Ein Schwarzer Montag an den Börsen, der tiefste Kurssturz seit 1987, ein übertriebener Hype der künstlichen Intelligenz, Warren Buffett verkauft die Hälfte seiner Apple-Aktien, das Ende des Goldenen Zeitalters der Technologie scheint vorbei, Zinssenkungen kommen nicht so schnell wie erhofft, im Nahen Osten droht ein Krieg zwischen Iran und Israel. Die Investoren und Investorinnen sehen ein, dass sie halb blind leeren Versprechungen gefolgt sind und ihre Augen vor der Wirklichkeit verschlossen haben.
Binnen weniger Stunden schoss der Volatilitätsindex VIX – ein Mass für Angst und Verunsicherung an den Börsen – auf ein Niveau wie zuletzt in der Corona-Pandemie hoch. Ein Ausdruck dafür, dass private und institutionelle Anlegerinnen und Anleger auf der ganzen Welt fluchtartig von Aktien ins Bargeld flüchteten. Warren Buffett hatte es ihnen vorgemacht: Nach Jahren immenser Buchgewinne mit Apple-Aktien war es für Berkshire Hathaway nun an der Zeit, die Hälfte der Gewinne mitzunehmen und als Bargeld auf der Seite zu parken. Cash is King – auch jetzt scheint Buffett die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. 277 Milliarden Dollar Cash liegen jetzt auf Berkshires Konten.
Doch ist es richtig, aus Technologieaktien zu fliehen und den Börsen den Rücken zu kehren? Drei Gründe, die dagegen sprechen:
Der Gastautor
Christoph Keese ist ein Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin sowie Verwaltungsratspräsident von World.Minds. Der Autor von sechs Büchern schreibt monatlich auch in der «Handelszeitung».
Erstens: Buffetts halbe Abkehr von Apple hat weniger mit dem Technologieunternehmen zu tun als mit Berkshire Hathaway selbst. Zu dessen Geschäftsmodell gehört es, früh in gute Werte zu investieren und ihnen dann lange treu zu bleiben. Genau das hat Buffett bei Apple getan. Irgendwann muss ein Anleger wie Berkshire Gewinne realisieren, um mit dem verdienten Geld dann neue Langzeitwetten zu wagen. Dies darf nicht missverstanden werden als Aussage zur Marktgängigkeit der neuen iPhones oder der Computerbrille Vision Pro. Apple kann und wird sicherlich nicht mehr so stürmisch wachsen wie in früheren Jahren. Aber das macht es noch lange nicht zum schlechten Unternehmen. Apple ist immer noch eine ziemlich sichere Bank.
Zweitens: Künstliche Intelligenz steht auf dem oberen Scheitelpunkt des Hype Cycle, wie ihn das Marktbeobachtungsinstitut Gartner ermittelt und veröffentlicht. Doch Hype ist nicht das Gleiche wie Wertlosigkeit. Auf den Hype Cycle folgen nach Gartners Definition das Tal der Enttäuschung, der Pfad der Erleuchtung und das Plateau der Produktivität. Auch die künstliche Intelligenz wird dieses Plateau erreichen. Nicht jede Firma und nicht jedes Produkt kommen dort an, doch der positive Effekt dieser Technologie auf die weltweite Wirtschaft wird überwältigend stark ausfallen. Künstliche Intelligenz jetzt für prinzipiell überschätzt zu erklären, wäre ungefähr so, als hätte man zu Beginn der Dotcom-Krise dem Internet als Basistechnologie abgeschworen. Wer so dachte und handelte, dem gingen Jahrzehnte der Wertschöpfung durch einen bislang ungekannten Produktivitätsschub verloren.
Drittens: Selbst wenn künstliche Intelligenz jetzt überbewertet sein sollte, bedeutet dies nicht das Ende einer Ära ständiger Erneuerung und Produktivitätssteigerung durch technische Innovation. Dutzende neuer Grundlagentechnologien erscheinen am Horizont, und viele von ihnen werden riesige neue Märkte erschliessen. Nur einige Beispiele: die Besiedlung und Industrialisierung des Mondes, mRNA-Impfstoffe gegen Krebs, Kernfusion, Pufferbatterien zur Zwischenspeicherung von Strom aus Wind und Sonne, Elektromobilität, Quantenkryptografie oder neue medizinische Therapien durch besseres Verständnis von Molekülen mithilfe von künstlicher Intelligenz.
Wissenschaft und Technologie beschleunigen ihren Gang, statt ihn zu verlangsamen. Solange dies der Fall ist, kommt die Ära der Innovation nicht an ihr Ende. Korrekturen übertriebener Hypes gehören zum Geschäft. Sie sind genau das: Korrekturen – nicht mehr und nicht weniger.