Auf den ersten Blick wirkt Morning Star ganz normal. Die mittelgrosse Firma aus Kalifornien verarbeitet Tomaten und beliefert Restaurants und Supermärkte. 400 Mitarbeiter sorgen für 700 Millionen Dollar Umsatz. Doch Morning Star ist anders, denn hier gibt es keinen Chef.
Die Mitarbeitenden managen sich selbst, und das funktioniert so: Jeder Angestellte handelt mit seinen Kollegen einmal pro Jahr einen Vertrag aus. Darin steht ganz genau, was er oder sie in den kommenden 12 Monaten tun wird, mit allen Kennzahlen. Dieses Netz von Verträgen überzieht die Firma und ersetzt die Kontrolle von oben.
Geld ausgegeben wird auch eigenverantwortlich. Braucht etwa der Wartungstechniker in der Fabrik ein Schweissgerät für 6000 Franken, kann er es bestellen. Spannend geht es bei Morning Star immer am Ende des Jahres zu. Dann werden die Gehälter bestimmt – von einem Komitee, das die Mitarbeiter selbst wählen.
Report aus der Zukunft
Ein Bericht aus dem Schlaraffenland? Nein, ein Report aus der Zukunft. Das findet zumindest der amerikanische Managamentguru Gary Hamel. Er hat Morning Star unter die Lupe genommen. «So funktioniert die Firma der Zukunft – ohne Bosse, Titel und Beförderungen», lautet sein Fazit.
Mit dieser Prognose ist er nicht allein. Immer mehr Experten singen ein Loblied auf das cheflose Unternehmen, und etliche Businessbücher greifen das Thema auf – von «Erfolg ohne Chef» bis zu «The End of Leadership» (siehe Interview). Keine Frage, ein Hauch von Anarchie weht durch die Wirtschaftswelt. Doch ist das selbstorganisierte Unternehmen wirklich machbar oder nur das Hirngespinst eines Management-Gurus?
Zu den Vordenkern des Unternehmens von unten gehört Heiko Fischer. Der 35- Jährige weiss, wovon er spricht. Fischer leitete lange Zeit die Personalabteilung bei Crytek, einer bekannten Videospielfirma aus Frankfurt. Hier war er vor allem damit beschäftigt, sein eigenes Ressort überflüssig zu machen. Denn Crytek geht einen neuen Weg. Die Teams, die auch die Spiele entwickeln, machen ihre eigene Personalarbeit, sie rekrutieren zum Beispiel bei Bedarf einfach selbst neue Mitarbeiter.
Damit das klappt, bekommen sie vorab Rat von den Profis. «Die Experten sollen Mitarbeiter befähigen, Personalkompetenzen selbst zu übernehmen», erklärt Fischer das Prinzip. Aber kostet es nicht viel Zeit, Amateure erst schlau zu machen? «Natürlich, manche fangen in betrieblicher Demokratie bei null an», räumt Fischer ein. Doch nur wenn alle anpackten, entstünde ein Gefühl von echter Teilhabe.
Thema mit Rückenwind
Mittlerweile denkt Fischer über die Spielebranche hinaus. Er begleitet andere Firmen bei ihrem Schritt in die Selbstorganisation. Vor wenigen Wochen etwa hat ihn das Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon ZH zum Vortrag eingeladen. «Das Thema hat Rückenwind, gerade in der Schweiz», beobachtet Fischer.
Dass die Idee von der Organisation, die sich selbst führt, nur in der experimentierfreudigen Welt der Videospielindustrie funktioniert, glaubt er nicht. «Sobald das der erste Grosskonzern macht, geht es richtig los», meint Fischer. Um seine Vision vom Unternehmen der Zukunft zu beschreiben, greift er gerne zum Bild vom Raumschiff, das eine eingeschworene Mannschaft gemeinschaftlich lenkt. «Aus jedem willigen Betrieb kann man eine Art von Enterprise machen», so Fischer.
Wie es sich anfühlt, ohne Captain auf der Brücke zu fliegen, das weiss auch Gernot Pflüger gut. In seiner Eventagentur herrscht «Wirtschaftsdemokratie», wie er es nennt. Praktisch bedeutet das, dass die Belegschaft über alles gemeinschaftlich abstimmt und jeder mitreden darf, wenn es um Investitionen, das Einheitsgehalt oder Neueinstellungen geht. «Produktivität und Innovationskraft profitieren davon enorm», ist Pflüger überzeugt, der seine Erfahrungen in dem Buch «Erfolg ohne Chef» aufgeschrieben hat.
Seit gut 20 Jahren ist er nicht mehr der Herr im eigenen Betrieb – und langsam auch so eine Art von Evangelist. Andere Chefs rufen ihn an und fragen nach Tipps, wie sie mehr Demokratie wagen können. Was Pflüger ihnen dann rät, ist im Prinzip ganz simpel. Lass die Leute ihre Zeit frei einteilen, setze auf Resultate statt auf Anwesenheit, schaffe autonome Teams mit nicht mehr als 150 Leuten. «Entscheidend ist, dass jeder in der Gruppe noch die Kausalitäten erkennt», erklärt Pflüger. Das heisst, jeder Angestellte kann sehen, was vorher nur der Manager wusste: Wie entstehen Kosten für ein Produkt? Was beeinflusst den Absatz?
«Vor allem muss jeder ohne Angst seine Meinung sagen können», predigt der experimentierfreudige Unternehmer. Dass das nicht immer angenehm ist, weiss er aus eigener Anschauung. Unlängst hatte er für einen Kunden eine Werbekampagne mit sozialen Medien entwickelt. Als er sie an der Mitarbeitersitzung vorstellte, trat ausgerechnet das jüngste Glied der Mannschaft vor und zerriss die Pläne in der Luft. «Nach einer Zeit habe ich gemerkt, dass er recht hat», lacht Pflüger.
Prinzip mit Voraussetzungen
Dass es auch in grossen Organisationen mal mit weniger Häuptlingen geht, zeigt Hilti. Am Hauptsitz des Werkzeugunternehmens in Schaan im Fürstentum Liechtenstein gilt seit je die sogenannte 56er-Regel. Niemand in der Geschäftsführung darf älter als 55 Jahre sein.
Im Jahr 2006 erreichten drei von vier Chefs die Altersgrenze. Man entschied sich dennoch, der eigenen Regel zu folgen, und liess die Chefs gehen. Was anderswo schwere Turbulenzen verursacht hätte, führte bei Hilti nicht zu unvorhergesehenen Einschnitten oder Brüchen, weil über Jahrzehnte eine starke Teamkultur entwickelt worden war.
«Das System ist von den Einzelpersonen an der Spitze entkoppelt», lobt Heike Bruch, Direktorin des Instituts für Führung und Personalmanagement an der Universität St.Gallen. Sie sieht in der cheffreien Organisation nichts Neues, sondern ein bewährtes Prinzip, welches schon lange angewandt wird. Tatsächlich setzen Konzerne wie Hewlett-Packard oder Gore seit je auf sehr autonome Teams.
Bevor ein Unternehmen sich selbst dirigieren kann, braucht es paradoxerweise erst mal eine besonders starke Führung. Erst wenn alle Mitarbeiter nicht nur in ihren Fachaufgaben, sondern auch in der Selbstführung geschult seien, so Bruch, könne der Stab an die Masse übergeben werden – eine Aufgabe, mit der sich so manches Spitzenpersonal schwertut. «Sich selbst überflüssig zu machen, ist eben die allerhöchste Form der Führung.»