Der Countdown läuft: Rund um den Globus fiebern die Menschen dem Anpfiff zum WM-Eröffnungsspiel Russland - Saudi-Arabien im Luschniki-Stadion von Moskau entgegen. Allen voran die 32 Nationaltrainer. Ab dem Anpfiff am 14. Juni um 17 Uhr geht es für sie um alles. Die Augen aller werden auf sie gerichtet sein.
Der Erfolgsdruck ist gross, der Posten ein Schleudersitz: Von den 32 Nationaltrainern, die ihre Mannschaften 2014 zur WM nach Brasilien geführt haben, sind mittlerweile nur noch fünf im Amt. Deutschlands Teamchef Joachim «Jogi» Löw gehört ebenso zu den «Überlebenden» auf der Bank wie Uruguays Óscar Tabárez. Mit ihren zwölf Jahren an der Spitze sind beide eine Ausnahmeerscheinung.
Durchschnittlich 4,1 Jahre im Amt
Durchschnittlich sind die Coaches, die dieses Jahr zur WM antreten, 4,1 Jahre in Charge, wobei dieser Schnitt von Löw und Tabárez ordentlich hochgeschraubt wird. Die Mehrheit ihrer Konkurrenten – 25 Trainer – kommt nicht auf vier Jahre, drei nicht einmal auf ein halbes: Australien-Coach Bert van Marwijk, Serbien-Trainer Mladen Krstajic und Japans Taktgeber Akira Nishino sind erst 2018 berufen worden und übernehmen von einem Trainer, der ihre Nati immerhin an die WM gebracht hat.
Zeit für grosse Aufgaben wie Training, Taktik und Mannschaftsaufstellung sowie auch Zeit, um aus ihren Schützlingen ihr Team zu formen, haben sie wenig – was gemäss Ottmar Hitzfeld, der von 2008 bis 2014 die Schweizer Nati trainierte, matchentscheidend ist. Er sagt: «Teamgeist ist das Wichtigste.»
Hohe Erwartungen
Dass die besten Kicker nichts bringen, wenn das Wir-Gefühl fehlt, haben Les Bleus 2010 eindrücklich vorgeführt, und dass der Spirit Chefsache ist, ihr jetziger Trainer Didier Deschamps. Er hat die Équipe Tricolore 2012 übernommen und den Haufen zerstrittener Egoisten wieder zu einer Mannschaft verknüpft. In einem Interview sagte «DD» dazu: «Fussballerisches Können ist essenziell, die sozialen Aspekte und der Teamgeist sind es auch.»
Für sein Geschick wird Deschamps mit einem Jahressalär von 4,18 Millionen Franken vergleichsweise grosszügig honoriert. Er verdient gleich viel wie der hoch motivierte Brasilien-Coach Adenor Leonardo Bachi aka «Tite».
Am 17. Juni muss der Schweiz-Trainer Vladimir Petkovic gegen diesen antreten. Nervös? «Ich will jetzt nicht über unser Spiel vom 17. Juni sprechen», sagt Petkovic Mitte Mai, «unser nächstes Spiel ist am 3. Juni in Spanien. Für mich ist immer das nächste Spiel das wichtigste, ganz egal, ob Test oder WM.» Und wie gross ist der Druck? «Druck? Wenn Druck einhergeht mit Erwartungshaltung, dann freut es mich, zu vernehmen, dass uns die Menschen in der Schweiz viel zutrauen», so der Schweizer Chefmotivator.
Den Nati-Trainer gibt es nicht
Den Nati-Trainer zu finden, ist der Ehrgeiz jedes nationalen Fussballverbands. Nur: Den Nati-Trainer gibt es nicht. Um das festzustellen, reicht ein Blick in die CVs der Trainer. Gernot Rohr zum Beispiel coacht mit Nigeria nach Gabun, Niger und Burkina Faso schon das vierte Team in Afrika. Der Isländer Heimir Hallgrímsson dagegen lebt sein Fussballtrainer-Gen erst seit der EM 2016 voll aus. Davor war er auch als Zahnarzt mit eigener Praxis tätig.
Allen amtierenden WM-Coaches gemeinsam ist: Sie haben auf dem Rasen klein angefangen wie Jogi Löw, der einst Spielertrainer des FC Frauenfeld war. Den Richtigen zu finden, das ist die Aufgabe des jeweiligen Verbandes. Die grösste Herausforderung dabei? Alex Miescher vom Schweizerischen Fussballverband sagt: «Wie bei den meisten Kaderstellen: Erst die Ergebnisse zeigen, ob die Wahl richtig war.»
Vergleichbar mit Manager-Posten
Stichwort Kaderstelle: «Der Job eines Nationaltrainers ist mit dem eines Spitzenmanagers vergleichbar», sagt Babett Lobinger, Dozentin am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln, «denn Führung ist absolut zentral.» Dem Vergleich mit der Privatwirtschaft hält König Fussball auch in Sachen Geld locker stand. In den Topligen tummeln sich lauter Grossverdiener. «Man will natürlich anständig bezahlt sein», sagt Vladimir Petkovic dazu. Er hat 2017 eine Million Franken verdient.
Geld ist auch im Fussball, was es in der Wirtschaft ist: Schmieröl und Motor zugleich. Profifussball ist Big Business, die betriebliche Logik funktioniert nach dem Gesetz: Je mehr Spiele gespielt werden, desto mehr Geld lässt sich verdienen. In der Studie «Football Money League» errechnet die Wirtschaftsprüfungsfirma Deloitte, dass die 20 umsatzstärksten Clubs der Welt es 2018 zusammen auf über acht Milliarden Euro Umsatz bringen. Die Topscorer heissen Manchester United mit 676,3 Millionen Euro Umsatz, gefolgt von Real Madrid mit 674,6 Millionen und Barcelona mit 648,3 Millionen.
Die wichtigste Einnahmequelle sind TV-Übertragungen, sie spülen gemäss Deloitte rund 45 Prozent der Umsätze in die Kassen der Vereine und bescheren auch Nationalmannschaften einen Geldsegen. «Allein wegen der TV-Vermarktung haben sich in den letzten 15 Jahren die Einnahmen der nationalen Verbände im Schnitt mindestens verdreifacht», sagt Christoph Breuer, Sportökonom an der DSHS in Köln. «Auch die Löhne der Nationaltrainer sind stark angestiegen.»
Quelle: Total Sportek
Vereinstrainer verdienen deutlich mehr
Finanziell sind Nati-Trainer verglichen mit den Stars der Clubszene aber nach wie vor Leisetreter. Beispiel Deutschland: Jogi Löw ist mit 4,6 Millionen Franken zwar der bestbezahlte Trainer an der WM, sein Gehalt aber ist ein Klacks verglichen mit dem der Vereinskollegen: Bestverdiener unter ihnen ist José Mourinho, der es auf rund 31 Millionen Franken bringt. Manchester Uniteds Teammanager verdient damit etwa genauso viel wie die zehn bestbezahlten WM-Trainer zusammen. Etwas kleiner wird der Abstand dank lukrativer Werbeverträge, die Top-Nationaltrainer wie Löw einstreichen können. «Die Faustregel besagt, dass diese bis zu dem Dreifachen dessen ausmachen können, was die Trainer als Gehalt vom Verband bekommen», sagt Sportökonom Breuer.
Für das Lohngefälle zwischen Club- und Nationaltrainer wird gern mit dem Schlagwort Stress jongliert. Topvereine absolvieren an die 50 Spiele im Jahr, die Nationalmannschaft dagegen, wenn es hoch kommt, gerade mal 15. Viel mehr Spiele gleich viel mehr Stress? Das will Ottmar Hitzfeld so nicht stehen lassen. «Ein Clubtrainer hat zwar mehr nervliche Belastung in den Spielen, weil er einfach mehr Spiele hat», sagt er, «ein Nationaltrainer aber steht permanent unter Druck.»
Während ein Vereinstrainer eine Niederlage direkt verarbeiten und sie wenige Tage später im nächsten Spiel wiedergutmachen könne, trage ein Nationaltrainer eine Schlappe wochenlang mit sich herum. «Die psychische Belastung ist immer da, nur schwer auszublenden, schliesslich fühlt man sich einem ganzen Land gegenüber verantwortlich.»
Nati-Coaches sind Kopfarbeiter
Dennoch: Ein paar Spiele im Jahr für ein Millionensalär – Nati-Coach gilt nicht von ungefähr als ziemlich cooler Job, und das nicht nur in den Köpfen von Amateuren und Laien. Der Schweizer Marcel Koller, von 2011 bis 2017 Österreichs oberster Fussballtrainer, erinnert sich bestens an das Rencontre seiner Vorstellungen mit der Realität: «Unter Nationaltrainer habe ich mir einen schönen Job vorgestellt, bei dem ich alle paar Monate mit der Mannschaft zusammen bin», lacht der 57-Jährige. «Ich musste aber schnell merken, dass die Aufgabe äusserst intensiv ist.»
Nati-Coaches sind Kopfarbeiter, ihre Aufgabenstellung hat es in sich: Aus einer Horde Spitzenfussballer, die irgendwo auf der Welt unter Vertrag sind, ein erfolgshungriges Team zu formieren, ist hohe Leadership-Schule, zumal die Trainer ihre Spieler selten zu Gesicht bekommen. «Man beginnt immer wieder von vorn und muss vieles wieder und wieder erklären und definieren, damit jedem klar ist, was von ihm erwartet wird», so Hitzfeld. Das Wissen, was man vom einzelnen Spieler und von der Mannschaft als Ganzem erwarten kann, verlangt nach minutiöser Vorbereitung.
Persönlicher Kontakt zu den Spielern ist das A und O
Auf die Frage, wie für ihn als Trainer der Österreicher ein normaler Arbeitstag ausgesehen habe, antwortet Koller, den habe er zwar durchaus im Ernst-Happel-Stadion verbracht, allerdings nicht auf dem Rasen, sondern am Schreibtisch. Fernseher, Computer und Handy nennt er seine wichtigsten Arbeitsinstrumente; Spielerbeobachtung, Videosequenzen und Datenanalysen die Grundlage für seine Entscheide und den persönlichen Kontakt zu seinen Spielern das A und O. «Analyse und Planung stehen absolut im Vordergrund», sagt er.
Das lehrt auch Daniel Niedzkowski, Chef der DFB-Trainerausbildung. Allein die Zusammenstellung des Kaders erfordere ein Höchstmass an Akribie und Fleiss, sagt er. Zwar haben die Coaches beim Anpfiff nur 23 Spieler dabei, auf dem Radar haben sie jedoch ein Vielfaches davon. «Bei Jogi Löw können das an die 50 Spieler sein, von denen er jederzeit im Detail wissen muss, wie ihr Leistungsstand ist», sagt Niedzkowski, «allein schon um sagen zu können, warum er einen Spieler nicht aufbietet.» So geschehen im Fall von Mario Götze. Löw lässt den Dortmunder Starkicker überraschenderweise zu Hause. Grund: «Formtief». «Als Bundestrainer muss ich leider manchmal Träume platzen lassen», so Jogi Löw.
Traumjob
Der Posten Nationaltrainer mag aufreibend sein, ein Traumjob ist er alleweil. «Es ist das höchste Amt, das man als Trainer erreichen kann», sagt Fussballexperte Marcel Reif, der schon in allen grossen Stadien Europas als Kommentator Platz genommen hat. «Von der Bedeutung her überflügeln sie Vereinstrainer schon allein deshalb, weil es pro Land nur einen gibt. Übertrifft der die Erwartungen, ist er der Held einer ganzen Nation.» Erfüllt er sie nicht, wird er zum Buhmann.
Tite hat die Schmach von Belo Horizonte, als die Brasilianer im WM-Halbfinal gegen Deutschland 1:7 verloren, wiedergutzumachen. Sie hat den damaligen Seleção-Trainer Luiz Felipe Scolari den Job gekostet und lastet noch immer schwer auf der brasilianischen Fussballseele: «Gol da Alemanha» ist heute das geflügelte Wort, wenn irgendwas schiefläuft im brasilianischen Alltag.
Die Mannschaften sind aufgestellt, die Analyse geht weiter. «In täglichen Trainersitzungen sprechen wir ab, warum wer was wann wo wie und wie lange macht», sagt Petkovic. In Stein gemeisselt wird nichts, alles wird von Spiel zu Spiel neu gedacht. Auf dass alles passt. Passt es, schenkts ein; den Deutschen sind für die Titelverteidigung 350 000 Euro versprochen. Passt es nicht, droht dem Coach der Rausschmiss.
Petkovic und Löw verlängerten bereits
Apropos Schleudersitz: Die Verträge von Petkovic und Löw sind bereits vor der WM verlängert worden. Eine schöne Zusage – Akira Nishino, der das japanische Team eben erst übernommen hat, hätte kaum unterschrieben. Sein Vertrag endet mit der WM. Sollte es ihm gelingen, die Japaner stolz zu machen, wird neu verhandelt. Falls nicht, kann er abtreten als der, der es wenigstens versucht hat.
Der Portugiese Carlos Queiroz, der seit 2011 im Iran coacht und die Mannschaft zur Nummer eins Asiens gemacht hat, sieht schwarz. Er muss gegen Portugal und Spanien antreten und beantragte, früher als geplant mit dem Training beginnen zu können. Das wurde ihm verwehrt. Nun geht das Gerücht, dass er kündige. Und zwar aus Protest.
Mitarbeit: Iris Kuhn-Spogat