François-Henry Bennahmias, welches war Ihr Highlight in den vergangenen Monaten?
Im Dezember hatten wir mit der ganzen Belegschaft ein Treffen zu unserer neuen Kollektion «Code 11.59 by Audemars Piguet». Die Energie in dem Raum war einfach unglaublich, und spätestens da wusste ich, dass wir etwas Gutes gemacht haben. Es war der schönste Tag in meinem Leben als CEO.
Was haben Sie Ihren Leuten erzählt?
Dass wir in den vergangenen 20 Jahren zwar immer wieder runde Uhren herausgebracht hätten, aber keinen Erfolg damit gehabt hätten, weil wir nie alle unsere Energie hineingesteckt hätten, um es richtig zu machen. Diesmal aber schon.
Was haben Sie anders gemacht?
Die ganze Arbeit an dieser Uhr hat uns veranlasst, den genetischen Code der Firma zu überdenken, Antworten zu finden auf Fragen wie: «Warum machen wir, was wir machen?». Wir haben uns gezwungen, uns bis ins kleinste Detail zu überlegen, wie wir das Produkt erklären, wie wir es lancieren, wie wir Leute ausbilden, wie wir liefern – einfach alles. Um das zu klären, haben wir viel unternommen.
Zum Beispiel?
Ich habe allen klargemacht, dass wir nicht unvorbereitet in die Schlacht ziehen können, und beispielsweise alle, die etwas mit der Vermarktung von «Code 11.59 by Audemars Piguet» zu tun haben, sowie das Management und den Verwaltungsrat im Oman versammelt. Dort gab es Präsentationen, Workshops und am Ende Drill mit ein paar ehemaligen Navy-Seals, die ich engagiert und gebrieft hatte.
«Die Ex-Navy-Seals liessen jeden Liegestütze machen und brüllten dann – Nase an Nase mit einem – Fragen über die neue Kollektion.»
Ups … Lernen auf die harte Tour also?
Ja. Stellen Sie sich vor, ein Raum von vielleicht 25 Quadratmetern, 20 Leute, Temperatur hoch. Die Ex-Navy-Seals liessen jeden Liegestütze machen und brüllten dann –Nase an Nase mit einem – Fragen über die neue Kollektion. Wer die Antwort nicht wusste, Liegestütze, Hüpfen, nochmals. Und so weiter.
Klingt nach einem ziemlichen Albtraum.
Kein Albtraum. Ein Film: «Bad Company» mit Anthony Hopkins und Chris Rock. Darin wird der Zwillingsbruder von Chris Rock gekidnappt, und er muss in die Rolle des verschwundenen Zwillings schlüpfen. Er wird trainiert, morgens um vier mit einem Kübel Eiswasser geweckt und dann gefragt, wer er ist. Am Ende des Trainings hat er seinen Bruder intus. Das war meine Inspiration.
Warum gingen Sie es so brachial an?
Um die Leute in die Situation zu bringen, die sie in der Realität meistern können müssen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Kunde und wollen wissen, was «Code 11.59 by Audemars Piguet» ist, und ich kann es Ihnen nicht auf die richtige Art und Weise erklären. Entweder mögen Sie die Uhr sowieso, und es ist Ihnen egal. Oder aber Sie merken, dass ich meinen Job nicht mache, und werden wütend. Und wissen Sie, was die menschliche Reaktion ist auf Wut? Wut – und kein Geschäft.
Audemars-Piguet-Fans reagierten ziemlich wütend auf die «Code 11.59». Es gab einen regelrechten Shitstorm. Waren Sie überrascht?
Ja, vor allem, dass er so massiv war. Das Gute daran: Name und Uhr waren in no time bekannt. Das Ganze war so gesehen das Beste, was uns passieren konnte.
Und für Sie persönlich?
Mich stachelt Kritik an. Ich bin ein Kämpfer.
Sie haben zurückgeschlagen?
Gar nicht, wir haben das einfach laufen lassen. Die Wellen gingen zu Beginn des Genfer Uhrensalons hoch, waren am Ende aber wieder verebbt. Spätestens da wussten wir, dass die Uhr ein Erfolg wird.
François-Henry Bennahmias (54) ist seit 2012 CEO von Audemars Piguet (AP). Die 144-jährige Uhrenmarke aus Le Brassus (VD) ist eine der wenigen, die sich noch in Familienbesitz befinden. Seit der Franzose und einstige Golfprofi das Steuer übernommen hat, hat sich der Umsatz auf über eine Milliarde Franken mehr als verdoppelt. AP beschäftigt weltweit 1600 Mitarbeiter, 1000 davon in der Schweiz.
Und wenn nicht?
Sie wird ein Erfolg – für uns ist sie es schon.
Inwiefern?
Die neue Kollektion ist eine Art Engel auf unseren Schultern. Es geht um viel mehr als eine neue Uhrenlinie. Rein mengenmässig ist sie fürs Erste nur eine kleine Veränderung, wir werden dieses Jahr ja nur 2000 Stück davon machen. Aber das erklärte Ziel ist es, dass sie in fünf bis sieben Jahren rund 25 Prozent unserer Gesamtproduktion ausmacht, also eine grosse Veränderung mit sich bringen wird.
Finden Sie denn Personal für das angestrebte Wachstum?
Als ich ankam, haben wir Leute verloren, weil sie nicht mehr zufrieden waren. Heute sind wir 1600 Angestellte und erhalten 2000 Bewerbungen im Monat.
Wie viele nehmen Sie?
2018 haben wir 200 Leute angestellt, aus allen Bereichen.
«Etwas wie der Uhrensalon Genf war super, ist uns aber nun zu statisch.»
«Code 11.59» ist nur eine von vielen Neuerungen, die Sie nun durchboxen: Sie meiden künftig Uhrenmessen, ziehen Audemars Piguet aus Multibrandgeschäften zurück, um eigene Läden zu eröffnen, sind neuer Hauptsponsor des Montreux Jazz Festivals. Wo ist der rote Faden?
Ich will die Kunden kennen lernen, mehr Zeit mit ihnen verbringen. Ich möchte wissen, wer sie sind, wo sie sind. Ergo schaffen wir Möglichkeiten, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Etwas wie der Uhrensalon Genf war super, ist uns aber nun zu statisch, zumal wir nicht mehr alle Uhren an einem einzigen Ort und zu einem einzigen Zeitpunkt lancieren.
Warum?
Weil es ein Feuerwerk von Neuheiten gibt, von allen. Zum Teil können wir Neuheiten nicht vor Juli oder Oktober liefern. Wenn wir dann auf den Markt kommen, sind sie Old News, und wir müssen sie relaunchen.
Künftig verkaufen Sie Ihre Uhren auch in schicken Apartments. Warum?
Richtig reiche Leute gehen nicht mehr in Läden, sondern schätzen Diskretion. Ausserdem wollen wir, dass Leute nicht nur für den Uhrenkauf zu uns kommen. In AP Houses verbringen sie erfahrungsgemäss auch mehr Zeit als in einer Boutique. Das gibt Verbindung.
Sind die AP Houses Ihre Idee?
Nein, ein ehemaliger Kollege aus den USA hat es in New York geschafft, mit nur zwei Uhrenmarken, unserer und Richard Mille, die er im dritten Stock eines Gebäudes in SoHo verkaufte, innert drei Jahren einen Umsatz von 80 Millionen Dollar zu generieren. Als ich das mitbekam, war mir klar: Das ist die Zukunft des Einzelhandels.
Die Zukunft von Audemars Piguet sind junge Kunden. Wie finden Sie die?
Zum Beispiel, indem ich an Universitäten Referate halte.
Worüber?
Über die Marke, über mich, und ich frage, wie es kommt, dass ein Typ wie ich, der nie einen Fuss in eine Institution wie diese gesetzt hat, ein Milliardenunternehmen führt.
Und?
Ich picke mir zehn Leute heraus, stelle sie in eine Reihe, flüstere dem Ersten etwas ins Ohr, der flüstert es dem Nachbarn und so weiter. Der Letzte sagt, was er gehört hat. Fakt ist: Was reingeht, ist immer etwas völlig anderes als das, was rauskommt. Die Lektion: Es geht nicht darum, was man den Leuten sagt, sondern darum, was die Leute verstehen. Meine Regel Nr. 1.
«Ich hatte Angst – und der Verwaltungsrat auch. Deshalb haben sie mir zuerst einmal den Ad-interim-Titel gegeben.»
Das erklärt nicht, wie Sie zu diesem Job gekommen sind.
Ich habe in Amerika das Geschäft ziemlich erfolgreich aufgebaut und geführt. Als es einen neuen CEO brauchte, haben sie mich ins Rennen aufgenommen. Ins Finale schafften es ein Externer und ich. Am Ende haben sie mir den Posten angeboten.
Und Sie haben sich das einfach so zugetraut?
Nein. Ich hatte Angst – und der Verwaltungsrat auch. Deshalb haben sie mir zuerst einmal den Ad-interim-Titel gegeben.
Und was für einen Auftrag?
Ich fragte VR-Präsidentin Jasmine Audemars unter vier Augen: «Was wollen Sie von mir?» Sie sagte nur: «Ich glaube nicht, dass wir dort sind, wo wir es verdienen zu sein.» Mehr nicht. Für mich war es offensichtlich, wo sie hinwollte. An die Spitze. Und davon waren wir sehr weit entfernt. Stellen Sie sich die Uhrenbranche an einem grossen Tisch vor. Da sass Audemars Piguet immer auf einem Tabourettli in der zweiten Reihe.
Nun sitzen Sie mit den Grossen am Tisch.
Es hat für mich viel zu lernen gegeben, und ich habe von Anfang an alles gegeben, ad interim hin oder her. Für mich gibt es nämlich nur Entweder-oder. Und so hat es sich auch angelassen. Schon an meinem dritten Tag hatte ich einen Vorschlag auf dem Tisch, um einen Zifferblatthersteller zu kaufen. Oder aber anzufangen, die Zifferblätter selber herzustellen. Beides kostete einen zweistelligen Millionenbetrag. Noch nie zuvor hatte ich etwas unterschrieben mit solchen Dimensionen.
«Ich dachte nur, drei Tage da, Millionen ausgegeben, bämm!»
Welche Variante haben Sie abgesegnet?
Ich habe zwei Leute angerufen und gefragt, warum sollten wir kaufen, warum sollten wir es selber machen? 17 Minuten später habe ich entschieden, dass wir es selber machen, und unterschrieben. An dem Tag ging ich ziemlich geflasht ins Hotel – ich hatte ja noch keine Wohnung hier – und dachte nur, drei Tage da, Millionen ausgegeben, bämm!
Ein guter Entscheid?
Ja, heute stellen wir über 20 000 Zifferblätter im Jahr her, das war ein guter Move. Es machte Sinn, wir haben ein weiteres Handwerk inhouse für unsere Marke.
Derzeit bauen Sie in Le Brassus ein eigenes Hotel. Was steckt hinter diesem Investment?
Das Hotel bauen wir nicht für uns, sondern für das Vallée de Joux als Ganzes. Ich glaube ja, dass hohe Lagen eine grosse Zukunft vor sich haben. In fünf bis zehn Jahren werden viel mehr Menschen ihre Ferien in der Höhe verbringen, weil sie frische Luft wollen, Wald, sauberes Wasser. Berge werden das nächste grosse Ding. Wenn ich könnte, dann würde ich investieren.
Könnten Sie doch, bei dem Erfolg, den Sie haben, sind Sie sicher reich geworden.
Definieren Sie reich.
Viel, viel mehr haben, als man braucht.
Wäre ich superreich, würde ich sicher nicht an diesem Tisch sitzen und mit Ihnen reden. Ich wäre in hohen Höhen am Investieren.
Hat der Job Sie eigentlich verändert?
Total. Er hat mich zum Wachsen gebracht. Ich bin ein besserer Mensch geworden, ich habe ein anderes Mindset, und ich bin in Frieden mit mir. Mehr als je.
Ihr Mindset?
Ich bin ein Wettbewerber, in allem. Ganz egal, ob ich Uhren verkaufe oder Golf spiele. Ich will besser sein.
Apropos, Ihr Handicap?
Ich war ein Profi, jetzt habe ich eine 9. Was schauen Sie so?
Nicht gerade top für einen ehemaligen Profi, oder?
Ah, das höre ich nicht gern. Aber danke, ich werde mich an diese spitze Bemerkung von jetzt an stets erinnern, wenn ich auf der Driving Range bin.
«Ich sage meinen Leuten immer, versage, aber mach. Man lernt so viel dabei.»
Das klingt nach einem Trauma.
Ist es vielleicht auch. Ich bin in Paris geboren und aufgewachsen in diesem lateinischen System, in dem einem vorgehalten wird, dass man etwas nicht gut kann oder macht. Typisches Beispiel: Als 13-Jähriger in einer neuen Schulstufe erreichte ich im ersten Mathetest 2 von 20 Punkten. Im zweiten hatte ich 8. Was bekam ich zu hören? Ich war immer noch schlecht. In den USA hätte man mir gesagt: Besser, mach weiter so. Von da kommt auch mein Mantra: Do or do not, there is no try. Ich sage meinen Leuten immer, versage, aber mach. Man lernt so viel dabei.
Sind Sie ein Chef, der zieht oder antreibt?
Beides. Ich pushe meine Leute, damit sie ihre Leute mitziehen, anders geht das bei 1600 Mitarbeitern gar nicht. Es heisst nicht von ungefähr: ein Mitarbeiter, ein Problem, zwei Mitarbeiter, drei Probleme – je eins, das jeder selber hat, und ein drittes, das die beiden miteinander haben.
Woher nehmen Sie eigentlich Ihre Energie?
Hatte ich immer. Ausser in der Schule, da hatte ich null Drive, ich mag es nicht, belehrt zu werden, das langweilt mich. Ich lerne, während ich etwas tue.
Und woher kommt Ihr Name?
Der ist griechisch. Mein Vater ist Jude, die Mutter Katholikin, ich bin aber nicht religiös.
Sie glauben nicht an Gott.
Nein, ich glaube an Menschen – und an mich. Das hilft.
Dieses Interview erschien in der April-Ausgabe 04/2019 der BILANZ.