Diese Frage ist ein Dauerbrenner in der politischen Debatte in der Schweiz. Drücken die Grenzgängerinnen und Grenzgänger die Löhne nach unten? Im Jahr 2022 stieg die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 6,1 Prozent auf 380’000 Personen (davon rund 215’000 Franzosen und Französinnen). Vor etwa zwanzig Jahren war diese Zahl noch halb so hoch. Laut Bundesamt für Statistik (BFS) beträgt der Anteil Grenzgängerinnen und Grenzgänger an der Erwerbsbevölkerung nun 7,3 Prozent in der Schweiz, 28,8 in Genf und 24,2 Prozent im Jura.
Der Schweizer Wirtschaft mangelt es an qualifizierten Arbeitskräften, weshalb das Land seine Grenzen geöffnet hat. In den letzten zwanzig Jahren sind eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen worden – ein Rekord in Europa – und im letzten Jahr wurde die Schwelle von 100’000 offenen Stellen überschritten. Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass einige Unternehmen, insbesondere solche, die sich in einer komplizierten finanziellen Situation befinden, die Gehälter ihrer Angestellten zu begrenzen versuchen.
Änderung in der Berechnung
In der Uhrenindustrie lag der Medianlohn vor etwa zehn Jahren bei fast 6000 Franken. Heute liegt er bei 5465 Franken. Der Arbeitgeberverband der Schweizer Uhrenindustrie merkt an, dass sich die Berechnung des Medianlohns in der Branche ab 2013 geändert hat und verschiedene Zusatzzahlungen ausgeschlossen wurden. Ausserdem erklärt er den Rückgang im Jahr 2015 mit der Veränderung der Belegschaft in der Uhrenindustrie: Die hohen Neueinstellungen zwischen 2010 und 2012 setzten sich aus Mitarbeitenden am Anfang ihrer Karriere sowie aus ungelerntem Personal zusammen.
Gibt es dennoch einen Zusammenhang zwischen niedrigeren oder sogar sinkenden Löhnen und dem Wachstum der Grenzgängerinnen und Grenzgänger, insbesondere wenn man bedenkt, dass der Medianlohn in der Schweiz dreimal so hoch ist wie in Frankreich? Rafael Lalive, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der HEC Lausanne, ist der Ansicht, dass vor allem gering qualifizierte Arbeitnehmende Druck auf ihre Löhne verspüren könnten. Auch die Digitalisierung und die Automatisierung von Prozessen können sie eher gefährden.
«Die Uhrenindustrie verzeichnet seit dem Ende der Pandemie ein starkes Wachstum», sagt er. «Die Nachfrage ist hoch, und es geht darum, sie zu befriedigen. Qualifiziertes Personal ist sehr gefragt. Vor diesem Hintergrund glaube ich nicht, dass es bei dieser Kategorie von Angestellten trotz der steigenden Masse an Grenzgängerinnen und Grenzgängern zu einem Druck auf die Löhne kommen kann.»
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Starke Konkurrenz unter den Grenzgängerinnen und Grenzgängern
Die gleiche Analyse gilt für ältere Mitarbeitende. Wenn es sich um qualifizierte Angestellte handelt, ist das Risiko gering, dass ihre Einkommen durch den Wettbewerb mit Grenzarbeitskräften unter Druck geraten. Auch hier sind die am stärksten gefährdeten Mitarbeitenden unter den am wenigsten ausgebildeten zu finden. «Für ein Unternehmen ist nicht nur der Lohn wichtig», ergänzt der Wirtschaftswissenschafter. «Viel wichtiger ist die Verbindung zwischen Lohn und Produktivität. Dass man in der Schweiz hohe Löhne zahlen kann, liegt unter anderem daran, dass es uns gelingt, mit diesen Löhnen ein hohes Einkommen zu erwirtschaften.»
Giovanni Ferro-Luzzi, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Genf und der Haute Ecole de Gestion (HEG), schliesst nicht aus, dass branchenübergreifend weniger qualifizierte Personen stärker von einer höheren Wahrscheinlichkeit der Arbeitslosigkeit betroffen sein könnten. In Bezug auf die Löhne spricht er eher von einem mässigenden als einem abwärts gerichteten Effekt. Wenn nämlich in einer Knappheitssituation eine Arbeitskraft gefunden wird, ist es nicht mehr notwendig, die Vergütung für die Stelle zu erhöhen, um potenzielle Bewerberinnen und Bewerber anzuziehen.
«Auch die Grenzgängerinnen und Grenzgänger stehen untereinander im Wettbewerb», erinnert er. «Der Arbeitsmarkt macht in dieser Hinsicht keine Unterschiede. Ausserdem zeigen Studien, dass Unternehmen bei unqualifizierten Stellen tendenziell arbeitslose Bewerberinnen und Bewerber mit Sitz in der Schweiz bevorzugen, da diese am schnellsten verfügbar sind.»
Somit wäre der Faktor Verfügbarkeit oft wichtiger als die Höhe des Gehalts. Ganz zu schweigen davon, dass Tarifverträge die Flexibilität in diesem Bereich erheblich einschränken. «Nichtsdestotrotz ist der Grenzgänger ein dreifacher Gewinner, zum Beispiel in Genf», fährt er fort. «Dies aufgrund des steigenden Mindestlohns, der niedrigeren Lebenshaltungskosten in Frankreich und des fallenden Euro-Kurses.» Eine Situation, die im benachbarten Frankreich nicht ohne Probleme bleibt, insbesondere gegenüber den Einwohnerinnen und Einwohnern, die nicht in der Schweiz arbeiten und deren Kaufkraft sich als deutlich geringer erweist, aber das ist eine andere Geschichte.
Darüber hinaus haben sich die in den Produktionsberufen geforderten Fähigkeiten mit den CNC-Maschinen stark verändert. Wenn die französischen Uhrmacherschulen nicht so viele Uhrmacherinnen und Uhrmacher ausbilden würden, hätte die Branche laut Oliver Müller schlichtweg nicht die Arbeitskräfte, die in den Manufakturen benötigt werden. «Die grossen Marken in Genf und im Vallée de Joux haben Gentlemen's Agreements, die Lohnüberhöhungen verhindern sollen, indem sie verbieten, Arbeitskräfte einer konkurrierenden Marke abzuwerben. Aber es ist klar, dass der Einsatz von grenzüberschreitenden Mitarbeitenden mit einem niedrigeren Lohnniveau auch dazu beiträgt, die Kosten bei den Zulieferern einzudämmen.»
Starke Schaffung von Arbeitsplätzen in der Branche
Oliver Müller, der heute als Berater tätig ist, bewegt sich seit 25 Jahren in der Welt der Uhrenindustrie. Wenn man ihn auf die Frage nach den Grenzgängerinnen und Grenzgängern anspricht, beginnt er mit einer Anekdote. «Ich leitete eine kleine Manufaktur im Vallée de Joux, MHVJ, die der Festina-Gruppe angehörte. Wir waren 58, davon 4 Schweizer ... Es war nicht speziell der Wille, keine Schweizerinnen und Schweizer einzustellen, aber das Rekrutierungsbecken um Genf, das Vallée de Joux und Neuchâtel, ist so ausgetrocknet, dass die Schweizer Uhrenindustrie ohne Grenzgängerinnen und Grenzgänger einfach nicht laufen könnte.»
Und was ist mit älteren Arbeitnehmenden? «Wie in allen Berufen, die sich technologisch weiterentwickeln, ändern sich die geforderten Kompetenzen, und es ist sicherlich schwieriger, mit 50 Jahren zu lernen als mit 25», sagt der Experte. Er erinnert jedoch daran, dass die Arbeitsämter – in den Kantonen Genf, Waadt oder Neuenburg – vorschreiben, dass man bei der Einstellung von Bewerberinnen und Bewerbern die älteren berücksichtigen und die Entscheidung begründen muss, wenn man sich gegen sie entscheidet.
«Was tatsächlich schockieren kann, ist die Dichotomie zwischen dem Verkaufserfolg der Uhrenmarken und den Gehältern, die den Menschen gezahlt werden, die in den Produktionseinheiten arbeiten», stellt er fest. «Aber man sollte das nicht verallgemeinern, denn die wichtigsten Konzerne und unabhängigen Marken entlohnen ihre Angestellten sehr gut.»
Er freut sich auch über die starke Schaffung von Arbeitsplätzen in der Branche: Die 60’000 Beschäftigten in der Schweizer Uhrenindustrie sind wieder auf einem Niveau, das seit der Quarzkrise nicht mehr erreicht wurde. Darüber hinaus lobte er gute Initiativen «wie die Ankündigung von Rolex, eine neue Fabrik in Bulle zu bauen, die dazu dienen wird, ein neues Ökosystem mit einem Ausbildungsgang für die Uhrenindustrie in einer Region zu schaffen, die, wie mir scheint, weit genug von der französischen Grenze entfernt ist».
Dieser Artikel erschien zuerst bei PME unter dem Titel: «La main-d’œuvre frontalière fait-elle baisser les salaires?»