BILANZ: Gegenwartskunst ist einer von wenigen Wirtschaftssektoren, die auf Schweizer Boden prächtig gedeihen und auch künftig schöne Zuwachsraten versprechen. Woran liegt das?
Stefan Banz: Vielleicht hat es damit zu tun, dass man in der Kunst nach wie vor an eine etwas längere Halbwertszeit glaubt als in anderen Bereichen. Mit Kunst kann man sich darüber hinaus auch ein bestimmtes kulturelles Image aneignen.
Sammeln Konzerne deswegen zeitgenössische Kunst?
Es gehört heute zur Strategie vieler Firmen, sich kulturbewusst zu zeigen. Ein kulturbewusstes Unternehmen mit einer zeitgenössischen Sammlung kann für Offenheit und Aufgeschlossenheit stehen, vor allem dann, wenn das Tagesgeschäft der Firma dies gleichzeitig weniger deutlich zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite wäre zu untersuchen, was diese Firmen genau kaufen. Ich gehe nicht davon aus, dass das in erster Linie kritische Werke sind, sondern eher Werke, die ästhetisch funktionieren und ein positives Lebensgefühl vermitteln.
Das Angebot an zeitgenössischer Kunst wird immer breiter und damit unübersichtlicher. Sehen Sie darin ein Problem?
Ich glaube nicht unbedingt, dass das Angebot grösser und unübersichtlicher geworden ist. Es gibt sicher heute sehr viel mehr Künstlerinnen und Ausstellungsinstitute als früher. Das Angebot, also das, was zu sehen ist, ist aber eher wieder gleichförmiger geworden.
Worauf führen Sie dies zurück?
Die Präsentationsmöglichkeiten an grossen Kunstmessen sind sehr eingeschränkt und lassen fast nur Werke zu, die man aufhängen kann. Schwer ausstellbare Werke sind nicht nur schwieriger zu verkaufen, sondern generieren auch einen enormen Installations- und Lageraufwand. Es ist nicht einfach, mit solchen Werken längerfristig eine Wertsteigerung zu erzeugen. Dasselbe gilt für inhaltlich kritische oder selbstkritische Werke, die gerade für ein Corporate Collecting nur von geringem repräsentativem Interesse sind. Und da heute gerade für die öffentlichen Institute ein sehr viel rauerer Wind weht, stossen diese Art Werke bei den Käufern nicht auf kollektives Interesse.
Sie arbeiten als Künstler, publizieren über Kunst, bestimmen als Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission über die Vergabe von Förderbeiträgen. Jetzt kuratieren Sie noch den Schweizer Pavillon in Venedig. Ist das alles nicht ein bisschen viel?
Ich habe von Anfang an als Künstler versucht, die Kunstszene aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, um herauszufinden, was ein Kunstwerk ist und wie es sich in unserem Bewusstsein festsetzt. Es ist einfach eine etwas offenere Form, den Beruf oder die Berufung des Künstlers zu sehen. Und dass ich dieses Jahr Kurator des Schweizer Pavillons in Venedig bin, hat nur damit zu tun, dass bisher alle Biennale-Ausstellungen direkt vom Bundesamt für Kultur betreut wurden. Weil die Eidgenössische Kunstkommission aber dieses Jahr meinem konkreten Vorschlag einer kleinen Gruppenausstellung gefolgt ist, hat man entschieden, dass ich die Ausstellung auch selber betreue. Das war eine inhaltlich wie auch organisatorisch logische und ökonomische Entscheidung.
An der Biennale in Venedig präsentieren Sie vier inländische Nachwuchskünstler, alles Secondos. Bringt die Schweiz nicht genügend eigene Talente hervor?
Der Begriff «Secondos» greift bei dieser Ausstellung zu kurz. Nehmen Sie das Beispiel von Ingrid Wildi. Ihr Grossvater, ein Aargauer, wanderte aus ökonomischen Gründen nach Chile aus. Wildi wurde in Santiago geboren und hat da bis zu ihrem 18. Altersjahr gelebt. Ihre Muttersprache ist Spanisch, sie ist aber von den Wurzeln her Schweizerin. Das ergibt eine ganz spezielle Ausgangslage für ihre künstlerische Arbeit. In diesem Sinne war es nie eine Frage, ob es in der Schweiz nicht genügend gute Schweizer Künstlerinnen gibt, die einen schweizerischen Stammbaum haben. Die Schweiz ist multikulturell, und eines ihrer wesentlichen Züge ist das Miteinander von vielen Sprachen und Kulturen. Die Identität der Schweiz nährt sich gerade aus der Vielheit der Ideen, Standpunkte und Sprachen. Es lag also auf der Hand, eine solche Ausstellung zu machen, umso mehr, als alle Eingeladenen einen gesellschaftspolitischen Ansatz in ihrer Arbeit haben.
Unter anderem verhelfen Sie in Venedig auch dem Wahlschweizer Gianni Motti zu einem Auftritt. «Der Spiegel» bezeichnete diesen Aktionskünstler auch schon als «weltweit tätige Nervensäge». Was beeindruckt Sie an Motti?
Ich fand den «Spiegel»-Artikel ziemlich unzutreffend. Hätten sich die Autoren vielleicht nicht nur mit seinem Zürcher Galeristen, sondern auch mit ihm selbst unterhalten, hätten sie gemerkt, dass er keine Nervensäge ist und dass es ihm um etwas ganz anderes geht. Motti ist ein Poet, der mit Hilfe von Events und Interventionen im Alltag Geschichten und Bilder produziert, die sich stark in unserem Bewusstsein festsetzen. Er stellt mit viel Humor präzise Fragen über unser westliches Wertesystem, über die Verfallszeit von Hervorbringungen und unseren unstillbaren Drang nach Anerkennung und Karriere.
Bis zu welchem Grad kann es jungen Kunstschaffenden tatsächlich gelingen, sich den Marktmechanismen zu entziehen, indem sie das Gegenteil von «Wohnzimmerkunst» produzieren?
Es gibt heute alle möglichen Formen von Kunst. Und ich kenne auch ganz junge Künstlerinnen, besonders an Kunstschulen, die sich genau überlegen, was für Kunst sie machen sollten, damit sie künstlerisch und verkaufstechnisch erfolgreich sein könnten. Ich will damit sagen, dass nicht in erster Linie die Künstlerinnen bestimmen, was wahrgenommen und ausgestellt und verkauft werden soll, sondern dass es stets die Macher – also Sammler, Galeristen, Kuratoren, Kritiker – sind, die das für den Moment entscheiden. Was aber längerfristig erfolgreich ist, hängt noch von vielen anderen Faktoren ab.
Wohin tendiert das zeitgenössische Schaffen?
Um mit der vorangehenden Antwort fortzufahren, müsste man gleichzeitig auch fragen, wohin sich das öffentliche Interesse in den nächsten Jahren bewegt. Wenn wir in den nächsten Jahren gesellschaftlich und ökonomisch wieder ein offeneres Klima haben werden, wird sich die Kunst wieder mehr in Richtung Ästhetik und positives Lebensgefühl entwickeln. Sentimentaliät, Humor, Nonsens usw. werden wieder einen grösseren Raum in unserem Bewusstsein einnehmen können. Sollte sich der gegenwärtige Trend der anhaltend stärker werdenden geistigen und ökonomischen Einschränkungen allerdings fortsetzen, wird das politische Engagement vielleicht einen noch grösseren Raum einnehmen. Die gesamte Entwicklung wird auch stark davon abhängig sein, welche Rolle die Chinesen in Zukunft in der westlichen Welt spielen werden.