BILANZ: Mit Studenten der ETH Zürich haben Sie die zeitgenössische Badezimmerkultur untersucht. Wie kam es dazu?
Dirk Hebel: Das ist eine Forschung, die wir seit längerem betreiben. Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie das 20. Jahrhundert unser Denken und unser architektonisches Handeln geprägt hat. Indem wir uns dessen bewusst werden, hoffen wir, unsere eigene Position genauer definieren zu können.
Was ist bisher dabei herausgekommen?
Jörg Stollmann: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchten Architekten den Schulterschluss mit Medizinern, Ingenieuren und der Industrie, um effiziente Wohnräume zu entwickeln. Den modernen Menschen sollten sie dabei unterstützen, mit relativ wenigen Handlungsabläufen sein alltägliches Leben effizient und produktiv zu gestalten. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Meinen Sie mit «Schulterschluss», dass die Architektur sich vorgegebenen baulichen Normen anpassen muss?
Stollmann: Richtig. Seit den dreissiger Jahren haben die Architekten mit diesen Fachleuten eng zusammengearbeitet. Es bestand eine Faszination, die Wohnung, die Architektur als Maschine zu betrachten, in der ein Rädchen perfekt ins andere passt, ohne Fehlfunktion, ohne Raum für Ineffizienz. Wir haben uns deshalb gefragt: Ist das richtig so? Sind Architekten nur noch jene, die innerhalb dieser kollektiv akzeptierten Effizienz ein bisschen Gestaltung, Farbe, Oberfläche, Komposition bestimmen?
Was soll gute Architektur können?
Hebel: Sie soll danach fragen, wie wir leben. Und das nicht nur unter dem Aspekt der Effizienz und der Ökonomie des alltäglichen Lebens, sondern auch unter Gesichtspunkten wie Emotionalität und Irrationalität.
Prägen wir damit unseren Lifestyle?
Stollmann: Genau. Es gibt natürlich Architekten, die sagen: «Mein Gott, mit Lifestyle beschäftige ich mich nicht, das ist mir zu unseriös.» Wenn man Lifestyle aber anders definiert, nämlich als tägliche Rituale, Wünsche, Hoffnungen, Sehnsüchte, aber auch Enttäuschungen oder Rückschläge von Menschen, dann hat er einen sehr interessanten Aspekt für uns.
Zum Beispiel?
Hebel: Wir hinterfragen Dinge, die man haben zu müssen glaubt. Etwa eine superteure und hoch aufgerüstete Küche. Das ist im Moment der absolute Hit und mehr und mehr das Vorzeigeobjekt eines Neubaus.
Die Küche ist ein Prestigeobjekt?
Hebel: Na klar. Sie ist der Ort im Haus, wo am meisten Geld investiert wird, sie ist ein Lifestyle-Produkt geworden. Je teurer und effizienter, desto besser. Nirgendwo im Haus wird so viel Aufwand und Forschung betrieben wie dort: abwaschbare, veredelte Oberflächen, leichtgängige Schubladen, sofortiges Absaugen von Kochdünsten usw. Dahinter steckt die Angst vor mangelnder Hygiene. Es darf um Gottes willen nicht schmutzig riechen oder aussehen! In diesem Repräsentationszweck liegt meiner Meinung nach die Vermarktung. Es ist eine Strategie, Küchen aufzurüsten, dadurch werden sie zum Statussymbol. Hat aber schon jemand gefragt, ob die Küche als solch perfekt organisiertes Objekt überhaupt die einzig mögliche Raumlösung ist?
Und wie ist das beim Badezimmer?
Hebel: Das Badezimmer ist auf dem Weg dorthin. Man versucht, das Bad mit Düften, Lichtstimmung, Sound und dergleichen als Lifestyle zu verkaufen, der bessere Menschen produziert, ausgeglichene und entspannte. Ganz im Denken der Moderne, etwa Corbusiers.
Das ist der Moment, wo Sie einhaken?
Stollmann: Wir sehen es kritisch, dass viele Interieurs künstlich aufgeladen werden. Und die Leute glauben, das nachleben zu müssen, was ihnen von den Medien als Bedürfnis verkauft wird, ohne zu hinterfragen, was ihnen persönlich wichtig ist. Das finde ich fragwürdig. Unser Ansatz ist es, diese Prozesse zu verstehen und leicht zu modifizieren. Alltag ist Normalität. Dies interessiert uns. Wir haben versucht, das auf den Raum umzulegen.
Klingt spannend. Aber unter kostenspezifischen Aspekten wird eine solche Bauweise sicher schwierig.
Hebel: Zum Glauben an die Effizienz gehört auch die Kosteneffizienz. Das ist einfach so. Das ist natürlich auch in der Architektur so, es wird immer zuerst nach den Kosten gefragt. Es geht in unserer Untersuchung darum, mit diesen kleinen Elementen zu spielen. Wenn wir einen Auftrag im sozialen Wohnungsbau hätten, würden wir diese Methode genauso anwenden, architektonisches Denken steht nicht im Gegensatz zu kostengünstigen Lösungen.
Wie haben Sie das Thema angepackt?
Stollmann: Zunächst haben wir analysiert, wie die Leute über die Jahrhunderte hinweg assen, badeten, sich pflegten, wie sich also Rituale und Formen der Raumbenützung entwickelten. Interessant ist, dass es lange gar kein Badezimmer gab – die Leute gingen in Badehäuser. Erst durch das Aufkommen von Seuchen wie Pest oder Cholera galt Wasser als Krankheitsüberträger, und die öffentlichen Häuser verschwanden. Die Leute hörten dann im 15., 16. und 17. Jahrhundert für eine ganze Weile lang auf, sich mit Wasser zu waschen.
Und die Moderne wollte sich dagegen abgrenzen?
Hebel: Genau. Gegen den Schmutz, weil er angeblich Krankheiten produzierte. Und somit auch gegen so genannt schmutzige Architektur. Die Moderne versprach den Menschen, durch die Architektur zu heilen. Hygiene wurde auf einmal zum zentralen Begriff, aus hygienischen Gründen sollte das Schlafen nicht mit dem Kochen, dem Baden, dem Wohnen vermischt werden. Da erst wurde angefangen, die verschiedenen Raumtypen gegeneinander abzugrenzen. Das galt übrigens im Kleinen wie im Grossen, man grenzte auch Industriequartiere von Wohnquartieren und Erholungsgebieten ab – absurd. Und am Ende des 20. Jahrhunderts haben wir diese Normierung nun so weit vorangetrieben, dass immer mehr dieser kleinen Raumeinheiten geschaffen wurden, die bei uns heute Standard sind.
Ist die Frankfurter Küche ein Resultat dieser Normierung?
Hebel: Ja. Sie war die erste Zweizeilenküche und wurde nicht aus ästhetischen oder räumlichen Überlegungen so gebaut, sondern richtete sich danach, wie die Bewegungsabläufe der Hausfrau am effizientesten sind. Der menschliche Körper wurde also vermessen, dokumentiert, empirisch untersucht und durch Durchschnittswerte festgehalten.
Das ist die Grundlage unserer heutigen Küchenbauweise?
Hebel: Ja. Und auch derjenigen des Bades. Auf Grund dieser Werte hat man Küchen und Badezimmer gestaltet. Man hat genau festgelegt, wie gross etwa die Abstände zwischen den einzelnen Elementen sein müssen. Diese Resultate der Untersuchungen haben sich mit der Zeit verselbständigt. Viele Architekten haben sich auf diese Resultate des 20. Jahrhunderts abgestützt, um Raum- und Bautypen festzulegen – bewusst oder unbewusst.
Sie haben gesehen, dass diese Normen gesprengt werden wollen. War das Ihr Ausgangspunkt?
Stollmann: Die sozialen Zusammensetzungen haben sich verändert, und nicht nur das, sondern auch unser gesellschaftliches Verständnis von dem, was öffentlich ist und was privat oder intim. Oder auch gesund oder krank. Alles wird heute öffentlich am Fernsehen diskutiert: Gewichtsprobleme, Beziehungskrisen usw. Neben diesem Exhibitionismus gibt es aber auch eine gewisse Scheu und Prüderie. Wir haben uns deshalb gefragt: Kann man noch sagen, das Bade- oder das Schlafzimmer sei der intimste Ort? Wir haben keine abschliessende Antwort darauf. Es hat Änderungen gegeben, und dem wollten wir auch mit unseren Studierenden zusammen nachgehen.
Wie ging das vor sich?
Hebel: Wir haben geschaut, welche Pflegerituale es heute gibt, und haben dann untersucht, inwieweit diese noch den Räumen und der Raumaufteilung entsprechen. Dann haben wir uns gefragt, ob man diese nicht ganz anders im Haus disponieren könnte. Das führte zu neuen Architekturentwürfen, die auch formale Klischees oder Bautypologien wie das Hochhaus oder das Einfamilienhaus in Frage stellten. Das heisst, ein Nachdenken über das Bad lässt Rückschlüsse auch über die äussere Erscheinungsform unserer Architekturen zu.
Und das Ergebnis war revolutionär: Sie haben mit den Studierenden Architekturen entworfen, die ohne eigentliches Badezimmer auskommen. Warum?
Hebel: Von Revolution würde ich nicht sprechen, aber wir haben festgestellt, dass sich das Badezimmer von 1920 bis Ende des 20. Jahrhunderts in der Grösse durchschnittlich fast verdreifacht hat. Wir fragten uns deshalb: Wie gross kann es noch werden? Was heisst es, wenn nachher 100 Prozent des Hauses Baderaum sind? Wir betrachteten das Badezimmer nicht mehr als Enklave, sondern sagten uns, dass verschiedene rituelle Handlungen auch anderswo im Haus stattfinden können.
Und wie funktioniert das?
Stollmann/Hebel: Einer der Studierenden, Silvan Furger, hat etwa die Idee entwickelt, verschiedene Geschwindigkeiten der Morgentoilette einzuführen. Wir alle kennen das ja: Der Wecker klingelt, man bleibt noch ein bisschen liegen und hat auf einmal nur noch zehn Minuten Zeit. Alltag sozusagen, das ist die Norm, die uns interessiert, nicht die Badewannenbreite. Also könnte man doch Treppe und Bad verbinden. Die Kinder rennen die Treppe hinunter, duschen und putzen sich die Zähne dabei, nehmen ihre Sachen aus dem Schrank und sind in fünf Minuten aus dem Haus. Das ist der Schnellweg für die Wochentage. Aber im ganzen Haus könnte es auch andere, langsamere Zonen geben, von denen man nicht wüsste, ob sie nun das Bad bildeten, in dem man seine Hygienerituale macht, oder ob sie dafür da wären, um Klavier zu spielen. Das ganze Haus wird quasi Pflegekontinuum, wo ich alles machen kann: fernsehen, bügeln, baden, mich rasieren oder kochen.
Ist es das, was Sie architektonisch für ideal halten?
Stollmann: Da hat sich viel geändert. Früher haben Architekten den idealen Menschen im Kopf gehabt, für den sie bauten. Mit unserem Wissen können und wollen wir das nicht. Wir entwickeln Methoden, mit denen wir feststellen wollen, worin die Potenziale für die Architektur liegen. Bloss keine idealen Lösungen mehr für ideale Menschen!