Das weisse Industriegebäude mit Warenrampe und blauen Toren sieht auf den ersten Blick nicht gerade prickelnd aus – dabei lagert drinnen ein wahrer Schatz. Für Hedonisten mit geschärftem Gaumen und gut gefüttertem Portemonnaie ist die Halle sogar so etwas wie der heilige Gral: 800'000 Flaschen Wein der obersten Liga hat Fabio Cattaneo mit seiner Firma Arvi weltweit an Lager, den Grossteil davon hier im Tessin an der Via Pedemonte im Örtchen Melano am Luganersee.

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Acht Nebukadnezar-Flaschen pro Jahr

«The Swiss vault of fine and rare wines» nennt sich das Unternehmen, und den ersten Hinweis auf den immensen Wert, der hier gelagert wird, gibt es gleich rechts nach dem Eingang: Da schlummern allerlei Preziosen in raren 15-Liter-Nebukadnezar-Flaschen. Zum Beispiel, akkurat in einer Holzkiste eingepackt, eine Flasche Mouton Rothschild von 1981.

Während eine normale Flasche dieses Bordeaux-Nektars für rund 350 Franken zu haben wäre, muss für die XXL-Abfüllung mit etwa 60'000 Franken gerechnet werden. Der Grund ist Rarität, wie Fabio Cattaneo erklärt: «Es werden von diesem Wein nur acht Nebukadnezar-Flaschen pro Jahr produziert.» Und die kommen normalerweise nicht in den Handel.

Bis 10' 000 Franken

Ähnliches gilt für den übrigen Bestand: Vorab Flaschen mit grossem Namen und besten Noten finden Eingang in die gekühlte Halle, die Preise gehen bis 10' 000 Franken. Erhältlich sind allerdings auch ein paar Einsteigerangebote ab zehn Franken.

Nebenbei: Stünde auf dem Nebukadnezar-Etikett des Mouton Rothschild als Geburtsjahr die Zahl 2000 statt 1981, würde die Jumboflasche glatt 120'000 Franken kosten – die Millennium-Edition ist nämlich noch gesuchter. Da ist der auch im Nebukadnezar-Gestell zu findende Prestige-Wein Château d’Yquem beinahe ein Schnäppchen. Rund 10'000 Franken muss man für den Jahrgang 2011 rechnen.

Jahrgang ist alles

Fabio Cattaneo, 33 Jahre jung, ist passionierter Weinfreund. Das liegt bei ihm sozusagen in den Genen. Der eine Grossvater produzierte Weine im Piemont, der andere war Koch: «Wein war bei uns in der Familie immer ein Gesprächsthema», sagt Cattaneo. Die zweite Leidenschaft des Jungunternehmers und Gewinners des Swiss Economy Awards 2010 sind Zahlen. Und das trifft sich gut, denn im Geschäft mit edlen Flaschen ist ein gutes Gedächtnis für Numerisches unabdingbar. Manchmal muss man blitzschnell entscheiden, wenn ein Angebot vorliegt.

Beispiel: Eine Flasche Mouton Rothschild 1982, ein «irrsinniger Wein», wie Cattaneo sagt, ist aktuell etwa 1300 Franken wert. Der Jahrgang 1980 des gleichen Tropfens hingegen geht für vergleichsweise schnöde 340 Franken über den Tresen. «Jahrgang ist alles», kommentiert Cattaneo. Nebenbei: Der teuerste Wein, den er in einer 7,5-Deziliter-Flasche verkauft hat, war ein Château d’Yquem von 1811 mit allen Original-Zertifikaten. Er kostete um die 90'000 Franken.

Kann man so etwas noch trinken? Man kann. Und man sollte, wenn es nach Robert Parker geht. Der wohl bekannteste Weinkritiker der Welt hatte exakt diesen Wein einmal verkosten können. Und ihn umgehend mit der Maximalnote von 100 Punkten bewertet. «Es war eine Art flüssig gewordene Crème brûlée», notierte der Weinpapst, «ein unglaublicher Wein.»

Ähnliche Erfahrungen hat Fabio Cattaneo auch schon gemacht – wiederum beim Luxusgut Mouton Rothschild zum Beispiel. «Der Jahrgang 1945 ist einer der besten Weine, die je produziert worden sind», sagt er. Der 46er hingegen habe seine beste Zeit hinter sich.

Startkapital von der Familie

Als Cattaneo sich selbständig machte und seinen Weinhandel aufzugleisen begann, zeigten ihm die Banken zunächst die kalte Schulter. Das Startkapital kam von der Familie. Von der gleichen Familie notabene, die ihm eine klare Order gegeben hatte, als er als 18-Jähriger keine Lust aufs Studieren zeigte: «Geh arbeiten!»

Fabio Cattaneo tat wie geheissen und heuerte bei einem Geschäft für das Trading von Möbeln an. Das Trading an sich gefiel ihm sehr, für die Möbel indes konnte er sich nicht so recht erwärmen. Er wechselte nach London zum Weinhandelsunternehmen Fine + Rare, wo er auf den Geschmack kam. Nach drei Jahren war ihm klar: «Das ist mein Job. Ich will so etwas selber machen.»

Anders als das Londoner Unternehmen wollte Cattaneo indes nicht nur Broker sein, also nicht nur mit Weinen handeln, die physisch gar nie bei ihm waren. Er wollte auch ein Lager mit Raritäten haben und so in der Lage sein, einen önologisch ausgefallenen Kundenwunsch, etwa aus Tokio, innert 24 oder spätestens 48 Stunden zu befriedigen. Dafür wollte er modernste technologische Einrichtungen haben: Die zweite Person, die er rekrutierte, war ein IT-Spezialist. Heute zählt das Unternehmen 60 Mitarbeiter in der Schweiz und 10 in China.

Mit Blick in die Zukunft

Im Untergeschoss, ganz hinten, hat Cattaneo eben aus einer Art Schrein für die ganz grossen Spezialitäten eine Flasche herausgenommen – exakt 100 Jahre alt. Unweit davon lagern, akkurat durchnummeriert, Mouton-Rothschild-Flaschen von 1970 mit dem berühmten Etikett des Künstlers Marc Chagall. Doch Cattaneo, der alle Preise seiner Weine auswendig im Kopf weiss, arbeitet nicht nur mit dem Blick in die Vergangenheit – er schaut auch in die Zukunft: Findet er einen Wein mit Potenzial, versucht er, möglichst grosse Mengen davon einzukaufen.

Palettweise hat er etwa alle Top-Bordeaux von 2009 und 2010 geordert – «unglaubliche Jahrgänge», wie er schwärmt. Vom 09er Léoville Poyferré zum Beispiel hat er sich mit 20 Paletten eingedeckt. Heute koste die Flasche noch um die 200 Franken, der Jahrgang 1990, der nicht so gut ausgefallen sei, gehe schon für 300 Franken.

Ob die Rechnung mit dem Potenzial aufgeht, wird die Zukunft zeigen. Sehr wohl aufgegangen ist sie kürzlich für ein Geschäft, das wie der Plot für einen Hollywoodfilm anmutet.

Sagenhafte Sammlung

Die Geschichte des grossen Deals beginnt in Québec mit Starkoch Champlain Charest. Er führte das legendäre Bistro à Champlain in Sainte-Marguerite-du-Lac-Masson und war ein manischer Weinsammler: 30'000 Flaschen hatte er bald in seinem Keller, ihr Wert wurde auf rund sechs Millionen Franken geschätzt. Doch «es war zu viel Wein, um ihn selber zu trinken», so Charest: «Also verkaufte ich ihn an andere Weinliebhaber.»

Das vielleicht sagenhafteste Lot kaufte ein Goldman-Sachs-Banker, dessen Namen geheim gehalten werden muss. Es ging um 104 Sechs-Liter-Methusalem-Flaschen des Burgunder-Vorzeigeweingutes Romanée-Conti. Das Spezielle daran: Von den Jahrgängen 1989 bis 2003 waren lückenlos alle sieben Lagen des Produzenten mit jeweils einer Flasche vorhanden. Anders gesagt alle Namen, die Weinkenner zum Träumen bringen: Romanée-Conti, La Tâche, Richebourg, Romanée-St-Vivant, Grands Échézeaux, Échézeaux und Montrachet. Einzig der 92er Montrachet fehlte – gezwungenermassen, das Gut hatte diesen Jahrgang nämlich nicht vinifiziert.

Im Nachgang der Lehman-Brothers-Pleite suchte der US-Banker einen Abnehmer für die Rarität. Fabio Cattaneo liess sich nicht zweimal bitten und schlug zu. Mittlerweile ist die Sammlung verkauft. Zahlen werden nicht genannt, es soll aber einer der grössten Einzeldeals in der Feinwein-Branche gewesen sein.

Auch schlaflose Nächte

Hat ein Mensch, der 800'000 Flaschen beste Weine hortet und mithin ein gewaltiges Kapital gebunden hat, niemals schlaflose Nächte? «Doch, klar», sagt Cattaneo, das komme vor. In diesem Zusammenhang erinnert er sich sehr genau an den 15. Januar 2015, als die Schweizer Nationalbank den Euro-Mindestkurs aufhob.

Cattaneo war mit Kunden in Brasilien, als das Telefon piepste und eine SMS-Meldung seines CFO anzeigte. «Es war nicht lustig», sagt er trocken. Immerhin verlor er auf einen Schlag wertmässig 20 Prozent auf sein Lager. Die Kehrseite: «Wir haben umgekehrt dann auch sehr viel gekauft, als der Franken auf seinem Tiefpunkt war.»

Wein ist Chefsache

Und wer kauft die Spitzenweine? Mit 40 Prozent Marktanteil bleibt Asien die Nummer eins. Doch die Probleme rund um China haben Bremsspuren hinterlassen – 2011 waren noch 75 Prozent in die asiatischen Märkte gegangen. 40'000 Flaschen Château Lafite Rothschild hatte zum Beispiel Cattaneos Unternehmen in diesem Rekordjahr nach China geliefert, zu einem Durchschnittspreis irgendwo zwischen 800 und 900 Franken.

Da liegt die Befürchtung nahe, die feinsten Tropfen würden von neureichen Banausen allein aus Prestigegründen weggeputzt – vielleicht mit Eis gekühlt oder mit Cola gepanscht. Das gibt es natürlich auch. Aber er habe viele wahre Kenner mit Passion unter seiner Klientel, sagt Cattaneo: «Wir sind jeden Tag mit den reichsten Leuten der Welt in Kontakt.» Und wenn es um ihre Weine gehe, schickten sie nicht Laufburschen vor, sie gingen selber ans Telefon.

Weitere Weinboutiquen in Planung

Neuerdings hat Cattaneo ein Geschäft in Lugano, weitere Weinboutiquen sind geplant. Der Grund: Neben Gastronomie und Handel beliefert der Wein-Entrepreneur auch private Kunden. Und die sind in der jüngsten Zeit immer wichtiger geworden. Rund 30'000 seien es heute in der Schweiz.

Hat Cattaneo selber einen Lieblingstropfen? «Nicht wirklich», sagt er. «Ich verkoste fast jeden Tag einen neuen Wein. Da wechselt das ständig.» Eine Konstante gibt es aber: «Es ist eine Passion.»