Sie sind seit 22 Jahren in der Ombudsstelle und seit 14 Jahren Ombudsman. Was hat sich in dieser ganzen Zeit aus Ihrer Sicht verändert?

In meiner Anfangsphase hatten wir vor allem Lebensversicherungsfälle, die im Vordergrund standen. Es handelte sich dabei in erster Linie um Fondspolicen mit nicht garantierten Leistungen im Erlebensfall. Diese brachten viele Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Beratung bei Vertragsabschluss mit sich. Das hat sich zum Glück geändert. Zum einen gibt es diese Produkte nicht mehr so häufig, zum anderen hat sich auch die Beratungsqualität bei den Versicherungsgesellschaften deutlich verbessert - das muss ich klar positiv hervorheben. 

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Zur Person

Martin Lorenzon ist seit 2010 Ombudsman für Privatversicherungen und die Suva. 

Die Ombudsstelle wurde 1972 durch den Schweizerischen Versicherungsverband (SVV) in Form einer Stiftung ins Leben gerufen. Anfang 2002 ist ihr die Suva als grösster schweizerischer Unfallversicherer beigetreten. Heute arbeiten alle wichtigen, in der Schweiz tätigen Privatversicherer und die Suva mit der Ombudsstelle zusammen.

Die Versicherten sind generell fordernder geworden und schneller unzufrieden.

Heute sehen wir eine deutliche Zunahmen bei Beschwerden rund um Personenversicherungen - vor allem in den Bereichen Krankentaggeld und obligatorische Unfallversicherung nach UVG. Diese machen mittlerweile mehr als die Hälfte unserer Fälle aus. Es gibt eine starke Zunahme von psychischen Erkrankungen und damit verbundenen Arbeitsunfähigkeiten. Das ist ein relativ neues Phänomen und Corona spielt hier sicherlich auch noch rein. Was ich zudem feststelle: Die Versicherten sind generell fordernder geworden und schneller unzufrieden.

Welche Rolle spielen die sozialen Medien diesbezüglich und welchen Einfluss hat das auf Ihre Arbeit? 

Es ist auffallend, dass ein grosser Teil der Versicherten weniger mündlich kommunizieren möchte. Vieles läuft also über elektronische Medien ab. Das bedeutet: Man spricht weniger miteinander, es ist unpersönlicher - wobei ich der Überzeugung bin, dass sich in einem grossen Teil der Fälle viele Probleme in einem persönlichen Gespräch ganz einfach klären liessen. Hier nehme ich aber auch die Versicherer in die Pflicht, die aus Effizienzgründen immer stärker auf künstliche Intelligenz setzen und Versicherungsfälle digital bearbeiten. Das mag aus Kostengründen interessant sein. Aber wenn Versicherte bei Beschwerden keine persönliche Ansprechperson mehr haben oder diese häufig wechselt, dann ist das keine gute Entwicklung und bietet Raum für noch mehr Unmut. Bei einem Problem eine feste Kontaktperson zu haben, wirkt in den meisten Fällen schon in einem frühen Stadium deeskalierend.  

Das sehe ich ja auch bei uns in der Ombudsstelle, wo eine Vielzahl der Anfragen bereits mit dem ersten Telefonat erledigt werden können. Zudem sind wir offen und transparent, alle Mitarbeitenden sind auf der Homepage aufgeführt.  

Bei einem Problem eine feste Kontaktperson zu haben, wirkt in den meisten Fällen schon in einem frühen Stadium deeskalierend.

Zurück zu den Personenversicherungen. Da geht es in der Regel auch um hohe Summen und das Feld ist sehr komplex…

Das stimmt, es gibt neben der Zunahme der Personenversicherungsfälle bei der Ombudsstelle immer wieder auch Anfragen und Beschwerden im Zusammenhang mit Prämienerhöhungen im Krankentaggeld-Bereich. Das hängt damit zusammen, dass gerade Krankentaggeldversicherer sich nicht in einer Komfortzone bewegen, weil auch die Schadenzahlungen, die sie machen müssen, sehr hoch sind. Und im UVG-Bereich ist es natürlich so, dass Versicherte bezüglich der Heilungskosten keinen Selbstbehalt, keine Franchise haben. Deshalb haben die Versicherten natürlich ein Interesse daran, dass beispielsweise eine Sportverletzung als Unfallversicherungsfall abgewickelt werden kann. Allerdings deckt sich der rechtliche Unfallbegriff nicht immer mit dem Unfallbegriff im allgemeinen Sprachgebrauch, so dass es diesbezüglich zu einigen Beschwerden kommt. 

Verstecken sich die Versicherungsgesellschaften da nicht auch häufig einfach hinter ihren Paragraphen? 

Bei den Begründungen der Ablehnungen, gerade durch die UVG-Versicherungen, besteht sicherlich noch viel Potenzial nach oben. Häufig erhalten die Versicherten Standardbriefe, die nur schwer verständlich sind. Da steht dann drin, dass der Unfallbegriff nicht erfüllt ist oder die Kausalität zwischen den heutigen Beschwerden und dem Unfall fehlt - also wird nicht gezahlt. Was ich immer wieder feststelle: Häufig nehmen die Versicherer nicht einmal Bezug auf den konkreten Sachverhalt, der sich ereignet hat. Das wirft völlig verständlicherweise Fragen auf, gerade weil die Versicherten in der Regel nicht juristisch geschult sind. Spätestens hier sollte es also reale Kontaktpersonen auf Seiten der Versicherungen geben, die einem bei Fragen zur Seite stehen. Im persönlichen Gespräch können komplexe Sachverhalte besser und einfacher erklärt werden, als mit einem Brief, der oft nicht einmal persönlich unterschrieben ist. 

Häufig erhalten die Versicherten Standardbriefe, die nur schwer verständlich sind.

Wie kann die Ombudsstelle da unterstützen? 

Einfache Anfragen wie zum Beispiel die Kündigung einer Motorfahrzeugpolice klären wir schnell mit den Versicherten ab. Bei etwas komplexeren Fällen geben wir durchaus den ein oder anderen Tipp, welche Fragen an den Versicherer gestellt werden könnten. Oder dass bei Ablehnung eine begründete schriftliche Stellungnahme angefordert werden soll, die wir dann genauer anschauen können.  

Wie erfahren Versicherte überhaupt, dass es eine Ombudsstelle gibt? 

Auf der einen Seite verweisen die Versicherungsgesellschaften häufig auf uns, wenn sie im Austausch mit ihren Kundinnen und Kunden nicht mehr weiterkommen. Das gleiche gilt für Konsumentenorganisationen und -zeitschriften, wenn Beschwerden bei ihnen reinkommen. Aber auch staatliche Stellen wie Gemeinden haben - wenn es um Krankentaggeld geht - ein Interesse daran, dass Fälle über die Ombudsstelle gütlich geregelt werden, da sich dann in einigen Fällen Sozialhilfeleistungen vermeiden lassen. Auf der anderen Seite verschicken wir Flyer beispielsweise an gemeinnützige Institutionen mit entsprechenden Informationen, um auf unsere Leistungen aufmerksam zu machen. Zudem schadet ein wenig mediale Öffentlichkeitsarbeit natürlich auch nicht dem Bekanntheitsgrad… 

Sind Sie für Versicherer nicht manchmal auch wie ein Stachel im Fleisch?

Nein, das würde ich nicht sagen. Wir sehen uns als Partner beider Seiten - Versicherte und Versicherungen. Sehen Sie: Fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung hat eine Rechtsschutzversicherung - die andere Hälfte aber eben nicht. Und die haben dann häufig auch nicht das Geld und die Mittel, einen Anwalt zu bezahlen und den Rechtsweg zu beschreiten. Für diese Personen ist der Zugang zum Recht über eine Ombudsstelle sehr wichtig. Denn es ist oft die einzige Chance, überhaupt Rechtsbeistand zu bekommen. So helfen wir, das Wissens- und Machtgefälle auszugleichen und leisten damit einen wichtigen Beitrag. 

Für mich ist es aber genauso wichtig, gute Beziehungen zu den Versicherungen zu pflegen. Deshalb führe ich regelmässig Jahresgespräche mit einigen CEOs und rede auch über Themen, die nichts mit dem Tagesgeschäft zu tun haben. Insofern bietet die Ombudsstelle auch den Versicherern einen Mehrwert, indem wir ihnen sagen, wo wir bei ihnen noch Verbesserungspotenzial sehen. Häufig deckt sich das mit ihren eigenen Einschätzungen und führt immer wieder dazu, dass unsere Empfehlungen tatsächlich umgesetzt werden. 

Wir sehen uns als Partner beider Seiten - Versicherte und Versicherungen.

Es gibt also keine Interessenkonflikte?

Nein. Auf der Ombudsstelle sind wir alle Angestellte, wir beziehen unseren Lohn von der Stiftung. Das Budget wird durch den Stiftungsrat festgelegt. Das sind sechs aktive oder ehemalige Mitglieder der Bundesversammlung aus verschiedenen politischen Parteien und zwei Branchenvertreter. Das gewährleistet unsere Unabhängigkeit. Wir müssen uns am Recht orientieren und sind absolut weisungsungebunden. 

Was erwarten Sie für die nächsten Jahre?

Was mich erst einmal freut ist die Tatsache, dass vor allem die grossen Versicherer ihr Beschwerdemanagement in den letzten zehn Jahre professionalisiert haben. Sie holen viel mehr unzufriedene Kundinnen und Kunden selber ab, als das früher der Fall war. Das ist sicher eine gute Entwicklung und deshalb erwarte ich auch nicht, dass die Anzahl der Beschwerden bei uns ständig zunehmen wird. Mit Blick in die Zukunft: Es ist wichtig, dass neben der künstlichen Intelligenz ab einer gewissen Eskalationsstufe immer noch Menschen da sind, die sich auf Versicherungsseite mit diesen Fällen befassen. Das ist aus meiner Sicht ganz wichtig.

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Was begeistert Sie an Ihrem Job?

Ich helfe gerne Menschen in schwierigen Situationen - dieses Credo gilt für uns alle hier auf der Ombudsstelle. Bei uns ist der Erfolg nicht in Zahlen ausgedrückt - sondern in gütlichen Lösungen, die wir für beide Parteien erreichen können. Das ist sehr befriedigend. 

Ich habe ganz selten Fälle, die mich noch belasten, wenn ich aus dem Büro gehe. 

Sie haben den ganzen Tag mit Beschwerden zu tun. Wie schaffen Sie es, positiv zu bleiben? 

Es gibt ja zum Glück viele Menschen, denen wir mit unserer Arbeit helfen konnten. Dann gibt es als Anerkennung als Geschenk manchmal auch ein Fläschchen Wein oder ein Schöggeli. Zudem haben wir eine sehr konstruktive Arbeitsatmosphäre bei uns auf der Ombudsstelle - das Umfeld ist also positiv. Und bei schwierigen Fällen, die einem vielleicht sogar persönlich nahe gehen, muss man sich auch abgrenzen können, was mir gut gelingt. Ich habe jedenfalls ganz selten Fälle, die mich noch belasten, wenn ich aus dem Büro gehe.