Letzte Woche habe ich einen prächtigen Vogelzug über dem Mittelland gesehen. Ich glaube, es waren Singdrosseln, die nach ihren Winterferien an der Côte d’Azur oder der Costa del Sol wieder in die Schweiz zurückkehrten. Sie flogen in der klassischen V-Formation.
Ich schaute dem Schwarm lange zu. Dabei fiel mir Daniel Graber ein. Graber war bei uns zuerst Rechtskonsulent, wechselte dann ins operative Geschäft und wurde schliesslich Executive Vice President. Er war nicht der Typ, der sich in Sitzungen als dominante Führungsfigur in den Vordergrund drängte, mitunter war er eher ein passiver Teilnehmer in unserer Runde. Wenn wir ein grösseres Problem hatten, dann allerdings blühte er vielfach auf. Er sagte dann: «Lasst mich das bitte machen, ich glaube, ich finde eine Lösung.»
Graber hatte das Prinzip der Vogelzüge und ihrer V-Formation begriffen. Das Prinzip lässt sich gut auf die Unternehmensrealität übertragen. Es lautet: Wenn du dauernd die Führung übernehmen willst, wirst du abstürzen. Wenn du dauernd im Windschatten bleiben willst, stürzt du genauso ab. Der Mix daraus gibt dir die richtige Flughöhe.
Vogelzüge gehören in den Fachbereich der Schwarmintelligenz und sind gut erforscht, weil sie das Funktionieren von komplexen Organisationen erklären können. Die Vögel fliegen in Keilformation. Es geht dabei weniger um den Windschatten, um den Luftwiderstand zu reduzieren, wie das etwa bei Radrennfahrern üblich ist. Entscheidender ist der Auftrieb, der jeweils durch den Flügelschlag des vor ihnen fliegenden Vogels erzeugt wird.
Auftrieb ist eine Energiefrage, die organisiert werden muss. Vogelschwärme wechseln darum permanent die Teamstruktur. Jeder Vogel fliegt in der Formation maximal ein paar Kilometer vorneweg und übernimmt den Lead, dann lässt er sich zurückfallen. Wer zu lange hinten verweilt, wird nach vorn geschickt, wer zu lange an der Spitze bleiben will, wird zurückgestuft.
Damit wären wir wieder bei Graber. Graber war ein guter Manager, weil er jeweils nur vorübergehend die Führungsrolle übernahm. Er wusste, wann er vorne zu fliegen hatte und wann er besser in den Auftrieb der Co-Vögel zurückzufallen hatte.
Deswegen machte Graber eine hübsche Karriere. Er kombinierte die Sozialkompetenz, den Einsatz für das Gesamte, geschickt mit seinem Führungswillen, also dem Einsatz für sich selbst. Viele grosse Persönlichkeiten beherrschten diese Balance zwischen Mannschaftsgeist und Ego. Napoleon zum Beispiel war ein guter Teamworker, aber wenn es darauf ankam, riss er oft die Befehlsgewalt an sich.
Auch Vogelschwärme sind in diesem Sinn keine basisdemokratischen Organisationen, die ohne Hierarchie auskommen. Es gibt in jedem Schwarm Vögel, die deutlich häufiger an der Spitze fliegen als die andern. Diese Rolle wird von den anderen akzeptiert. Die Chef-Vögel gehen dann an die Spitze, wenn es Schwierigkeiten gibt und etwa ein Gewitter umflogen werden muss.
Vogelzüge unterliegen den Prinzipien des Projektmanagements. Nur zweimal im Jahr versammeln sich die Tiere zu einem gemeinsamen Projekt, ansonsten leben sie frei von Strukturen und Hierarchien. Jeder, der schon mal in Projekten mitgearbeitet hat, kennt darum das Problem. Wenn die Projektleitung zu dominant ist, scheitert das Vorhaben, weil das Team zu wenig mitzieht. Wenn das Team zu dominant ist, führt das zu endlosem Palaver, und man verliert die Flugrichtung.
Frei wie ein Vogel – das gibt es weder in Vogelzügen noch in Unternehmen.
Napoleon war ein guter Teamworker, aber wenn es darauf ankam, riss er oft dieBefehlsgewalt an sich.
Kurt W. Zimmermann ist Verlagsunternehmer, Kolumnist und Buchautor zu den Themen Medien, Biologie und Outdoor-Sport.