BILANZ: Was haben Sie gegen Freihandel einzuwenden?

Ha-Joon Chang: Ich bin nicht gegen Freihandel per se. Ein gewisses Mass an Handelsliberalisierung kann sehr nützlich sein. Aber wenn ein Land seine Grenzen zu früh oder zu schnell öffnet, wird es kaum je einen hohen Grad an wirtschaftlicher Aktivität erreichen.

Nach gängiger Lehrmeinung fördert der Abbau von Handelshemmnissen das Wirtschaftswachstum und erhöht den Wohlstand aller Beteiligten. Halten Sie dies für eine Irrlehre?

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Unter bestimmten Voraussetzungen trifft es schon zu. Wenn ein Land die
nötigen Stärken und Fähigkeiten besitzt, wirkt Freihandel prinzipiell wachstumsfördernd. Entscheidend für den Erfolg einer Marktöffnung ist jedoch die ökonomische Ausgangslage, in der sich eine Volkswirtschaft befindet.

Generationen von Ökonomiestudenten wurde eingetrichtert, dass stets beide Seiten vom Güteraustausch profitieren. Selbst dann, wenn einer der Handelspartner auf sämtlichen Gebieten weniger wettbewerbsfähig ist als der andere. Lag David Ricardo mit seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile falsch?

Die Theorie von Ricardo ist eine statische. Gerade das verleiht ihr so viel Eleganz und Überzeugungskraft. Kurzfristig profitieren alle vom Freihandel; in diesem Punkt hatte Ricardo absolut Recht. Was mich hingegen interessiert, ist die Entwicklung des langfristigen Potenzials einer Volkswirtschaft.

Gerade auf lange Sicht führt Abschottung doch zum Stillstand. Oder etwa nicht?

Wäre es Ländern mit tiefem industriellem Entwicklungsstand nicht erlaubt, sensible Teile ihrer Industrie vor internationaler Konkurrenz abzuschirmen, bestünde die Gefahr, dass solche Länder in der landwirtschaftlichen Produktion stecken bleiben. Um sich weiterzuentwickeln, brauchen sie Schutzzölle und Subventionen.

Sie plädieren für einen dosierten Protektionismus?

1959 versuchte Toyota zum ersten Mal, Autos in die USA zu exportieren. Das Experiment endete in einem Flop. In Japan löste der Misserfolg eine grosse wirtschaftspolitische Debatte aus. Freihandelsbefürworter argumentierten, dass sich ein Land wie Japan, das seinerzeit über eine geringe Kapitalausstattung, dafür aber über viele billige Arbeitskräfte verfügte, nicht auf die Herstellung kapitalintensiver Güter spezialisieren sollte. Andere plädierten für den langfristigen Aufbau einer eigenen, wettbewerbsfähigen Industrie. Zum Glück für das Land haben sich Letztere durchgesetzt. Heute ist Toyota drauf und dran, Nummer eins auf dem Weltmarkt zu werden.

Was können wir daraus lernen?

Ohne protektionistische Massnahmen ist es kaum möglich, kompetitive Industriezweige aufzubauen. Hätte sich Japan nicht während Jahrzehnten vor ausländischer Konkurrenz geschützt, wäre es heute noch immer ein armes Agrarland und würde keine Technologiegüter, sondern Seide exportieren.

Selbst Länder wie die USA oder Grossbritannien, die sich gerne als Advokaten des Freihandels profilieren, scheinen beim Aufbau ihrer eigenen Industrien auf protektionistische Massnahmen gesetzt zu haben.

Dies ist ja gerade der springende Punkt. Um ihre Wirtschaft zur Blüte zu bringen, bedienten sich diese Länder sehr aggressiver Schutz- und Subventionsstrategien. Während über eines Jahrhunderts – von zirka 1830 bis nach dem Zweiten Weltkrieg – schotteten sich die USA mit den weltweit höchsten Industriezöllen ab. Im Übrigen stammt auch die Idee, wirtschaftlich zurückgebliebene Länder sollten ihre Industrien durch Zölle und Subventionen schützen, aus den Vereinigten Staaten. Es war nicht – wie allgemein angenommen – der deutsche Nationalökonom Friedrich List, sondern US-Schatzsekretär Alexander Hamilton, der dies 1791 als Erster gefordert hat. Millionen von Menschen in aller Welt haben Hamiltons Gesicht schon gesehen, wissen aber nicht, welche Rolle der Mann auf der Zehn-Dollar-Note in der Wirtschaftsgeschichte gespielt hat.

Haben die Industriestaaten, die heute einer forcierten Marktliberalisierung das Wort reden, ihre eigene Geschichte verdrängt?

Nicht nur sowjetische Diktatoren haben versucht, die Geschichte umzuschreiben. Im 19. Jahrhundert plädierte die Mehrzahl der amerikanischen Ökonomen für protektionistische Massnahmen. Doch mit dem Aufstieg der USA zu einer führenden Wirtschaftsmacht setzte sich die Ansicht durch, dass diese unnötig seien, und Hamiltons Doktrin geriet allmählich in Vergessenheit.

Wollen Sie damit andeuten, dass die ökonomische Lehrmeinung Modezyklen unterliegt?

Unter Ökonomen ist das Bekenntnis zum Freihandel zu einer Art Mitgliederausweis geworden. Nach dem Motto: Wer nicht daran glaubt, ist kein richtiger Ökonom. Kommt dazu, dass an den Universitäten seit vielen Jahren vornehmlich Ökonometrie und mathematisches Modellieren angesagt sind. Hingegen lassen sich nur wenige Studenten für Wirtschaftsgeschichte begeistern, womit die Gefahr besteht, dass viele übersehen, dass die Geschichte des Freihandels im Lauf der Jahrhunderte neu geschrieben wurde.

Verbauen Sie sich mit derartigen Aussagen nicht Ihre wissenschaftliche Karriere?

Ich habe mich zu einer akademischen Laufbahn entschlossen, weil ich sagen will, was ich denke. Wenn ich etwas sagen müsste, an das ich nicht glaube, würde ich wenigstens überdurchschnittlich dafür bezahlt werden wollen. Dann hätte ich ja gleich bei einer Investment Bank oder einer Beratungsfirma anheuern können.

Im Ernst?

Tja, für Leute wie mich ist der Beruf eine Fortsetzung des politischen Kampfes. Seit ich dieses Buch hier veröffentlicht habe, erhielt ich viel Unterstützung und Zuspruch von allen möglichen Seiten.

Seit 1990 lehrt Ha-Joon Chang an der University of Cambridge in Grossbritannien. Zu den Forschungsschwerpunkten des Koreaners gehören vergleichende Wirtschaftsgeschichte, Institutionenlehre und Entwicklungsländerfragen. Als Consultant ist Professor Chang für verschiedene internationale Organisationen tätig – unter anderem für die Weltbank und die Uno. Sein letztes Buch, «Kicking Away the Ladder», befasst sich mit Entwicklungsstrategien im historischen Rückblick und wurde 2003 mit dem Myrdal-Preis ausgezeichnet.