Der Ski-Weltcup 2015/16 steht vor der Tür. Mit welchen Gefühlen werden Sie die ersten Rennen als Zuschauerin erleben?
Dominique Gisin: Mit einer gehörigen Portion Wehmut. So viele Jahre im Skizirkus lässt man nicht auf Knopfdruck hinter sich, so ganz ohne Emotionen. Wenn ich auf Instagram und Timeline die fantastischen Schneebilder sehe, die meine ehemaligen Teamkolleginnen posten, dann juckt es mich schon gehörig. Zumal Skifahren für mich nicht nur Spitzensport, sondern auch viel Leidenschaft war und immer noch ist. Das ist nicht ganz einfach im Moment.
Bereuen Sie den Rücktritt?
Der Bauch würde schon manchmal am liebsten rechtsumkehrt machen und die Rennski wieder aus dem Keller holen. Mein Verstand weiss allerdings, dass der Entscheid definitiv gefallen ist und auch der Zeitpunkt dafür der richtige war.
Sie haben den ersten Sommer seit langer Zeit ohne hartes Trainingsprogramm hinter sich. Haben Sie dennoch Sport getrieben?
Ja, schon ein wenig. Etwas Windsurfen, etwas Biken, Stabilisationsübungen für mein Knie. Übertrieben habe ich nicht, weil mir der Sommer sowieso viel zu heiss war. Ich ertrage die Hitze nicht allzu gut und bin auch klimatisch eher winterorientiert.
Aber langweilig wurde es Ihnen nicht?
Alles andere als das. Es läuft zurzeit extrem viel. Ich erhalte unzählige Anfragen für Auftritte, Projekte, Fotoshootings. Und meine Vortragsreihe, die ich heuer zusammen mit meinem langjährigen Sportpsychologen Christian Marcolli lanciert habe, erfreut sich einer sehr grossen Nachfrage. Als Team ergänzen wir uns dabei prima. Christian verfügt über viel Beratungserfahrung mit Leuten aus der Wirtschaft, ich bringe die sportliche Komponente rein.
Wie sieht das Zielpublikum dafür aus?
Sehr bunt durchmischt. Von Verbänden und Organisationen bis zu Unternehmen jeder Grösse. Wir sprechen manchmal vor zehn, aber auch vor tausend Leuten. Es geht in den Vorträgen um meine Karriere als Spitzensportlerin, um meinen Leidensweg wegen unzähliger Verletzungen und um meine Art, damit umzugehen respektive niemals aufzugeben. Wir haben allein in diesem Jahr schon über 20 Vorträge gehalten. Die Anfragen kommen fast täglich rein.
Ihr Olympiasieg scheint viele Menschen enorm gefreut und inspiriert zu haben.
Die Olympia-Goldmedaille war sicher so etwas wie ein später Lohn für die vielen Jahre der Rückschläge und Entbehrungen. Was mich aber im Gespräch mit den Vortragsbesuchern besonders freut und bewegt: Die meisten haben meine Karriere schon lange vor Sotschi mitverfolgt und wissen oft sehr gut Bescheid über meine verschiedenen Stationen als Sportlerin in den Jahren zuvor. Für sie steht die Olympia-Goldmedaille nicht im Vordergrund. Sie besuchen die Vorträge, um noch mehr Details über meine ganze Geschichte zu erfahren.
Und um sich Motivationstipps zu holen?
Das ist ein Kernelement des Vortrags und tatsächlich die meistgestellte Frage aus dem Publikum. Die Nachfrage war sogar so gross, dass Christian Marcolli und ich in diesem Frühling beschlossen haben, die Vortragsreihe mit einem Buch zu ergänzen. Auch dieses Projekt hat mich heuer wahnsinnig stark beschäftigt. Von der Idee bis zur Buchpräsentation im September verging gerade mal ein halbes Jahr. Eine sehr intensive Arbeit, in der viel Herzblut steckt.
Ist Ihr Buch eine Art Motivationsbibel?
Ich habe überhaupt nicht den Anspruch, aus meiner Geschichte irgendwelche Standards abzuleiten, die Allgemeingültigkeit haben sollen. Motivation und Durchhaltewillen sind Eigenschaften, die immer eng mit dem individuellen Charakter einer Person zu tun haben. Im Buch haben wir trotzdem versucht, dieses Thema einigermassen analytisch aufzubereiten, um möglichst vielen Lesern einen Mehrwert zu bieten.
Welches waren denn Ihre Strategien, auch in harten Zeiten nie aufzugeben und immer wieder zurückzukommen?
Ganz wesentlich finde ich, dass man lernt, schwierige Situationen zu akzeptieren. Hadern nützt nichts, sondern bindet wertvolle Energien, die es zwingend für den Wiederaufbau braucht. Ich habe mich nach jeder der neun Knieoperationen mit neuen Zielen motiviert, die realistisch waren. Bei der Umsetzung muss man kleine Schritte gehen können, und zwar mit viel Beharrlichkeit und noch mehr Geduld.
Ihr Geheimrezept?
Wenn ich nach einem längeren Ausfall mit einem Rückstand von 3 Sekunden auf die anderen ins Training startete, dann wollte ich ihn beim nächsten Lauf auf 2,9 Sekunden reduzieren. Stagnation gehört aber stets dazu und muss als Teil des Prozesses akzeptiert werden. Man darf dabei das Ziel nie aus den Augen verlieren. Neben einer gewissen Demut gehören also auch Mut und Ehrgeiz dazu. Ich gebe mich nie mit Mittelmass zufrieden, auch wenn ich in meiner Karriere phasenweise akzeptieren musste, nicht darüber hinauszukommen.
Das tönt nach Rezepten, die auch in der Wirtschaft funktionieren.
Davon bin ich überzeugt. Dass wir unseren Vortrag in sehr vielen Unternehmen halten dürfen, nicht selten bei Mitarbeiteranlässen, spricht wohl dafür, dass meine Geschichte in der Wirtschaftswelt ebenfalls Beachtung findet. Firmenchefs sagen mir, dass es sie beeindruckt, wie ich nach jedem Rückschlag nichts unversucht liess, um mich wieder an die Spitze zu kämpfen. Beharrlichkeit und Fleiss sind auch in der Geschäftswelt gefragte Eigenschaften.
Denn sie führen zum Erfolg. Auch sportliche Grosserfolge lassen sich zu Geld machen. Schöpfen Sie da aus dem Vollen?
Natürlich half mir das Gold in Sotschi, bereits vorhandene Sponsoren für ein weiteres Engagement über meine aktive Karriere hinaus zu gewinnen. Es sind nach Olympia auch zahlreiche neue Anfragen gekommen. Allerdings bin ich diesbezüglich wählerisch. Es ist mir wichtig, dass eine Partnerschaft zu mir passt und dass ich hinter einem Produkt stehen kann. Unter dem Strich haben sich ein paar gute Kooperationen ergeben, von denen ich kommerziell profitieren kann.
Dazu gehört auch Ihr neues Engagement als Botschafterin für Engelberg Tourismus?
Ja. Diese Partnerschaft ist für mich als Engelbergerin eine grosse Herzensangelegenheit, mit der sich praktisch ein Kreis schliesst. Denn Engelberg war mein allererster Kopfsponsor im Ski-Weltcup. Es ist sowieso toll, wenn ich als Botschafterin für lokale Organisationen auftreten darf.
Finanziell ausgesorgt haben Sie mit den Werbeverträgen, die möglicherweise noch ein paar Jahre laufen, aber nicht.
Nein, das wäre ja schön. Ich renne mit diesen Engagements nicht primär dem Geld nach, sondern erachte sie als honorable Wertschätzung seitens der Partner für meine Person und meine Leistungen als Sportlerin. Aber natürlich sind die Einnahmen dank diesen Engagements für mich auch sehr willkommen, um die Phase zwischen Spitzensport und dem neuen Berufsleben gut zu überbrücken.
Wie sehen denn Ihre Pläne für die Karriere nach der Karriere aus?
Ich drücke zuerst einmal die Schulbank und habe soeben ein Physikstudium an der ETH Zürich aufgenommen. Mein nächstes Ziel ist der Bachelor nach drei Jahren. Dann schaue ich weiter.
Haben Sie konkrete Berufsvorstellungen?
Noch nicht. Ich stelle mir dereinst irgendeine Tätigkeit an der Schnittstelle von Physik und Sport vor. Das ist aber ein weites Feld. Was mich ebenfalls interessieren würde, wäre eine Tätigkeit in der Aviatik. Ich habe auch bereits diverse Flugstunden absolviert und eine Privatpilotenlizenz erlangt.
Woher haben Sie als Skirennfahrerin die Zeit dafür genommen?
Es tönt vielleicht sarkastisch. Aber aufgrund meiner vielen Verletzungen als Skifahrerin bekam ich notgedrungen immer wieder Zeit, mich auch anderen Dingen zu widmen. Die Fliegerei gehört dazu. Ein guter Freund und Pilot überredete mich während einer der zahlreichen Zwangspausen zu einer fliegerischen Vorschulung. Das brachte mich dann auf den Geschmack.
An eine Karriere als Skitrainerin hatten Sie nie gedacht?
Nicht wirklich, obwohl ich dem Skirennsport sicherlich stets eng verbunden bleibe. Allein schon deshalb, weil meine beiden jüngeren Geschwister Michelle und Marc noch aktiv sind. Aber im Ski-Weltcup ist das Trainergeschäft eine absolute Männerdomäne. Das Studium und der Einstieg in eine Berufswelt abseits der Pisten reizen mich definitiv mehr.