Seit ich unser System der Sozialversicherungen aus nächster Nähe verfolge, also seit über 20 Jahren, wird in der IV über die Einführung eines stufenlosen Rentensystems geredet. Ein solches wäre gerechter als das heutige System mit Viertelrenten, halben Renten, Dreiviertelrenten und ganzen Renten.

Ein Beispiel: Erhöhen IV-Rentner mit einer Dreiviertelrente das Pensum, haben sie unter Umständen nur noch Anspruch auf eine halbe Rente. Zählt man Erwerbseinkommen und Rente zusammen, haben sie unter dem Strich weniger als vorher. Man nennt dies Schwelleneffekt.

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Claude Chatelain ist Kolumnist beim «SonntagsBlick». In der Kolumne «Gopfried Stutz» beschreibt er wöchentlich seine Beobachtungen auf dem Gebiet der Vorsorge, der Versicherungen und der Anlageberatung. Zuvor schrieb der langjährige Wirtschaftsjournalist für die Wirtschaftszeitung Cash und die «Berner Zeitung». Von 1991 bis 1998 betreute der studierte Ökonom im «Blick» die Ratgeber-Kolumne «Chatelain rät».

Nun wird auf Anfang 2022 nach langem Hin und Her das stufenlose Rentensystem doch noch in Kraft treten, nachdem Pro Infirmis schon 2001 ein stufenloses Rentensystem in der IV als Fernziel erklärt hatte. In der Unfallversicherung existiert ein solches seit jeher.

Künftig gibts also IV-Renten von zum Beispiel 47, 53, 60 oder 68 Prozent. Wegen des Wegfalls von Schwelleneffekten wird es sich für IV-Rentnerinnen und IV-Rentner finanziell immer lohnen, neu eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder eine bestehende zu erhöhen.

Revisionen der IV sind ebenso vertrackt wie jene anderer Sozialwerke. Selbst unbestrittene Massnahmen, wie eben das stufenlose Rentensystem, kommen wegen der Obstruktionspolitik der Polparteien nicht vom Fleck. Dessen Einführung verzögerte sich auch deshalb, weil bürgerliche Parlamentarier eine ganze Rente erst ab einem IV-Grad von 80 Prozent gewähren wollten statt von 70 Prozent. Damit liessen sich Einsparungen von über 100 Millionen Franken erzielen.

80 Prozent Erwerbsunfähigkeit heisst, dass eine gesundheitlich stark eingeschränkte Person noch 20 Prozent des Einkommens verdienen kann, das sie vor der Invalidität hätte verdienen können. Erst ab dieser Schwelle hätte man eine ganze IV-Rente erhalten sollen. Davon wollten Links-Grüne mithilfe von Mitte-Politikern nichts wissen.

So kann also weiterhin eine Person mit einer ganzen IV-Rente bis 30 Prozent des früheren Einkommens verdienen, ohne zu befürchten, etwas Unrechtmässiges zu tun oder gar eine Kürzung der IV-Rente in Kauf zu nehmen. Das mag man gerecht finden oder nicht.

Man muss aber wissen: Es ist unser aller Interesse, dass IV-Rentner einer Erwerbsarbeit nachgehen und einen Zusatzverdienst haben. 49 Prozent aller IV-Rentnerinnen und IV-Rentner haben Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Je höher ihr Einkommen, desto weniger EL beanspruchen sie. Das kommt auch den Kantonen und damit uns Steuerzahlenden zugute.

(Erstmals erschienen im Sonntagsblick, 26.12.2021/hzi/kbo)

Die Gesetzesrevision «Weiterentwicklung der IV» (WEIV) tritt auf den 1.1.2022 in Kraft