The «Great Resignation» oder «The Big Quit»: Unabhängig davon, wie man es nennt, erleben Arbeitnehmende derzeit ein berufliches Erwachen und ist kein Unternehmen vor Kündigungen gefeit. Als Hintergrund für diese Entwicklung wird von internationalen Beratungsunternehmen und in Diskussionen auf Social Media-Kanälen oft die Unternehmenskultur als einer der einflussreichsten Faktoren genannt.
Fakt ist: Der Begriff «Great Resignation» wurde durch ein Pandemie-Phänomen geprägt, das 2021 zu einer noch nie dagewesenen Anzahl von Kündigungen führte. Zum Beispiel belegt die Microsoft-Work-Trend-Umfrage 2021, dass 41 Prozent der globalen Arbeitskräfte im vergangenen Jahr mit dem Gedanken spielten, ihren Arbeitgeber zu verlassen. Bis zu 54 Prozent waren es bei der Generation Z. 54 Prozent der befragten Arbeitnehmenden fühlen sich überarbeitet. 73 Prozent der Arbeitnehmenden wünschen sich, dass die flexiblen Homeoffice-Möglichkeiten beibehalten werden
Autorin:
Chloé Karam ist Head of Employee Experience Consulting in der Schweiz, Deutschland und Frankreich bei WTW.
Fachkräftemangel wird zur «Great Hire»
Die meisten Schlagzeilen übersehen die Tatsache, dass 2021 viel mehr Job-Kandidaten eingestellt wurden, als gekündigt haben, und dass sie oftmals zu einem attraktiveren Job wechselten. Deshalb wäre es korrekter, das Phänomen als «Great Hire» zu bezeichnen.
Dennoch bleiben in der Schweiz viele ausgeschriebene Stellen infolge des Fachkräftemangels unbesetzt: Vor allem IT-Spezialisten sind - auch bei Versicherern - sehr gefragt und es scheint, als ob die zunehmende Anzahl von IT-Absolventen den Bedarf immer noch nicht zu decken vermag, wie der Swiss Skills Shortage Index 2021 der Adecco Gruppe belegt.
Viele Unternehmen, einschliesslich Versicherer, buhlen mit Firmen und Branchen um Arbeitskräfte, mit denen sie in der Vergangenheit nie konkurrieren mussten. Diese Entwicklung wird durch den massiven Wandel zur Digitalisierung beschleunigt. Ein Versicherungsunternehmen steht heute auch mit Amazon oder Google im Wettbewerb um digitale Profile.
Top-Talente gewinnen und halten
Um den Fachkräftemangel zu überwinden, müssen Schweizer Arbeitgeber den «Deal», den sie Arbeitnehmenden anbieten, überprüfen.
In Erhebungen von WTW gaben 72 Prozent der Schweizer Arbeitgeber an, dass sie per Ende 2021 Schwierigkeiten hatten, Mitarbeitende zu gewinnen; 2020 waren es noch 29 Prozent. Digital qualifizierte Talente zu gewinnen, ist für 95 Prozent ein noch ernsteres Problem, und dies ist für den Versicherungsbereich besonders relevant.
In Zeiten von starkem realem und erwartetem Wachstum sind die richtigen Talente die Kernressource eines Unternehmens und das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zu Mitbewerbern. Wie kann sich ein Unternehmen angesichts der Tatsache, dass Talente mehr auf der Suche nach persönlicher Verwirklichung als nach Arbeitsplatzsicherheit sind, neu erfinden, um wieder attraktiv zu werden?
Es scheint, als ob Schweizer Arbeitgeber bereit wären, einen Kulturwandel zu vollziehen: 81 Prozent im Gegensatz zu 50 Prozent in Europa sehen nach der WTW-Umfrage einen Bedarf, in den nächsten drei Jahren ein stärker auf den Menschen ausgerichtetes und zielgerichtetes «Mitarbeitererlebnis» zu schaffen.
Der notwendige Wandel in der Unternehmenskultur
Eine Unternehmenskultur, die auf Mitarbeitende ausgerichtet ist, besteht aus verschiedenen Schlüsselelementen:
- Flexibilität und Wohlbefinden werden als Wettbewerbsvorteile betrachtet. Dies kann durch eine vorbildliche Führung und Unterstützung, eine durchdachte Umsetzung von Massnahmen zur Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion sowie durch Unterstützung der Mitarbeitenden erreicht werden. Entscheidend ist die nachhaltige Umsetzung in die Praxis durch gefördertes Managementverhalten, Richtlinien und Mitarbeiternetzwerke.
- Wichtig ist eine moderne Definition und Personalisierung von Leistungen. Dies wird nun wichtiger denn je sein, da Bezahlung und Leistungen ein Hauptgrund für eine Kündigung sind, belegt der Employee Experience Stress Test von WTW (2021).
- Die Führung ist laut WTW ebenfalls ein Hauptfaktor für die Bindung und Gewinnung von Mitarbeitenden: In einer neuen Rolle als Coaches ist es ihre Aufgabe, Mitarbeitende zu inspirieren, Sinn und Vertrauen zu schaffen. So lässt sich der kulturelle Wandel in einer hybriden Welt vorantreiben.
Erfolgreich die Nase vorn haben
Ergebnisse aus Mitarbeiterumfragen und weitere Daten zur «Employee Experience» sollten in die Unternehmensstrategie einfliessen. Unternehmen, die zuhören und entsprechende Massnahmen ergreifen, welche die Mitarbeitenden zum Bleiben und Vorankommen motivieren, haben auf einem wettbewerbsintensiven Arbeitsmarkt die Nase vorn. Der Aufbau und die Förderung einer Unternehmenskultur und einer Arbeitgebermarke rund um Wohlbefinden, Inklusion und inspirierende Führungskräfte sind in der Tat die effektivste Zutat, um die Grosse Resignation in eine Talent- und Rekrutierungsoffensive zu verwandeln.