Künstliche Intelligenz generell, ChatGPT im Besonderen sowie «Industrie 4.0» waren die wichtigsten Themen, über die Firmenchefs im ersten Quartal dieses Jahres an ihren Telefonkonferenzen mit Investorinnen und Analysten sprachen. Das war im vorangegangenen Quartal noch ganz anders – Ende 2022 dominierten Lieferengpässe und Rezessionsbefürchtungen die Agenden und Gespräche, wie aus den Auswertungen des US-Unternehmens IoT Analytics hervorgeht. Solche ständig wechselnden Innovationsagenden machen die Handhabung von Innovationen zur Herausforderung.
Innovationswissen wird Open Source
«In der täglichen Wertschöpfung kommt es auf Effizienz an und auf die Vermeidung von Fehlern», sagt Stefan Dieffenbacher, Gründer und Geschäftsführer der Firma Digital Leadership sowie Verfasser des Werkes «How to Create Innovation». «Gemessen wird anhand von KPI. Das Risiko ist gering, das Ergebnis ist aber ebenfalls branchentypisch.»
Wenn es um Innovationen gehe, sehe die Welt ganz anders aus. «Hier braucht es dezidierte Innovationsvorhaben, andere Arbeitsmethoden, unternehmerisches Risiko und Mut. Das Risiko ist hoch: Die meisten Innovationsvorhaben gelingen nicht, aber das Ergebnis ist – wenn es glückt – durchschlagend.» «Die ganze Innovationsbranche ist im Prinzip noch sehr unreif, da verhältnismässig neu», fasst der Experte zusammen.
Integrierte Standards gefordert
Erforderlich sei deshalb eine Integration der geeigneten Arbeitsmethoden. «In diese Richtung wird sich die ‹Innovationsindustrie› auch entwickeln müssen: hin zu übergreifenden und integrierten Standards», so Dieffenbacher. «Wir haben mit unseren Unite-Modellen die erste vollständige Bibliothek an Innovations- und Transformationsmethoden definiert und teilen diese kostenlos und Open Source. Damit teilen wir vormaliges ‹Herrschaftswissen›.»
Ein Grossteil der Industriekenntnisse und der Unternehmensstrategie liegt bei den Mitarbeitenden der Unternehmen – und deshalb sind sie ein unverzichtbarer Teil der Innovationsteams.
Stefan Dieffenbacher, Gründer und Geschäftsführer Digital Leadership.
Für die Erfolgsmessung empfiehlt Dieffenbacher eine Abkehr von Effizienzkennzahlen und stattdessen die Nutzung von «Lernkennzahlen»: «Haben wir wichtige, aber unbefriedigte Kundenbedürfnisse entdeckt? Haben wir für unser Produkt echte Kundinnen und Kunden gefunden? Wie hoch war die Zahlungsbereitschaft?» Die konkrete Messung des Erfolgs von Innovationen erfolgt dann entlang von Sales, Anzahl der Kundinnen und profitablem, skalierendem Wachstum. Beraterinnen und Berater würden weiterhin erforderlich sein. «Sie helfen, die optimale Organisation aufzubauen, die besten Methoden zu wählen und sie richtig umzusetzen», sagt Dieffenbacher. Ein Grossteil der Industriekenntnisse und der Unternehmensstrategie liege aber bei den Mitarbeitenden der Unternehmen – und deshalb seien sie ein unverzichtbarer Teil der Innovationsteams.
Data Analytics, KI und Neuroscience kombinieren
Design Thinking hat sich als «Mindset» für die Innovationsarbeit etabliert. Laut Michael Lewrick, internationaler Bestsellerautor («Design Thinking and Innovation Metrics») und bei Lewrick & Company Unternehmens- und Innovationsberater aus Zürich, gibt es drei Wirkungsweisen: Eine bessere Zusammenarbeit über die typischen Unternehmenssilos hinweg, eine grössere Marktakzeptanz von neuen Produkten, Dienstleistungen und Erfahrungen bei Kundinnen und Kunden sowie geringere Entwicklungskosten durch Iterationen und frühzeitige Einbindung von potenziellen Kundinnen und Nutzern von der Problemerkennung bis zur Lösung. Auch hier gibt es eine ständige Weiterentwicklung. «Die Konstante ist das ‹Mindset› und die aktive Auseinandersetzung mit dem Problemraum, bevor neue Ideen und Lösungen generiert werden», sagt Lewrick. «In den letzten 15 Jahren hat eine ‹Fusion von Disziplinen› stattgefunden, das heisst, wir nutzen alle verfügbaren Instrumente von Data Analytics, AI, bis hin zu Neuroscience, um mehr Evidenz zu erhalten.»
KI generiert Ideen
Künstliche Intelligenz (KI) macht sich auch hier bemerkbar. «KI ist für mich die kombinierte Disziplin von Design und Informatik, sodass Technologie lernen, denken, handeln und spezifische Aufgaben in einer Weise ausführen kann, welche traditionell der menschlichen Intelligenz zugeschrieben wird», erklärt Lewrick. «Ich nutze zum Beispiel Tools wie Seenapse, was es mir ermöglicht, innerhalb von Minuten Hunderte von divergierenden und kreativen Möglichkeiten zu generieren.»
Es wird noch dauern, bis KI auf menschliche Weise denkt, kreativ wird oder die nötige Empathie zur Kundschaft aufbauen kann.
Das Tool zielt darauf ab, Innovationsteams interessante, überraschende Ideen zu liefern. «Eine Aussage im Innovationsmanagement lautet: «Alle Innovationen sind neue Kombinationen von bestehenden Ideen», sagt Lewrick weiter. «Ob daraus echte Innovationen entstehen, wird erst die Zeit zeigen.» Aktuell würden KI-Tools, wie zum Beispiel Synthetic User, eher den Innovationsteams bei der Validierung der Wünschbarkeit von ersten Prototypen mit Kunden helfen.
Dass eine Art «Innovation-GPT» dominieren wird, erwartet Lewrick nicht. «Es wird noch dauern, bis KI auf menschliche Weise denkt, kreativ wird oder die nötige Empathie zur Kundschaft aufbauen kann. Die ersten Ergebnisse von spezifischen Aufgaben der KI für Innovationsteams liefern Impulse, sind aber nicht so aussagekräftig sind, wie sie erscheinen.»
Dieser Artikel ist unter dem Titel «Innovation wird Open Source» erstmals erschienen in der «Handelszeitung» vom 11.5.2023