Luciano Floridi, in Ihrem Buch «Die 4. Revolution» schreiben Sie: Kopernikus, Darwin und Freud stehen für die ersten drei Revolutionen der Wissenschaft, der Informatiker Alan Turing für die vierte. Was meinen Sie damit?
Luciano Floridi*: Kopernikus änderte unsere Selbstwahrnehmung: Plötzlich realisierten wir, dass wir nicht das Zentrum des Universums sind, sondern auf einem kleinen Planeten um die Sonne kreisen. Danach gab sich der Mensch die Hauptrolle wenigstens auf dem Planeten Erde: als König der Lebewesen. Darwin war die zweite Revolution, indem er mit seiner Evolutionstheorie darlegte, dass wir das nicht sind, sondern nur ein Produkt der biologischen Entwicklung auf der Erde. Auch das hat unsere eigene Wahrnehmung komplett verändert.
Was hat das mit Freud und Turing zu tun?
Der nächste Schritt des Menschen war: Wenn wir schon nicht die Wichtigsten im Universum und auf der Erde sind, dann sind wir doch immerhin die Herren unseres Geistes – wir bestimmen, was wir tun. Freud zeigte mit seiner Psychoanalyse, das mit uns viel mehr passiert, als wir bewusst wahrnehmen und kontrollieren können. Das war die dritte Revolution. Und jetzt sind wir in der vierten, der digitalen Revolution, ausgelöst ursprünglich von Alan Turing, der in den dreissiger und vierziger Jahren die Basis der Informatik legte.
Und diese vierte, digitale Revolution besagt was?
Das menschliche Gehirn sieht sich gerne als Ausgangspunkt: Ich verstehe die Welt um mich herum. Aber der Mensch ist auch nicht der Mittelpunkt der Welt der Information. Die meisten Finanztransaktionen werden heute von Computern ausgeführt, ohne unser Zutun. Heutige Waffensysteme basieren auf enorm schneller Erkennung von Ereignissen und Reaktionen, ohne dass ein Mensch darauf noch Einwirkung hat. Ein modernes Auto kann selbst einparken – wenn es genug Informationen hat für seine Aufgabe. Wir sind also nicht mehr die Einzigen, die Informationen verarbeiten können – wir teilen diese Fähigkeit mit Geräten, die wir erbaut haben.
Luciano Floridi (53) ist Professor für Philosophie und Informationsethik und Direktor des Digital Ethics Lab der University of Oxford. Floridi gehört dem Google-Expertenbeirat zum Thema «Recht auf Vergessen» an. Er beriet zudem die EU-Kommission als Vorsitzender der Forschungsgruppe zur Auswirkung der Informationstechnologie. Der gebürtige Römer wurde mit zahlreichen Preisen geehrt.
Die Erkenntnis, dass wir nicht einzigartig sind, was Informationsverarbeitung angeht, ist die Wurzel vieler unserer Ängste.
Luciano Floridi
Und die vierte Revolution halten Sie für die dramatischste?
Es wurde mit jeder Revolution dramatischer: Jedes Mal wurde uns klar, dass der Mensch nicht im Zentrum steht – kosmisch, biologisch, mental, informationsmässig. Und jedes Mal wurde es schmerzhafter. Denn die Nischen, wo sich der Mensch in den Mittelpunkt stellen kann, werden immer kleiner.
Ist das der Grund, warum viele Menschen Angst haben vor der Digitalisierung?
Ja. Die Erkenntnis, dass wir nicht einzigartig sind, was Informationsverarbeitung angeht, ist die Wurzel vieler unserer Ängste. Digitalisierung hat vermeintliche Gewissheiten zerstört und eine Welt von Ungewissheiten geschaffen. Und der Mensch hat Angst vor dem Unbekannten und vor dem Wandel.
Zumal die Geschwindigkeit des Wandels kontinuierlich steigt. Wie soll der Mensch damit umgehen?
Da muss man unterscheiden: Wir, Sie und ich, sind die einzige Generation der Menschheit, die den Wandel von einer voll analogen Welt in eine zunehmend digitale erlebt. Das ist ein gewaltiger Schritt für die Menschheit, aber er wird nur einmal gemacht.
Das heisst, die Digital Natives werden nicht mehr die gleichen Anpassungsschwierigkeiten haben wie die heutige Generation?
Genau. Wir sind in einer Welt aufgewachsen, in der Autos, Tankstellen, Autobahnen selbstverständlich sind. Das heisst nicht, dass jeder von uns einen Führerschein hat. Aber wir können uns in dieser Welt zurechtfinden. Für die junge Generation ist es selbstverständlich, dass man 24 Stunden verbunden ist, dass man online einkauft etc. Das heisst nicht, dass alle programmieren können. Aber alle können sich in dieser Welt zurechtfinden – sie kennen keine Welt ohne Google, Amazon, Facebook. Und wenn man in eine Technologie hineingeboren wird, lernt man rasch, auch wenn sie sich sehr schnell weiterentwickelt: Wer ein iPhone 7 benutzen kann, für den ist der Schritt zum iPhone 8 nur noch klein.
Wie müssen sich Bildung und Ausbildung wandeln, damit die Menschen mit der Digitalisierung Schritt halten können?
Ich würde fünf-, sechsjährige Kinder die Sprachen der Information lehren: Die Muttersprache müssen sie beherrschen als Universalschlüssel, um ihre Gedanken zu kontrollieren und um sich auszudrücken. Aber dann auch Musik, Mathematik, Statistik, Logik. Denn Physik und Biologie basieren auf Statistik, und jede Programmiersprache basiert auf Logik. Wenn Sie diese Sprachen beherrschen, beherrschen Sie die Welt. Dann können Sie Informationen designen, generieren, verarbeiten und nicht nur konsumieren. Dann gibt es für Sie nichts Unerreichbares mehr!
Im Zeitalter der Industrialisierung sagten Pessimisten den Untergang der Mittelklasse voraus, heute fürchten manche das Gleiche wegen der Digitalisierung. Wie sehen Sie das?
Die Risiken sind gross, aber die Chancen grösser. Nur diesmal geht alles viel schneller: Die Agrar-Revolution hat Jahrtausende gebraucht, bis sie die Welt veränderte. Also hatten wir Jahrtausende, um die Fehler zu korrigieren, die dabei gemacht wurden. Bei der industriellen Revolution waren es Jahrhunderte – und es hat ein paar Generationen gebraucht, bis die Fehler korrigiert wurden, etwa Kinderarbeit. Die digitale Revolution dauert nur noch Jahrzehnte. Die Beschleunigung ist also enorm. Der Einsatz ist daher deutlich höher: Wir können in kurzer Zeit viel mehr gewinnen, aber auch viel mehr verlieren. Ja, es gibt ein Untergangsszenario – aber es wird aufgewogen durch ein Szenario, in dem wir so viel mehr Wohlstand generieren, so viel besser leben, weniger arbeiten etc.
«Technologie ist disruptiv, ja, aber sie generiert auch so viel Wohlstand.»
Luciano Floridi
Also kein Anlass zur Sorge?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die grossen Horror-Stories lauern um die Ecke. Donald Trump ist auch dank der Digitalisierung ins Weisse Haus gewählt worden, Stichwort Cambridge Analytica. Das ist ein Desaster. Aber stellen Sie sich vor, durch Technologiemissbrauch wird jemand noch Verrückteres ins Weisse Haus gewählt, und der wirft dann eine Atombombe über Nordkorea ab – das ist dann wirklich ein Untergangsszenario. Technologie ist disruptiv, ja, aber sie generiert auch so viel Wohlstand. Apple und Amazon haben die Billionengrenze überschritten, was ihre Marktkapitalisierung angeht. Die grosse politische Frage wird sein: Wie werden wir diesen Reichtum verteilen?
Wie also stellt man sicher, dass die Gewinner der Digitalisierung nicht nur im Silicon Valley und im Crypto Finance Valley zu finden sind, sondern auf der ganzen Welt?
Ganz einfach: Stellen wir sicher, dass diese Firmen etwas an die Gemeinschaft zurückgeben. Philanthropie ist sehr wichtig und in den USA auch weit verbreitet.
Vielleicht bei Gründern, aber nicht bei den Firmen.
Es stimmt, das reicht nicht. Das zweite Mittel sind Steuern. Damit kann man sicherstellen, dass der Wohlstand durch die Gesellschaft sickert. Momentan passiert das aber nicht. Weil die grossen Technologiefirmen die Regeln so ausnutzen, dass sie kaum Steuern zahlen. Ich würde an ihrer Stelle das Gleiche tun. Die Regeln sind falsch, nicht, was diese Firmen mit den Regeln machen.
In der Industrialisierung entwickelte sich in Europa die Arbeiterbewegung. Werden durch die Digitalisierung ebenfalls neue Schichten und Interessengruppen entstehen?
Das wünschte ich mir. Aber ich sehe derzeit nicht, wie das geschehen soll. Dank digitaler Technologien werden Dienste für das Individuum massgeschneidert. Das atomisiert die Gesellschaft. Sie organisiert sich nicht mehr, wenn sie sich beschweren will. Es ist viel leichter, gegen den Chef zu protestieren, wenn wir alle jeden Tag an den gleichen Ort zum Arbeiten kommen. Aber wenn jeder in einer 1:1-Beziehung als Selbständiger arbeitet – wie spreche ich mich da mit dem Kollegen ab? Die Schwelle ist viel höher. Aber ausgeschlossen ist es nicht – denken Sie an die Proteste der Essenskuriere in London.
Erwarten Sie neue soziale Konflikte als Folgen der Digitalisierung?
Die passieren bereits, denken Sie an das Wiedererstarken des Rechtspopulismus in Europa und in den USA oder an den Brexit. Wenn Sie sich anschauen, wer gegen den Brexit gestimmt hat: die Menschen in London, Oxford, Cambridge – also die gebildeten, wohlhabenden Schichten. Dafür gestimmt hat der Norden Englands, Menschen mit niedriger Bildung, hoher Arbeitslosigkeit, wirtschaftlich gefährdet. Wenn das kein sozialer Konflikt ist, was dann? Aber es ist eine neue Form.
«Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde den Wohlstand besser verteilen, und es würde Europa attraktiver machen.»
Luciano Floridi
Was halten Sie von der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens, um die Ungleichverteilung zu reduzieren?
Das wäre eine Möglichkeit. Davon sind wir zwar noch sehr weit entfernt, momentan ist das nicht machbar. Das heisst aber nicht, dass es keine gute Idee ist. Mein Traum wäre es, das europaweit einzuführen – der dafür nötige Wohlstand wäre vorhanden. Es muss am Anfang auch nicht viel sein, vielleicht fünfhundert Euro, und das Geld müsste nach Bedürftigkeit vergeben werden. Aber es würde den Wohlstand besser verteilen, und es würde Europa attraktiver machen. Und ich glaube nicht, dass die Leute deshalb fauler werden oder weniger arbeiten. Man ist faul oder nicht, egal, ob man ein paar hundert Euro mehr oder weniger hat. Und manche Leute hätten damit erstmals die Möglichkeit, sich unternehmerisch zu betätigen und kalkulierte Risiken einzugehen.
Die Digitalkonzerne stehen in der Kritik wie nie, eben mussten die Chefs von Google, Facebook und Twitter vor dem US-Kongress aussagen. Wundert Sie die neue Skepsis gegenüber den Techgiganten?
Es wundert mich nicht, aber es enttäuscht mich, wie die Firmen darauf reagieren. Die wehren sich immer noch mit Händen und Füssen, doch sie sollten gute Player in der Gesellschaft sein – aus eigenem Interesse. Gerade diese Firmen brauchen eine gesunde soziale Welt, wenn sie geschäftlich erfolgreich sein wollen. Ich verstehe nicht, warum Twitter-CEO Jack Dorsey sich bis vor kurzem weigerte, rechtsextreme Accounts zu sperren. Die Redefreiheit steht nicht über allen anderen Menschenrechten, die anderen Menschenrechte sind genauso wichtig.
Diese Firmen werden ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung also auch Ihrer Ansicht nach nicht gerecht?
Nicht mal der Verpflichtung gegenüber ihren Aktionären. Ethik ist langfristig ein gutes Geschäft, auch wenn es kurzfristig teuer sein mag. Wenn die Gesellschaft gesund ist, gedeiht das Geschäft.
Die Digitalkonzerne werden immer grösser, immer wertvoller, immer mächtiger. Ihre Chefs sind nicht demokratisch gewählt. Ist Digitalisierung am Ende eine Gefahr für die Demokratie?
Das Risiko besteht. Google, Facebook, Twitter sind Monopolisten in ihrer Branche. Amazon wird de facto zum Monopol, zum einzigen Geschäft in Ihrer Stadt. Weniger Wettbewerb bedeutet weniger Rechenschaft und damit eine grössere Gefahr für die Demokratie. Wir brauchen mehr Wettbewerb. Unser Kartellrecht stammt noch aus dem 19. Jahrhundert, das muss dringend modernisiert werden. Warum etwa machen wir uns keine Sorgen um die Autoindustrie, obwohl sie noch grösser und mächtiger ist und diese Macht missbraucht, Stichwort Dieselskandal? Weil es dort starken Wettbewerb gibt und das aller Voraussicht nach auch so bleiben dürfte.
«Es gibt ein grosses Missverständnis darüber, worum es bei KI geht. Da geht es nicht um Intelligenz.»
Luciano Floridi
Sie halten künstliche Intelligenz (KI) für überbewertet. Warum?
Wir sind in einer Hype-Blase. Das ist sehr amüsant. Die Leute denken, KI werde jedes Problem lösen. Wenn man heute einen Businessplan hat, muss man nur noch ein bisschen KI drüberstreuen, und jeder wird das lieben. Aber auch hier wird die Ernüchterung kommen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem, was möglich ist, und dem, was bezahlbar ist. Vielleicht entwickelt ja jemand eines Tages einen Roboter, der meine Gläser reinigt. Aber wenn dieser Roboter 20 000 Dollar kostet, putze ich trotzdem lieber selber. Dieser Hype wurde angefeuert durch die Industrie selbst, die sehr hohe Erwartungen schürt. Und es gibt ein grosses Missverständnis darüber, worum es bei KI geht. Da geht es nicht um Intelligenz.
Sondern?
Die Leute meinen, man könne nun die Mechanismen eines Computers mit der menschlichen Intelligenz verheiraten. Das ist nicht der Fall. Es ist tatsächlich das Gegenteil: eine Trennung. Man trennt die Fähigkeit, ein Problem erfolgreich zu lösen, von der Notwendigkeit, intelligent zu sein. Mein iPhone kann viel besser Schach spielen als jeder Mensch. Aber dazu muss es nicht intelligent sein. Es versteht nichts, ist nicht flexibel, kann nicht verschiedene Aufgaben lösen, es lernt nicht, es versteht keine Semantik. Jeder Hund ist klüger. Das heisst, ein Gerät muss nicht intelligent sein, um Schach zu spielen. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird sein, herauszufinden: Wie wird diese Trennung von Problemlösungsfähigkeit und Intelligenz unsere Gesellschaft verändern?
Das heisst, eine künstliche Intelligenz als mein nächster Chef ist nicht zu befürchten?
Doch, leider kann das passieren, weil irgendjemand so dumm ist, das auszuprobieren. Das gäbe ein Desaster. Es wird auch Hotels geben, die Roboter als Concierge einführen. Aber die Hotels werden so viele Beschwerden bekommen von ihren Gästen, dass sie davon bald wieder Abstand nehmen. Man kann auch eine völlig autonome Killerdrohne bauen, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz eigenständig den Feind niedermäht. Aber es wäre komplett dumm. Und die Verantwortung für alles, was dann schiefgeht, liegt nur bei uns.