Die Digitalisierung treibt seltene Blüten. In manchen Branchen bringt sie Phänomene hervor, die in analogen Zeiten undenkbar schienen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert Künstlerin Taylor Swift. Sie revolutioniert die Musikbranche ein weiteres Mal – dieses Mal in der Art und Weise, wie Erfolg gemessen und quantifiziert wird. Damit setzt sie Massstäbe, an denen die Musikbranche wachsen, reifen oder vielleicht auch verzweifeln wird. Da die Unterhaltungsindustrie früher als jede andere Branche von der Digitalisierung erfasst wurde, darf sie als Frühindikator für Effekte gelten, die über kurz oder lang andere Wirtschaftszweige ereilen. Also lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen, was Taylor Swift in ihrer Eigenschaft als Unternehmerin gerade anrichtet.
Der Gastautor
Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt monatlich in der «Handelszeitung».
Was ist geschehen? Taylor Swift belegt derzeit die zwölf ersten Plätze der Billboard-Hot-100-Hitliste, des wichtigsten Verkaufsbarometers der Branche. Relevant ist diese Statistik, weil Billboard alle Verkaufskanäle von Streaming über Vinyl bis zu Radio-Airplay berücksichtigt und zu einem gemeinsamen Index verrechnet. Kein anderes Ranking misst die Fieberkurve der Musikwirtschaft so gut wie dieses. Eine derartige Dominanz der Hitliste hat es in der Musikgeschichte noch nie gegeben. Nie zuvor übte ein einzelner Mensch derart umfassenden Einfluss auf die Hitliste aus. Zu besichtigen ist eine Art digitales Monopol; ein Vorgeschmack auf weitere Monopole, die entstehen werden, während die Digitalisierung weiter voranschreitet. Taylor Swift als Phänomen der Kulturmonopolisierung wäre nicht denkbar ohne Streaming und digitale Plattformen.
Früher, als es nur Vinyl-Schallplatten und CDs gab, war es schier unmöglich, mehr als nur ein, zwei oder drei Plätze in den Billboard-Hot-100-Charts zu belegen. Wie hätte das auch gehen sollen? Aus Alben wurden Singles ausgekoppelt und nacheinander in den Handel geschoben. Nur selten holte eine zweite Single die erste ein, während die erste noch oben in den Verkaufscharts stand. Heute hingegen, im Streaming-Zeitalter, schreibt Taylor Swift die Regeln des Musikmarkts neu. Zwölf Songs aus ihrem neuen Album «The Tortured Poets Department» belegen die ersten zwölf Plätze der Billboard Hot 100, angeführt vom Track «Fortnight» mit Gaststar Post Malone.
Getrieben wurde das Phänomen auch durch Swifts klugen Schachzug, die Länge des Albums zwei Stunden nach Veröffentlichung unangekündigt durch das Nachschieben weiterer Songs zu verdoppeln. So überraschte sie den Markt mit einem Doppelalbum – undenkbar in analogen Zeiten. Presswerke hätten damals nie im Leben Doppelalben produzieren können, ohne dass die Nachricht durchgesickert wäre.
Mit diesem Clou machte sich Swift ein technisches Feature bei Spotify und Apple Music zunutze: Man kann eine Playlist dort nachträglich ergänzen. Künstler und ihre Labels nutzten diese Funktion bislang vor allem aus technischen Gründen. So konsequent wie Swift hat noch kein anderer Musikunternehmer davon Gebrauch gemacht. Wenn das Technik-Feature überhaupt kreativ eingesetzt wurde, dann eher schüchtern von Paul McCartney, der die berühmte blaue Beatles-Compilation «1967–1970» um den kürzlich posthum veröffentlichten John Lennon-Song «Now and Then» erweiterte.
Neben ihrer vollständigen Dominanz der Hitliste erreichte Swift fast nebenbei einen neuen Platz auf der «Allzeit-Liste»: Mit nunmehr zwölf Nummer-eins-Hits überholte sie Whitney Houston und schloss zu den Supremes und Madonna auf. Weiter ungeschlagen auf Platz eins stehen die Beatles. Niemand beherrschte die Kunst des Auskoppelns und abwechslungsreichen Komponierens so gut wie sie. Präziser ausgedrückt: Niemand konnte das bislang so gut wie Paul McCartney und Produzent George Martin (EMI). Notabene: In den Langzeit-Top-Ten stehen nur zwei Bands (Beatles und Supremes). Alle anderen sind Einzelkünstler. Sie können über ihre Strategie weit konfliktfreier entscheiden als mehrköpfige Formationen.
Nun hat Paul McCartney seine Meisterin gefunden. Heimlich war er immer schon der Band-Leader und strategische Kopf der Beatles. In den Jahrzehnten nach John Lennons Tod bestimmte er die Veröffentlichungsstrategie. Jetzt trifft Taylor Swift den Markt mit der vollen Wucht künstlerisch-unternehmerischen Wagemuts. Musikalisch kann sie es mit den Beatles zwar nicht aufnehmen. Doch strategisch läutet sie eine neue Ära ein.