Die Ängste vor steigender Inflation und einer Immobilien-Krise in China treiben die Anleger um. Sollten sich Investorinnen wegen dieser zwei Risiken in nächster Zeit an der Börse zurückhalten?
Renato Flückiger: Aktuell befinden wir uns tatsächlich in einer Situation, die zu einer spürbaren Risk-Off Stimmung an den Finanzmärkten geführt hat. Die verantwortlichen Themenfelder gehen längst über die zwei erwähnten Ereignisse hinaus: Abflauender wirtschaftlicher und geldpolitischer Rückenwind, steigende Energiepreise, Unsicherheiten über die weitere Entwicklung der Unternehmensgewinne aufgrund der steigenden Produzentenpreise und letztlich auch Stagflationsängste. All das sind kumulierende Faktoren, die risikoreiche Anlageklassen unter spürbarem Abgabedruck stellen. Ich erwarte, dass wir die Zurückhaltung noch einige Zeit spüren werden.
Sind die aufkeimenden Stagflationsängste berechtigt?
Hier erlaube ich mir eine klare Antwort: Nein, die Stagflationssorgen sind übertrieben. Obschon der Zenit des aktuellen Zyklus überschritten ist, wird das globale Wachstum auch im 2022 noch klar überdurchschnittlich ausfallen und sich im 2023 normalisieren. Eine wirtschaftliche Stagnation ist nicht zu erwarten, zumal die Auftragsbestände aufgrund der längerfristig stockenden Lieferketten noch abgearbeitet werden müssen. Entlastend sind bei den privaten Haushalten die hohen Sparquoten nach Covid. Weshalb der private Konsum eine wichtige Konjunkturstütze bleiben wird.
Was kann somit von der Inflationsentwicklung erwartet werden?
Zweifel, ob sich die Inflation wirklich so schnell wieder verflüchtigen kann, erachte ich als berechtigt. In den USA, Deutschland und China notieren die Produzentenpreise im Jahresvergleich bereits zwischen 8 und 12 Prozent höher. Kurzfristig stehen höhere Rohstoffpreise, explodierte Frachtraten sowie angebotsbedingte Preisanpassungen in Vorfabrikaten und mittelfristig steigende Löhne im Gegenwind einer raschen Rückbewegung der Produzentenpreise. Die Inflation wird sich also hartnäckiger als erwartet zeigen.
Wie werden sich die Zentralbanken in diesem Umfeld verhalten?
Dies könnte die Notenbanken möglicherweise verunsichern, ob sich ihr geldpolitischer Weg nicht immer noch als zu offensiv erweist. Somit sind vor Notenbanksitzungen immer wieder volatilere Finanzmärkte zu erwarten. Zudem wird sich das Umfeld negativer Realverzinsungen festigen und die Zentralbanken werden mit ihren flexiblen Bandbreiten ein gewisses Überschiessen der Inflation zulassen. Dies erlaubt den hoch verschuldeten Staaten zumindest den Versuch, einen Teil des Schuldenbergs wegzuinflationieren – auf Kosten der Sparer oder Vorsorgewerke, die somit an Kaufkraft einbüssen würden. Mittelfristig ist die Richtung bereits eingeschlagen: Nachdem nun bereits zahlreiche Notenbanken aus den Schwellenländern ihre Zinsen erhöht haben, bereiten die Notenbanken aus den Industriestaaten ebenfalls den Pfad zur Normalisierung vor.
Mit On Running wird nun ein Schweizer Vorzeigeunternehmen an der US-Börse gehandelt. Was halten Sie von der Aktie?
Mit der Kotierung in New York ist dem Schweizer Aktienmarkt möglicherweise eine zukünftige Weltmarke entgangen. ON steht noch am Anfang seines Wachstumszyklus und könnte den Weltmarktführern Adidas und Nike mehr und mehr Marktanteile abnehmen. Mit ihren Produkten deckt ONdie gesamte Bandbreite zwischen Premium High-Performance Ausrüstung und Lifestyle-Marke für das breite Publikum ab. Dies lässt Potenzial für langfristig grosses Wachstum zu. Der Sportartikelhersteller kämpft allerdings noch mit den Herausforderungen verspäteter Lieferungen aufgrund der überlasteten Frachtrouten und Corona bedingten Schliessungen von Produktionsräumen in Vietnam. Ob genügend Ware vor der wichtigen Weihnachtszeit geliefert werden kann, ist noch unklar. Im Moment drängt sich ein Kauf nicht auf, da die erwähnten Probleme und die ohnehin schon stolze Bewertung noch auf den Kurs drücken könnten.
Seit September hat auch die Schweiz einen Krypto-Börsenfonds. Können Sie Investitionen in den «Crypto Market Index Fund» empfehlen?
Der neue Crypto Market Index Fund öffnet die Türen für eine diversifizierte Investition in den Kryptomarkt und ist ein erfreuliches Zeichen für die Branche. Da der Fund allerdings erst qualifizierten Investoren offensteht, erübrigt sich eine Investitionsüberlegung für Privatanleger. Grundsätzlich ist es positiv, dass mit dem Fonds ein Gefäss geschaffen wurde, mit welchem in einer regulierten Umgebung unter Einhaltung der Finanzmarktgesetze und Geldwäschereibestimmungen in diesen Markt investiert werden kann. Die Meinung über den Inhalt dieses Gefässes, also zum Kryptomarkt und die -währungen selbst, überlassen wir qualifizierten Investoren. Die einhergehenden besonderen Risiken einer solchen Investition dürfen dennoch nicht ausser Acht gelassen werden, denn trotz des klar definierten Handelsspielraums des Fonds durch die Finma ist das Schwankungspotenzial immens.
Bald steht fest, ob der US-Zentralbankchef Jerome Powell eine weitere Amtszeit erhält. Was würde ein Wechsel an der Spitze der Federal Reserve für die Märkte bedeuten?
Jerome Powell steht vor allem bei gewissen Demokraten in der Kritik, insbesondere vom linken Flügel angeführt von Elizabeth Warren. Bei den Hauptkritikpunkten handelt es sich um die Regulierungslockerungen bei den Banken, den geringen Fortschritt in Sachen Klimaschutz sowie den jüngsten Ethik-Diskussionen über möglichen Insider-Börsenhandel einzelner Fed-Gourverneure. Sein Leistungsausweis über die letzten Jahre ist aber in vielerlei Hinsicht beachtlich. Eine alternative Spitzenkandidatin dürfte die Demokratin Lael Brainard sein, die seit 2015 Mitglied des Fed-Boards ist. Sie ist zwar kritischer gegenüber Regulierungslockerungen und würde etwas aktiver in die Klimapolitik eingreifen wollen. Nach unserer Beurteilung gibt gibt es jedoch kaum Anzeichen, dass sie drastische Veränderungen herbeiführen möchte, allen voran in der Geldpolitik. Als langjährige Zentralbankerin mit einer exzellenten Reputation dürfte sie auch das Vertrauen der Kapitalmärkte geniessen, die aktuelle Geldpolitik weiterzuführen. Insofern erachten wir die Risiken für die Finanzmärkte als gering.
Die Nachfrage nach Büroimmobilien zieht langsam wieder an. Ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, auf Aktien und Fonds aus diesem Sektor zu setzen?
Das Umfeld für kommerziell genutzte Liegenschaften bleibt in den kommenden Jahren herausfordernd. Im Bürobereich dürfte vermehrtes Homeoffice und damit verbundene Einsparmöglichkeiten seitens der Unternehmen dazu führen, dass weniger Flächen gemietet werden. Es ist mit einer steigenden Verhandlungsmacht seitens der Mieter und sinkenden Mietpreisen zu rechnen. Bei Retailflächen bleibt das Umfeld ebenfalls herausfordernd. Der verstärkte Trend in Richtung der Onlinekanäle dürfte die stationären Umsätze im Non-Food Segment weiter belasten und damit den Druck auf die Mieten erhöhen. Im Rahmen unserer Anlagestrategie legen wir den Fokus auf Immobilienfonds mit qualitativ hochwertigen Wohnliegenschaftsportfolios an guten Lagen. Im nach wie vor herausfordernden Umfeld verspricht die Wohnnutzung die grösste Ertragsstabilität.
Die Agios von Schweizer Immobilienfonds sind derzeit hoch, die Titel werden also weit über den Bewertungen ihrer Immobilien gehandelt. Ist dies ein beunruhigendes Zeichen?
Die Agios für Fonds aus dem Wohnen-Segment liegen deutlich über dem langfristigen Durchschnitt. Wir sehen jedoch, dass einige Immobilienfonds-Portfolios noch eher konservativ bewertet sind, entsprechend würde wohl bei einem Verkauf ein deutlich höherer Preis erzielt werden können. Daher sehen wir die aktuell hohen Agios bei gewissen Fonds durchaus als berechtigt. Die Selektivität bei der Fondsauswahl bleibt jedoch entscheidend. Solange die Ausschüttungen deutlich über jenen von klassischen Obligationen liegen, bleiben Immobilienfonds attraktiv für Anleger mit Kapitalertragsbedarf.
Welches Gewicht sollte Gold derzeit im Portfolio der Anleger haben?
Im Rahmen unserer aktuellen anlagepolitischen Ausrichtung halten wir weiterhin in einem ausgewogenen Portfolio eine Goldquote von 4 Prozent. Während wir die steigenden Inflationserwartungen, das nach wie vor anhaltende Tiefzinsumfeld und die Unsicherheiten an den Finanzmärkten als unterstützende Faktoren sehen, dürften die Aussicht auf höhere US-Zinsen und ein damit verbunden stärkerer Dollar sowie die aktuellen Goldverkäufe aus Finanzanlagen eher bremsen. Kursniveaus von unter 1700 Dollar pro Unze würden wir für Zukäufe in Betracht ziehen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.