgesetzte männlich oder weiblich ist.
Sie sind als Verhaltensökonomin ja Expertin, wie verhandeln Sie für sich?
Die erste wichtige Verhandlung war, als ich die Assistenzprofessur in Harvard angetreten habe. Da habe ich den Vertrag genau so angenommen, wie er mir vorgelegt wurde.
Es ist Ihnen also ähnlich gegangen wie vielen Frauen. Irgendwie erleichternd.
Tja, so war es, das dürfen Sie auch gerne so schreiben. Ich habe mich dann natürlich geärgert, als ich mitbekommen habe, dass mehr drin gelegen hätte. Wobei ich aber sagen muss, dass der Vertrag glücklicherweise nicht total unfair war. Nichtsdestotrotz, ich hätte verhandeln können.
Hat sich Ihr Vorgehen seitdem verändert?
Ich habe das Thema dann für mich vertieft, auch als Verhaltensökonomin eine Vorlesung dazu gegeben. Meine zweite wichtige Verhandlung bin ich ganz strategisch angegangen, da ging es um mein Ordinariat in Harvard. Ich habe mein Dilemma im Gespräch mit dem Dekan offengelegt. Ich sagte zu ihm, ich wolle kompetitiv bezahlt werden und wisse zugleich, dass ich laut Forschung nicht verhandeln dürfe, weil er mich dann nicht mehr mögen würde. Ich weiss nicht, wie gut das für andere funktioniert, aber da ich mich in einem Umfeld von Wissenschaftlern bewege, hat das gut geklappt. Geholfen hat sicherlich auch, dass ich noch ein Alternativangebot von einer anderen renommierten Universität hatte.
Sie waren später selbst für drei Jahre Dekanin der Harvard Kennedy School und damit verantwortlich für die Einstellung von Professoren. Wie haben Sie als Vorgesetzte die Gehälter verhandelt?
Auf der anderen Seite des Tisches zu sitzen, war auch interessant. Eine der ersten Professorinnen, die ich angestellt habe – eine sehr berühmte – hat meinen ersten Vorschlag akzeptiert, ohne zu verhandeln. Und natürlich macht man nicht seinen besten Vorschlag schon am Anfang. Ich bin dann in mich gegangen und habe schliesslich von mir aus meine Offerte noch einmal verbessert, damit ich sie nicht diskriminiere. Aber wie viele Personalverantwortliche machen das schon?
Und es ist ja auch nachvollziehbar, dass sie es nicht machen.
Na ja, es kann gut auch im Interesse der Organisation sein. Lohntransparenz ist ein immer wichtigeres Thema und wird in verschiedenen Ländern, auch in den USA, zunehmend auch von der Regierung vorgeschrieben. Ausserdem reden Leute miteinander. Wer später herausfindet, dass er oder sie unfair behandelt wurde, wird weniger motiviert arbeiten. Wir müssen in den USA zum Beispiel gemeinsam Forschungsanträge für Drittmittel stellen, die unsere Professuren für drei Monate des Jahres finanzieren. Dafür müssen die Professoren und Professorinnen auch ihre Gehälter offenlegen. Wenn ich dann sehe, dass ich im Vergleich schlechter abschneide, wird das doch meine Leistungsbereitschaft dämpfen und die Loyalität zum Arbeitgeber beeinflussen. Das sollten Unternehmen auch bedenken, denn so kann Ungleichbehandlung auch ökonomisch Schaden anrichten.
*Iris Bohnet lehrt als einzige Schweizer Professorin an der Harvard Kennedy School. In Emmen geboren, ging sie nach ihrem Doktorat in die USA. Die Verhaltensökonomin forscht aktuell zu geschlechtsspezifischen Vorurteilen, dazu erschien im Frühjahr 2016 der Titel «What works: Gender Equality by Design».