Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat jüngst ihren globalen Wirtschaftsausblick veröffentlicht. Dazu werden Daten für die 45 wichtigsten Volkswirtschaften analysiert und prognostiziert. Wissen Sie, welchem Land für das Jahr 2019 der grösste Aussenwirtschafts-Überschuss prognostiziert wird? Der Schweiz. Hier sollen im Umfang von 10 Prozent des Volkseinkommens mehr Waren und Dienstleistungen exportiert als importiert werden. Das ist aussergewöhnlich – in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst müssen wir realisieren, dass nur etwa die Hälfte aller Länder überhaupt einen Überschuss schreiben. Im Schnitt sind diese sogenannten Leistungsbilanzen ausgeglichen. Wir Ökonomen nennen diesen Zustand ein Gleichgewicht. In einem marktorientierten Weltwirtschaftssystem sollte das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage über den Wechselkursmechanismus dazu führen, dass gleich viel exportiert wie importiert wird.
So führt ein Überschuss in unserer Leistungsbilanz dazu, dass wir gegenüber dem Ausland für die verkauften Waren und Dienste mehr Forderungen erhalten als umgekehrt. Werden diese Forderungen in Franken umgetauscht oder beglichen, resultiert eine Mehrnachfrage nach unserer Währung. Die Währung wird stärker, die Exporte werden teurer und die Importe billiger. In der Theorie verschwindet so der Leistungsbilanzüberschuss.
Klaus Wellershoff ist Ökonom und Verwaltungsratspräsident des Beratungsunternehmens Wellershoff & Partners. Er war zuvor zwölf Jahre Chefökonom des Schweizerischen Bankvereins beziehungsweise der UBS. Er unterrichtet Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.
In der Praxis funktioniert das nicht immer. Insbesondere dann nicht, wenn die Forderungen nicht umgetauscht werden sollen. So konnte die Schweiz über viele Jahre hinweg einen grossen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaften, weil die Schweizer mit dem Forderungszuwachs gegenüber dem Ausland zufrieden waren und das Geld nicht umtauschten. Stattdessen wuchs unser Auslandsvermögen.
Nur so war die Erfolgsstory unserer multinationalen Unternehmen möglich. Nur so konnten wir international diversifizierte Anlagen in unseren Pensionskassen und übrigen Vermögen aufbauen.
Dieser Hunger nach Zuwachs im Auslandsvermögen scheint seit der Finanzkrise gestillt. Ein Blick in die Kapitalverkehrsbilanz macht deutlich, dass sich seit gut zehn Jahren das Verhalten der Schweizer geändert hat. Statt die Zunahme des Auslandsvermögens zu akzeptieren, wurden die erworbenen Forderungen in Franken getauscht. Die Mehrnachfrage nach Franken, die uns in dieser Zeit einen starken Aufwertungsdruck beschert hat, kommt praktisch ausschliesslich von uns selbst. Von ausländischen Fluchtgeldern kann keine Rede sein.
«Hinter dieser Politik scheint der Glaube zu stehen, dass für uns die marktwirtschaftlichen Kräfte der Aussenwirtschaft nicht gelten oder nicht gelten sollten.»
Und dennoch hat sich der Leistungsbilanzüberschuss nicht abgebaut. Wie kann das sein? Ganz einfach: Weil die Nationalbank in die Bresche gesprungen ist und im praktisch gleichen Umfang als Gegenpartei für den Umtausch der Schweizer Franken gedient hat. Die gesuchten Franken wurden einfach gedruckt und die Devisen in der SNB-Bilanz parkiert. Am Jahresende 2009 lagen die Devisenreserven der SNB bei 94 Milliarden Franken. Heute sind wir bei 798 Milliarden angekommen. Von einer kontrollierten, kurzfristigen Aktion, die eine schockartige Aufwertung des Frankens zu verhindern hilft und für die die ganze Welt Verständnis hätte, kann schon lange nicht mehr die Rede sein.
Zufällig ist diese Politik nicht. Auch das Ausland hat uns nicht gezwungen, in diesem Umfang am Devisenmarkt zu intervenieren. Hinter dieser Politik scheint der Glaube zu stehen, dass für uns die marktwirtschaftlichen Kräfte der Aussenwirtschaft entweder nicht gelten oder nicht gelten sollten. Ein Leben mit einem vergleichbaren Leistungsbilanzüberschuss wie andere Industrienationen scheint unvorstellbar. All das scheint einen Staatseingriff von 700 Milliarden Franken zu rechtfertigen. Seltsam.