Wie ordnen Sie die Situation des Schweizer Vorsorgesystems ein?
Veronica Weisser: Im internationalen Vergleich lag die Schweiz lange im Spitzenfeld. Wir sind in den letzten Jahren zurückgerutscht und liegen jetzt im oberen Mittelfeld. Andere Länder haben deutlich weitgehendere Reformen umgesetzt als wir.
Welche Reformen sprechen Sie an?
Die zwei Hauptthemen sind die Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung und die Höhe der versprochenen Renten in der zweiten Säule - also die notwendige Reduktion des Umwandlungssatzes.
Im Endeffekt gibt es auch die Leidtragenden unter diesem Reformstau?
Die Jungen sind die Leidtragenden. Der Grossteil dessen, was der Sozialstaat auszahlt, wird im Rentenalter ausgezahlt. Eine Einzelrente der AHV hat einen Gegenwartswert von mehr als 600'000 Franken. Eine durchschnittliche AHV-Rente hat einen Gegenwartswert von ungefähr einer halben Million Franken. Im Rentenalter bezieht man im Durchschnitt zusätzlich ungefähr 200'000 bis 400'000 Franken an Gesundheits- und Pflegeleistungen über Umlagen, die die Erwerbstätigen finanzieren. Eine durchschnittliche Person, die heute in Rente geht, kann erwarten insgesamt 700'000 bis 1 Million Franken vom Staat zu erhalten, langlebige Personen sogar bis 2 Millionen Franken. Dies ist deutlich mehr als frühere Rentnergenerationen vom Staat bezogen haben, weil heutige Rentnerinnen und Rentner länger leben.
«Wir müssten im Durchschnitt für zwei Leute drei Kinder haben.»
Was ist das Kernproblem?
Diese Systeme haben wir aufgebaut, als es noch weniger Rentner und eine tiefere Lebenserwartung gab. Und viele Kinder - die Babyboomer - haben dies bezahlt. Die Babyboomer haben sich in der Etablierung dieses Systems das Versprechen gemacht, dass sie diese Leistungen ebenfalls kriegen würden. Nur hat diese Generation nicht die notwendigen Kinder gehabt. Zusätzlich erhalten sie die Leistungen über mehr Jahre. Wir versprechen uns heute, dass wir im Durchschnitt einer Generation zweieinhalb mal so viel aus der AHV ausgezahlt bekommen werden, als wir als Generation eingezahlt haben. Das hört sich im ersten Augenblick ganz nett an, aber wir müssten im Durchschnitt für zwei Leute drei Kinder haben. In den letzten 40 Jahren hatten wir nur 1,5 Kinder.
Was ist die Konsequenz für zukünftige Generationen?
Das Problem wird auf die Kindergeneration abgewälzt. Die Kinder werden viel mehr einzahlen oder viel länger arbeiten, um das zu finanzieren, was sich andere Generationen versprochen haben.
Gleichzeitig droht Menschen in der Schweiz die Altersarmut. Was läuft hier schief?
Dies ist eine verzerrte Wahrnehmung: Etwa 2 Prozent der Rentner leiden an einer sogenannten materiellen Entbehrung. Diese Quote ist viel tiefer als bei allen anderen Bevölkerungsgruppen. Bei den Kindern liegt dieser Wert bei 8 Prozent, bei den Erwachsenen bei 5 bis 6 Prozent. Aber die Erwartung ist tatsächlich, dass die jüngeren Generationen in Zukunft mehr an Altersarmut leiden werden. Dies sind diejenigen Generationen, die bereits jetzt mehr an Armut leiden.
Die heutige Generation von Rentnerinnen und Rentner bekommen ja auch Transferzahlungen über Ergänzungsleistungen…
Die Ergänzungsleistungen zielen darauf ab, dass niemand im Rentenalter eine materielle Entbehrung erleiden soll. Dies ist eine Armutsabsicherung, die für die unter 65-Jährigen in dieser Form nicht besteht. Eine Person mit sehr tiefem Einkommen oder ein Sozialhilfeempfänger ist vor 65 schlechter gestellt als danach. Armut ist als Konsequenz anders definiert im Alter als in jungen Jahren.
«Unser Vorsorgesystem ist auf ein klassisches Männerleben ausgerichtet.»
Inwiefern sind Frauen in der Schweizer Altersvorsorge schlechter gestellt?
Wenn wir Single-Frauen mit Single-Männern ohne Kinder vergleichen, dann haben sie gleich hohe Renten. Es existiert vielmehr ein Care-Thema: Wer reduziert die Arbeitsleistung, um auf die Kinder oder die Eltern aufzupassen? Dies trifft viele Mütter, die ihr Pensum reduzieren und dadurch in der Altersvorsorge schlechter gestellt sind.
Ist das Care-Thema ein Gender-Thema?
Unser Vorsorgesystem ist auf ein klassisches Männerleben ausgerichtet - das heisst über das gesamte Leben Vollzeit zu arbeiten. Sind Kinder da und wird deswegen das Pensum reduziert, dann führt dies zu weniger Rente. Das kann Mütter und Väter betreffen.
Wie muss ich das verstehen?
Wenn eine unverheiratete Mutter teilweise oder gar nicht arbeitet, hat sie in der AHV keine oder sehr reduzierte Ansprüche. Ist sie verheiratet, erhält sie in der Regel dank dem arbeitenden Ehemann den gesamten 'AHV-Punkt' für das Jahr. Im Konkubinat verliert sie pro Jahr, in dem sie nicht erwerbstätig ist, ein vierundvierzigstel der Rente. Nach 4 Jahren hat sie eine Renteneinbusse von circa 10 Prozent.
Wie kann hier eine Lösung gefunden werden?
Heiraten ist eine pragmatische Lösung. Unverheiratete können sich vertraglich mit Ausgleichszahlungen absichern, was aber viel kostet. Das machen die meisten dann doch nicht, weil es heute sehr ins Geld gehen würde, wenn eine Gleichstellung für das Rentenalter wie in der Ehe erreicht werden soll.
Heiraten löst alle Probleme?
Bei einem verheirateten Paar ist vielleicht im ersten Schritt noch alles gut. Die AHV wird der zuhause bleibenden Person angerechnet und in der zweiten Säule gibt es das Splitting. Wir sehen aber häufig, dass es über die Zeit zur Trennung kommt - bei 40 bis 50 Prozent der Ehen. Eine Person hat dann je nachdem einen sehr hohen Lohn bis zur Pensionierung und die andere Person muss mit einem Lohn von 2000 bis 4000 Franken auskommen. Diese Situation führt bei einer Scheidung dann wieder zu einer Schlechterstellung jener Person, die im Berufsleben kürzer getreten ist.
Was sollen junge Schweizerinnen und Schweizer machen, um sorglos in das Pensionsalter zu gehen? Welche Schritte sind wichtig?
Etwas ist nie falsch und ist einfach umzusetzen: Automatisiert monatlich mit einem hohen Aktienanteil diversifiziert anzulegen - letzteres zumindest, wenn man noch unter 50 Jahren ist. Im Idealfall sind dies 10 bis 15 Prozent des Lohnes, aber auch 5 Prozent sind ein guter Start. Auch die Profis der Finanzwelt machen das so. Und ganz generell, sich um die eigene Altersvorsorge kümmern und in jedem Lebensabschnitt immer wieder prüfen.
Was sind die grössten drei Fehler, die Alterssparende machen können?
Ein erster Fehler besteht darin, nichts zu tun. Der zweite Fehler ist, nicht in Aktien diversifiziert anzulegen. Der dritte Fehler ist, nicht genügend lange in Aktien anzulegen.
Worin liegt der Vorteil beim Aktiensparen gegenüber dem herkömmlichen Sparkonto?
Wenn man mit 20 beginnt diversifiziert in 100 Prozent Aktien über die ganz lange Frist anzulegen, dann hat man mit einer jährlichen Aktienrendite von 6 Prozent doppelt so viel Vermögen am Ende des Erwerbslebens, als wenn man mit 30 angefangen hätte. 10 Jahre Differenz machen 100 Prozent beim Vermögen aus. Hier sieht man exemplarisch, wie der Renditeeffekt wichtig ist über diese langen Zeiträume. Und wenn man nicht in Aktien anlegt, muss man vom Betrag her dreimal so viel sparen, um am Ende gleich viel zu haben.
Momentan hat man auf dem Sparkonto auch real einen negativen Zins, da die Inflation höher als die von den Banken gebotenen Nominalzinsen ist…
Inflation ist der stille Feind. Viele merken nicht, dass die Inflation über 40 bis 50 Jahre ihnen die Hälfte ihres Vermögens wegfrisst.
Dr. Veronica Weisser ist Ökonomin, Leiterin des UBS Vorsorge Innovation Hubs und Fellow des UBS Sustainability and Impact Institute.
Inwiefern betrifft die Teuerung die AHV?
Die AHV wird über den Mischindex angepasst. Dieser besteht aus der Lohnentwicklung einerseits und der Preisentwicklung andererseits. Doch die Löhne steigen im Durchschnitt deutlich stärker als die Preise, so dass die AHV über die Jahre mehr als die Inflation wächst. Die Kaufkraft der AHV über die Zeit nimmt daher zu.
Warum ist die Inflation insbesondere ein Thema für die Pensionskassen?
Die zweite Säule ist nicht darauf ausgerichtet, inflationsangepasste Renten anzubieten. Der erste Tag der Rente ist der Tag, an dem die Kaufkraft der Rente am höchsten ist. Zumindest gilt dies für diejenigen, die viel aus der Pensionskasse erhalten. Die Kaufkraft derjenigen, die nur AHV haben, steigt über die Zeit.
Was bedeutet dies für den Altersabend?
Die privaten Ersparnisse müssen vor allem für die späteren Rentenjahre bewahrt bleiben.
Was bedeutet dies für das Anlegen?
Da die privaten Anlagen etwa ab dem Alter 80 gebraucht werden, kann man gut bis 70 und darüber hinaus investiert bleiben. Ein grosser Fehler ist es, dass mit der Pensionierung viel zu schnell die Anlagen aufgelöst werden - statt zu erkennen, dass der Anlagehorizont weit in das Rentenalter ragen sollte.
«Praktisch für jeden ist es das Beste, in die Säule 3a zu investieren.»
Was halten Sie von der Strategie, auf das Alter hin als Absicherung eine Wohnung zu kaufen?
Die Wohnung sollte altersgerecht sein. Auch ist es wichtig, dass man diese bis zur Pensionierung ausreichend abzahlen kann. Wenn das Wohneigentum einen grossen Teil am Vermögen ausmacht, besteht keine Flexibilität mehr. Zudem hat man ein Klumpenrisiko, falls Schäden an der Wohnung auftreten. Dann braucht es eine gewisse finanzielle Stärke, um solche Risiken verkraften zu können. Es ist daher oftmals ein Trugschluss zu glauben, dass Wohneigentum Sicherheit bietet. Auch sind die derzeit immer noch tiefen Zinsen trügerisch: Wenn man die Hypothek spätestens in 10 oder 15 Jahren refinanziert, können diese viel teurer sein.
Säule 3a: Was empfehlen Sie dort?
Die Zielvorstellung ist, dass man möglichst früh mit der Säule 3a startet und diese Teile der Vorsorge bis ins hohe Alter unangetastet investiert lässt. Zudem sollte man zur Steueroptimierung mehrere 3a-Konten eröffnen.
Ist es für jeden das Richtige?
Praktisch für jeden ist es das Beste, in die Säule 3a zu investieren. Man braucht aber zuerst ein finanzielles Liquiditätspolster. Denn das investierte Geld ist bis zum Rentenalter nicht zugänglich - und das ist ja auch der Sinn der Altersvorsorge.
Warum empfiehlt sich fast für jeden ein 3a-Investment?
Das liegt am Steuervorteil der 3a-Vermögen. Damit erreicht man eine höhere Nettorendite als mit anderen Anlagen.
Renten oder Kapitalbezug in der zweiten Säule: Was soll man machen?
Abgesehen von individuellen Überlegungen gibt es einen Ausgangspunkt für diesen Entscheid: Die AHV und die zweite Säule Rente sollen die minimalen Lebenshaltungskosten abdecken. Den Rest kann man als Kapital beziehen. Der Vorteil, nicht zu viel Rente aus der zweiten Säule zu nehmen, ist die Besteuerung. Kapital zu beziehen, wird in den meisten Fällen tiefer besteuert als Renten. Der Vorteil liegt also beim Kapital. Trotzdem macht es für viele Sinn, eine Basis in Form von Renten als Sicherheit zu haben.
Ein Traum vieler Menschen ist in der Schweiz die Frühpensionierung. Ein Fehler?
Frühpensionierung ist teuer. Wenn man drei Jahre früher in den Ruhestand geht, hat man schnell eine um ein Drittel tiefere Rente aus allen drei Säulen zusammen. Ich empfehle eher, das Pensum zu reduzieren und schrittweise in Rente zu gehen. Dies ist auch steuertechnisch attraktiver und für die Gesundheit besser. In der zweiten Säule kann man so Teilbezüge des Kapitals vornehmen, was sich steuerlich auszahlt.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Cash.ch unter dem Titel «Viele merken nicht, dass die Inflation während 40 bis 50 Jahre die Hälfte des Vermögens wegfrisst».
2 Kommentare
Wir mussten auch die Pension unserer Väter tragen,die erst 1972 obligatorisch wurde!
Wie wäre es wenn die Dame auch einmal über die abzokke der Bank- und anderen Gebühren bezüglich der Verwalteten Gelder sprechen würde. Wieviele Milliarden kostet das?