Die Krankenkassen können wegen gesunkener Reserven den Anstieg nicht dämpfen. Bundesrat, Parlament und Kantone stehen in der Kritik, das Sparpotenzial nicht ausgenutzt zu haben.
Die mittlere Monatsprämie steigt damit im kommenden Jahr um 28,70 Franken auf 359,50 Franken, wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Dienstag mitteilte. Es ist der grösste seit 2010. Die markanteste Erhöhung gibt es im Tessin mit 10,5 Prozent, die geringste mit 6,5 Prozent in Basel-Stadt und Appenzell-Innerrhoden.
Gesundheitsminister und Bundespräsident Alain Berset sagte bei der letzten Prämienpräsentation seiner Karriere vor den Bundeshausmedien, er bringe eine "schlechte Nachricht für die bereits teuerungsgeplagten Haushalte". BAG-Direktorin Anne Lévy sekundierte, der starke Anstieg sei ein Warnsignal an alle.
Der Tessiner Gesundheitsvorsteher Raffaele De Rosa zeigte sich enttäuscht und "tief besorgt" über die Prämienentwicklung. Das System stosse an die "Grenze des Erträglichen". Im Tessin seien die Krankenkassenprämien innert zweier Jahre um gegen 20 Prozent gestiegen. Eine Totalreform des Systems sei unumgänglich und dringlich.
Prämien decken Kosten nicht
Ausschlaggebend für die Prämienerhöhung 2024 sind die Kosten. Diese stiegen seit dem zweiten Halbjahr 2021 und besonders im Verlauf des Jahrs 2023 stärker als erwartet. Mehr Arztbesuche und ambulante Spitalleistungen sowie mehr und teurere Medikamente verursachten den Schub. Die Prämieneinnahmen decken 2023 die Kosten von etwa 35 Milliarden Franken zulasten der Krankenkassen nicht. Das war schon 2022 der Fall.
Die ambulanten Spitalleistungen kosteten 2022 pro versicherter Person mehr. Dieser Posten macht 19 Prozent der Gesamtkosten aus. Den starken Anstieg führt das BAG teilweise auf Abrechnungsverzögerungen wegen neuer Tarifstrukturen zurück. Arztbesuche waren teurer, wobei die Zahl der Besuche gleich hoch blieb. Ebenso nahm der Preis von Medikamenten zu. Krebsmedikamente, Immunsuppressiva und Antidiabetika waren für die Hälfte des Kostenwachstums verantwortlich.
Prämienanstieg kommt nicht an
Neben dem Kostenschub führen die Bundesbehörden die Prämienerhöhung 2024 auf die nicht voll bei den Kassen angelangte Erhöhung im laufenden Jahr zurück. Viele Versicherte wechselten den Grundversicherer oder wählten eine höhere Franchise. So kamen nur 5,4 Prozent statt 6,6 höhere Prämien bei den Versicherern an. Diese tieferen Prämieneinnahmen schlagen sich nun im Prämienanstieg 2024 nieder.
Starke Nachholeffekte nach der Covid-19-Pandemie verstärkten diese Effekte noch. Das führte 2022 zu einem Verlust von 1,7 Milliarden Franken für die Versicherer. Der Kapitalmarkt brockte ihnen zudem einen Anlageverlust von 1,8 Milliarden ein.
Die Verluste deckten die Kassen aus den Reserven. Die Reserven sanken damit in der ganzen Branche auf 8,5 Milliarden Franken, was zwar ausreicht. Polster zur Dämpfung der Prämienentwicklung sind aber nicht mehr vorhanden.
Sparpotenzial vorhanden
Die Kosten müssten mit höchster Priorität gesenkt werden, sagten Berset und Lévy. Unnötige Behandlungen müssten verhindert werden. Die Steuerung des Gesundheitssystems sei indessen zersplittert, erklärte Berset. Ans Parlament richtete Berset die Kritik, kostendämpfende Massnahmen zu verzögern oder zu schwächen. "Überall wo es wirksam gewesen wäre, nahm das Parlament die wirksamen Elemente weg", bilanzierte er.
Auch Parteien und Verbände übten starke Kritik. Gemäss den Krankenkassenverbänden Santésuisse und Curafutura hat das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) das Sparpotential im Gesundheitswesen nicht ausgeschöpft. Insbesondere bei Medikamenten seien mehr Einsparungen möglich, etwa mit der häufigeren Verwendung von Generika.
FDP und SVP zielten mit ihrer Kritik direkt auf Berset. Während seiner Amtszeit seien die Krankenkassenprämien um über 40 Prozent gestiegen und die Grundversicherung sei mit zahlreichen Leistungen erweitert worden, was die Prämien weiter erhöht habe.
Ebenfalls könnte die Einführung des Arzttarifs Tardoc weiter Kosten senken, waren sich Akteure im Gesundheitsbereich einig. Diese Reformen könnten zügig beschlossen und umgesetzt werden, doch sie seien vom Parlament und Bundesrat blockiert, kritisierte auch die Ärztinnenverbindung FMH.
Prämienverbilligungen erhöhen
Verschiedene Parteien und Organisationen der politischen Linke kritisierten, dass der Prämienanstieg vor allem Personen mit geringem Einkommen belastet. Prämienverbilligungen sollten deshalb deutlich erhöht werden. Das Hilfswerk Caritas und die SP sieht dafür insbesondere die Kantone in der Pflicht.
Von Verfehlungen in der Gesundheitspolitik der Kantone möchte der Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und Basler Gesundheitsdirektor, Lukas Engelberger (Mitte) nicht sprechen. "Die Kantone sind bereit, Verantwortung in Bezug auf die Kosten zu übernehmen, und sie tun dies mit spürbaren Auswirkungen", so der GDK-Präsident. Bei den individuellen Prämienverbilligung hätten die Kantone ihre Pflicht erfüllt. (awp/hzi/ps)