Der Mann hat den schönsten Job der Welt: Dave Vernon, Mittvierziger, very British, ein zurückhaltender Typ, der mit jedem gut auskommt. Muss er auch. Vernon ist Chauffeur von Beruf, und er steuert eines der schönsten Automobile der Welt, einen Arnage R, eine Bentley-Limousine, knapp 400 000 Franken teuer.
Mit diesem Luxuswagen fährt, besser gesagt: gleitet der Chauffeur über britische Landstrassen, an grünen Matten und roten Backsteinhäusern vorbei, meist vom Flughafen in Manchester direkt nach Crewe, einer Kleinstadt, rund vierzig Kilometer entfernt. Vernon chauffiert Geschäftsleute, gekrönte Häupter, betuchte Kunden, die nur eines in die mittelenglische Provinz verschlägt: Bentley.
«Welcome to Bentley Motors», steht in silberfarbenen Lettern auf weissem Grund, daneben der typisch rote Backstein einer Fabrikfassade. Hier werden Bentley gefertigt; im Jahre 2004 waren es exakt 6576 Stück, ein Rekord in der Geschichte des Autobauers. Gebaut werden die Continental-Baureihe, ab einer Viertelmillion Franken zu haben, und die Arnage-Familie, klassische Luxuslimousinen, im Minimum 400 000 Franken teuer. Hinter einer grossflächigen Glastüre befindet sich das Allerheiligste von Bentley: die Produktion.
Fast klinisch saubere Atmosphäre. Auf glänzend geschrubbten Betonböden spiegelt sich das Licht der Deckenverglasung. Hier herrscht keine Fliessbandhektik, kein ohrenbetäubender Lärm, kein Gestank nach Öl und Benzin – dafür herrscht überraschende Ruhe. Entlang langer Strassen wird zusammengeschraubt, geschweisst, montiert. Die Arbeiter tragen keine Overalls, sondern moosgrüne klassische Poloshirts, auf der Brust das geflügelte B, das Firmenemblem von Bentley. Und sie tragen es wieder mit Stolz. Etwa Tim Moors, seit 28 Jahren bei der Firma, der sagt: «Jeder Bentley ist ein Unikat. Zwei gleiche, das gibt es nicht.»
Moors hat noch andere Zeiten erlebt. Etwa die frühen Achtziger, als in der Fabrik an der Pym’s Lane Rolls-Royce-Motoren zusammengebaut wurden, weil Bentley und Rolls-Royce denselben Besitzer hatten. In der Fabrikhalle roch es nach Pflanzen- und Mineralöl und versengtem Metall. «Alles war mit Schweisstropfen bedeckt», urteilte der einstige Rolls-Royce-PR-Manager Ian Adcock später im Fachblatt «Automobilrevue». Und als die Rezession jener Zeit dem Luxuswagenhersteller schwer zu schaffen machte, als gar 1500 Entlassungen angekündigt wurden, streikten die Werkarbeiter wochenlang und bewarfen den damaligen Chef in ihrer Wut schon mal ganz unbritisch mit brühend heissem Tee.
Dunkle Vergangenheit. 1998 hatte die deutsche Volkswagen den Konzern mit den beiden Traditionsmarken Rolls-Royce und Bentley für 1,2 Milliarden Franken übernommen, und vier Jahre später wurde hier der letzte Rolls-Royce zusammengeschraubt, ein Corniche Convertible in Silver-Ghost-Lackierung mit der Werknummer ZKH 02079. Dies markierte das Ende einer Ära – seither werden die Rolls-Royce-Luxusautomobile in Bayern unter den Fittichen von BMW gefertigt, Crewe ist reines Bentley-Land (siehe Nebenartikel «Erfolgsgeschichte: Wiederbelebung des Flying B»).
«Als Rolls ging», sagt Moors und macht eine abwehrende Handbewegung, «dachten wir, that’s the end.» Sein Arbeitskollege David G Preece, der seine Lehre bei Rolls-Royce absolviert hat und seit 1959 für die Firma arbeitet, doppelt nach: «Crewe», sagt er schmunzelnd und lässt einen Goldzahn aufblitzen, «war für uns immer Rolls-Royce.» Und die neuen Besitzer aus dem Volkswagen-Konzern stellten mit irritiertem Erstaunen fest, dass sich dieses Bewusstsein anscheinend unerschütterlich in den Köpfen der Belegschaft festgesetzt hatte. «An meinem ersten Arbeitstag in Crewe traf ich auf lauter Angestellte, die in Rolls-Royce-Arbeitskleidung herumliefen», sagt Vertriebschef Adrian Hallmark, der von Porsche kam, «ich hatte das Gefühl, der Einzige zu sein, der hier für Bentley arbeitete.»
Mit dem Einstieg der Deutschen begann in Crewe allen Widerständen zum Trotz eine neue Zeitrechnung. Der VW-Konzern investierte in das Werkgelände 750 Millionen Euro, und kaum ein Stein blieb auf dem anderen an der Pym’s Lane: Elf Millionen Euro flossen in neue Logistikeinrichtungen, zehn Millionen in ein neues Qualitätssicherungszentrum, neun Millionen in die Vergrösserung der Holzwerkstätten.
Holz: unabdingbare Ingredienz eines jeden Bentley. In der modern aufgemöbelten Holzverarbeitung herrscht feucht dampfendes Waschküchenklima, es riecht nach Holz. Aus einer Art überdimensioniertem Dampfkochtopf ziehen Arbeiter einen gymnastikballgrossen Ballen aus Nusswurzelholz. «Fünf Tage lang hat der gekocht», sagt einer von ihnen, «jetzt wird er geschält.» Im Trockenraum liegt das Ergebnis dieser schweisstreibenden Arbeit auf meterhohen Paletten. Wild gemusterte Platten aus American Redwood, Birds Eye oder Walnussholz, das Rohmaterial für die traditionellen Innenverkleidungen des Bentley. Und die Arbeiter pflegen ihr Qualitätsbewusstsein mitunter mit ihrem ureigenen britischen Humor. Im Showroom ist eine Holzmaserung der besonderen Art ausgestellt, darüber steht: «Normally we do the natural.» Wer die Maserung genauer fixiert, erkennt deutlich das Bild eines Totenkopfes. Ein unverkäufliches Unikat, das immerhin einen britischen Witzbold zu einem zweiten, darunter stehenden Satz inspiriert hat: «Occasionally we manage the supernatural.»
Meist jedoch ist für Bentley nur das Natürlichste gut genug: Ein paar Schritte von der Holzverarbeitung entfernt werden Rinderhäute verarbeitet, und es verbreitet sich der unverwechselbare Geruch von gegerbtem Leder. Beige, braun, rot oder schwarz gefärbt hängen die Naturprodukte über Metallstangen. Dahinter versteckt, rattern Nähmaschinen. 39 Frauen verarbeiten das Leder auf deutschen Dürkopp-Adler-Maschinen zu Sitzbezügen. Andere Frauen nähen mit gekrümmten Nadeln und von Hand Innenverkleidungen an Bentley-Türen – acht Tage brauchen sie für eine einzige Tür.
Handarbeit gehört zu Bentley wie das Flying B auf der Kühlerhaube oder die Spezialwünsche betuchter Kunden. An einem Continental GT bauen die Bentley-Mechaniker 170 Stunden, an einem Arnage inklusive aller Extras rund 400 Stunden. Allein an einem Lenkrad hobelt, feilt und lackiert ein einzelner Arbeiter rund 22 Stunden, und selbst ein Autoschlüssel ist derart aufwändig bearbeitet, dass er gut und gerne 400 Pfund kosten kann. «In jedem unserer Autos», sagt Bentley-Oldie Tim Moors und zeigt auf ein buntes Knäuel von Kabeln, das in einem noch skelettierten Fond einer Karosserie liegt, «sind zweieinhalb Kilometer Kabel verlegt.» Handarbeit auch das.
Handarbeit braucht Hände. Seit die Deutschen bei Bentley eingestiegen sind, ist die technische Entwicklung auf 550 Ingenieure und vierzig Designer angewachsen; die Zahl der Mitarbeiter im Konzern schnellte um über 1000 auf mittlerweile 3800 hoch. Eine Erfolgsgeschichte zweifellos. Den letzten Skeptiker in Crewe überzeugten die neuen Besitzer aber erst, als sie beschlossen, am prestigeträchtigen 24-Stunden-Rennen von Le Mans mit einem Bentley an den Start zu gehen. Für den Einstieg in das Renngeschehen aktivierten die VW-Manager das vorhandene Know-how im Konzern – schliesslich hatte die Konzerntochter Audi im Jahr 2000 mit einem R8 dieses Rennen gewonnen. Im Jahr darauf ist auch ein Bentley EXP Speed 8 in Le Mans am Start. Zwar gewann ein Audi R8, wie auch im Jahr darauf; 2003 jedoch gewann Bentley mit einem Doppelsieg. Es war der sechste Sieg eines Bentley in Le Mans und eine Reverenz vor der Geschichte dieser Automarke, die im Jahr 1919 von Walter Owen Bentley – kurz W.O. gerufen – gegründet worden und deren Nimbus in den frühen Jahren eng mit Le Mans verknüpft gewesen war.
W.O. Bentley, Fliegerhauptmann a.D., 31 Jahre jung, begann nach dem Ersten Weltkrieg mit gepumpten 8000 Pfund mit der Produktion von Automobilen; 1919 kam ein erster Bentley auf den Markt, ein Vierzylinder mit drei Litern Hubraum. Fünf Jahre später fuhr ein grünfarbener Bentley mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 86,5 Kilometern in der Stunde im Langzeitmarathon in Le Mans erstmals zum Sieg – wie dann in den Jahren 1927 bis 1930. Es war die Zeit der Superlative: 1929 fuhr ein Bentley Speed Six einen Start-Ziel-Sieg heraus; ein anderes Mal überquerten sogar vier Bentley gleichzeitig die Ziellinie und realisierten den wohl prestigeträchtigsten Vierfachsieg in der Geschichte des Automobils. «Alle Sport-, Renn- und Reisewagen von W.O. Bentley sind überlegen in der Leistung, funktional und perfekt im Finish», urteilt Walter Steinemann in seinem Standardwerk «Faszination auf Rädern: Rolls-Royce & Bentley», «sie holen auf den Rennstrecken Sieg um Sieg, auf der Strasse Sympathien und Auszeichnungen.»
Als im Jahr 1929 die Weltwirtschaftskrise ausbrach, brach auch der Absatz von Bentley-Luxuslimousinen ein, und als die Investorengruppe, welche die Bentley Motors Ltd. über all die Jahre finanziert hatte, ihre Unterstützung zurückzog, geschah der GAU: Bentley musste Konkurs anmelden. Verzweifelt versuchte W.O. Bentley, neue Geldgeber zu finden, und er wurde fündig. Wenige Tage vor Ablauf der Optionsfrist reichte eine unbekannte Firma namens British Central Equitable Trust ein um 20 000 Pfund höheres Angebot ein und erhielt den Zuschlag – dieses Unternehmen war im Besitz von Rolls-Royce. So gingen 1931 das Werk, der Markenname und die Konstruktionspläne in die Hände von Rolls-Royce über. Bentley-Automobile wurden fortan auf der Basis der Rolls-Royce-Technologie gefertigt.
Es sind die neuen Besitzer aus Deutschland, die ein Menschenleben später das Rad zurückgedreht haben. Sie trennen Bentley und Rolls-Royce wieder – und schlagen erst noch ein neues Blatt in der Geschichte des britischen Luxuslimousinen-Herstellers auf. Im Jahr 2004 lancieren sie mit dem Continental GT eine neue Modellreihe. Es ist der erste vollständig unter Leitung von VW konzipierte Bentley, der an ein historisches Modell aus den fünfziger Jahren anknüpft, aber auch auf Technologie aus dem VW-Konzern zurückgreift: Der Zwölf-Zylinder-Motorblock stammt vom VW Phaeton, die Allradtechnologie von Audi; beides ist für dieses Bentley-Modell exklusiv weiterentwickelt worden (siehe Nebenartikel «Beispiele: Ausgewählte Bentley-Modelle»).
«Zu schön für diese Welt», titelte euphorisch die «NZZ am Sonntag» über dieses Automobil; «fantastisch, sexy und zutiefst schick», urteilte die «Weltwoche»; «der Volks-Bentley», kommentierte die «Süddeutsche Zeitung» die gelungene Kombination von «britischer Tradition und Hightech aus dem VW-Konzern». Und diese «liaison amoureuse» ist nun ausgeweitet worden: 2005 mit der viertürigen Limousine Continental Flying Spur, und Ende 2006 kommt das Cabrio Continental GTC auf den Markt.
Mit der noch in Zusammenarbeit mit Rolls-Royce entwickelten exklusiven Arnage-Modellreihe ergibt dies ein schönes Portefeuille von Bentley-Automobilen. «Der Arnage ist Haute Couture», sagt Bentley-Marketingdirektor Mark Tennant, «und Continental ist Pret-à-porter.» Die Kunden, so scheint es, stehen wieder Schlange bei Bentley in Crewe: Die Queen hat schon einen, ein Geschenk der Firma zum 50-Jahr-Jubiläum ihrer Regentschaft, ebenso das amerikanische Model Cindy Crawford, Pop-Ikone Elton John oder Fussballgott David Beckham – der liess auf den Ledersitzen sogar die Namen von Frau und Kindern einsticken.
So viel Zuspruch der Schönen und Reichen dieser Welt erstaunt nicht, und einen, der es wissen muss, am allerwenigsten: «Ich habe noch nie einen Menschen hinter einem Bentley-Lenkrad gesehen, der nicht ein Lächeln auf den Lippen gehabt hätte», sagt Bentley-Chauffeur Dave Vernon. Fragt sich nur, ob das Bentley-Werk in Crewe mit der steigenden Nachfrage wird Schritt halten und die Schwelle zu einer jährlichen Produktion im fünfstelligen Bereich wird bewerkstelligen können. Für den obersten Bentley-Chef ist dies gar keine Frage; Bentley sollen auch in Zukunft kein Massenprodukt werden: «Wir bauen immer ein Auto weniger, als der Markt verlangt», sagt Franz-Josef Paefgen. Sicher ist für ihn nur eines: «Ohne Volkswagen gäbe es Bentley nicht mehr.» Mittlerweile gibt es in Crewe wohl niemanden mehr, der diesem Statement widersprechen wollte.