Nach einer längeren Aufwertungsphase, die auch durch die geopolitischen Spannungen infolge des Ukraine-Kriegs unterstützt wurde, hat der Schweizer Franken gegenüber den wichtigsten Währungen an Boden verloren, darunter der Dollar, der Euro und das britische Pfund. Die Talfahrt des Frankens ist mit einer turbulenten Zeit an den Finanzmärkten zusammengefallen – ein Umfeld, das den Franken eigentlich als sichere Anlage begünstigen sollte. Dies wirft die Frage auf, was den Schweizer Franken belastet hat.
Überraschenderweise könnte die Antwort eine der anerkannten Tugenden der Schweiz sein: deren niedrige Inflation. Im April stiegen die Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahr um 2,5 Prozent, was hauptsächlich auf die Preise für fossile Brennstoffe für Transport und Heizung zurückzuführen ist, welche die Schweiz importiert. Ohne Erdölprodukte beträgt die Inflation nur 1,6 Prozent.
Dies ist zwar der höchste Wert seit Ende 2008, liegt aber immer noch innerhalb des von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) angestrebten Zielbereichs von 0 bis 2 Prozent. Im Gegensatz dazu übersteigt die Inflationsrate in den anderen grossen Industrieländern das geldpolitische Ziel um mehrere Prozentpunkte.
GianLuigi Mandruzzato ist Senior Economist bei EFG Asset Management in Lugano.
Gelassenheit seitens der SNB
Um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, haben viele Zentralbanken die Zinssätze erhöht, so jene in den USA und im Vereinigten Königreich. Oder sie haben, wie in der Euro-Zone, die hohe Wahrscheinlichkeit einer baldigen Zinserhöhung signalisiert. Die SNB hingegen kann es sich leisten, die Geldpolitik ohne besondere Eile zu normalisieren und dabei auch die Risiken für das Wirtschaftswachstum berücksichtigen, die durch den Krieg in der Ukraine und durch weiträumige Lockdowns in China entstehen.
Dieser unterschiedliche Ansatz erinnert an zwei vergangene Perioden: Ende der 1970er Jahre und 2005 bis 2007. Diese Zeiträume waren von einer hohen Inflation gekennzeichnet, die vor allem auf die Energiepreise zurückzuführen war – so, wie dies auch heute der Fall ist. Und wie bereits in der Vergangenheit ist der Anstieg der Inflation heute in der Schweiz viel geringer als in anderen grossen Industrieländern, und die Märkte erwarten, dass die kurzfristigen Zinssätze in der Schweiz weniger stark steigen als anderswo.
Unter ähnlichen Umständen hat der Schweizer Franken in der Vergangenheit stark an Wert verloren. Zwischen 1978 und 1981 verlor er gegenüber dem Dollar fast 50 Prozent, und Ende 2007 erreichte er mit fast 1,70 einen historischen Tiefstand gegenüber dem Euro. Es hat den Anschein, dass die Schwäche der letzten Wochen demselben Muster folgt, das auch frühere Episoden hoher Inflation und weltweiter Straffung der Geldpolitik kennzeichnete.
Portfolioanpassungen gerechtfertigt
Dies liegt daran, dass der Anstieg des Zinsgefälles gegenüber der Schweiz Einlagen und Anleihen in anderen Währungen attraktiver macht als solche mit niedrigeren Renditen, die auf Schweizer Franken lauten. Nach mehr als einem Jahrzehnt, in dem die Zinssätze in den Industrieländern durchwegs sehr niedrig waren, rechtfertigt das neue Szenario eine Anpassung der Anlegerportfolios. Dies kann zu massiven Abflüssen aus dem Schweizer Franken und zu einem Abwärtsdruck auf den Wechselkurs führen.
Die Vergrösserung des Zinsgefälles könnte auch den Appetit der Anlegenden auf Carry Trades wiederbeleben. Bei diesen Geschäften finanzieren sich die Anlegerinnen und Anleger zu einem niedrigen Zinssatz in Schweizer Franken, um das Geld in nicht schweizerischen Finanzanlagen mit höherer Renditeerwartung anzulegen. Der mit der Finanzierung verbundene Verkauf von Franken würde den Wechselkurs des Schweizer Frankens unter Druck setzen.
Ein wichtiger Unterschied zu früher besteht darin, dass die SNB seit 2008 Devisenreserven in der Höhe von rund 1 Billion Franken, also fast 130 Prozent des BIP, angesammelt hat, um den Anstieg des Schweizer Frankens zu bremsen. Die Zentralbank hat stets betont, dass diese Reserven für geldpolitische Zwecke gehalten werden. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn die SNB nach einer deutlichen Abschwächung des Franken-Kurses diese Reserven zur Eindämmung übermässiger Schwankungen der Währung und des Risikos einer importierten Inflation einsetzen würde.