Es ist halb neun Uhr abends, alle Augen richten sich auf die Hintertür des Saals. Von dort wird sie kommen, pünktlich wie der Glockenschlag, verlässlich seit sechzig Jahren, Hulda Zumsteg, la Patronne. Sie trägt ihr doppeltes Perlencollier, ein Schwarzseidenes von Balenciaga, der Gehstock, den sie seit kurzem benutzt, vollendet den Auftritt. Sie ist eine Erscheinung, sie hat ein Benehmen, «tirée à quatre épingles». Die alte Dame grüsst ihre Gäste, schenkt Dürrenmatt vom Roten nach, heisst Fellini willkommen, Kaiserin Farah Diba – und wenn die amerikanischen Touristen aus ihrem Kunstführer aufblickten, würden auch sie von ihr nach ihrem Wohlbefinden befragt. Ihrem Auge entgeht niemand, ihrer Aufmerksamkeit entgeht nichts. – Als Hulda Zumsteg am 14. Juli 1984 im Alter von fast vierundneunzig Jahren stirbt, verliert die Schweiz eine Gastronomin, die ihren Beruf als
Berufung betrieben hat.
Hulda wird am 12. November 1890 in Winterthur geboren. Sie ist die Tochter
eines orthopädischen Schuhmachers aus Baden-Württemberg, Durst mit Namen. Er verlor seine Frau, die Kinder verloren die Mutter, Durst ist in zweiter Ehe verheiratet. Huldas Stiefmutter ist ihrer Stieftochter nicht gut gesinnt. In ihrer Jugend ist Wohlstand ein Zaungast; vertraut ist sie mit materieller Not und emotionaler Kälte. «Mein Vater tat für mich alles, was in seinen Kräften stand, doch von meiner Stiefmutter empfing ich wenig Liebe.» Hulda ist froh, als sie mit vierzehn Jahren das Elternhaus verlassen kann, sie weiss schon, mit welchem Ziel: Sie will Lehrerin werden.
Später begleitet der Vater die Achtzehnjährige zum Bahnhof, kauft ihr eine Fahrkarte nach Zürich und drückt ihr zum Abschied ein Fünfzigrappenstück in die Hand. Zehn Rappen für die erste Tramfahrt ihres Lebens; der Rest, vierzig Rappen, ist ihr Startkapital in die Unabhängigkeit.
Hulda tritt in Zürich eine Stelle in einem Haushalt an. «Ich lernte die gutbürgerliche Küche und alle Arbeiten, die zu einem gepflegten Haushalt gehören.» Schon bald macht sie den folgenreichen Schritt: Sie wechselt ins Gastgewerbe. Zuerst ist es das Hotel-Restaurant Rose im Niederdorf, wo sie oft von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachts in der Gaststube steht.
Huldas nächste Arbeitsstelle ist die nahe gelegene Speisewirtschaft Schöchlischmiede, eine heruntergekommene Passantenherberge, die ihre Gäste mit allerlei Bizarrerie ködert: Ein Knabe mit sechs Fingern wird vorgeführt, eine Holländerin mit Vollbart affichiert. Hulda ist froh, als sie die Arbeit aufgeben kann, der Pächter des Gasthofs Mühle ist auf sie aufmerksam geworden und stellt sie ein; die «Mühle» (später «Haifischbar») an der Mühlegasse ist ein prosperierendes Unternehmen mit einer ausgezeichneten Küche, der ein Münchner Koch und eine schwäbische Köchin vorstehen. Wirt der «Mühle» ist Gottlieb Zumsteg. Hulda muss arbeiten; sie hat nicht nur sich selbst zu ernähren, sondern auch ihre kleine Tochter, Hedi, und den jüngeren Gustav, dessen Vater starb, als das Kind acht Wochen alt war. Der Wirt setzt die junge, ehrgeizige Kraft als Serviertochter ein. Diese avanciert schnell zur Buffetdame, und bereits zwei Jahre später ist sie Zumstegs Gattin. Es sind die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre, in Zürich wird das Geld leicht verdient und ebenso leicht wieder ausgegeben. Weshalb soll die junge Wirtin auf der Getränkekarte Asti nicht gegen Champagner austauschen? Sie versucht es mit sechs Flaschen, die schliesslich schneller verkauft als neue bestellt sind. Es ist die Stunde zielstrebiger Wirtsleute, und das Ehepaar legt jeden Franken auf die hohe Kante. Als im Jahr 1925 beim Bellevue die «Kronenhalle» zum Verkauf steht, haben sie das notwendige Kapital.
Doch der Anfang ist nicht leicht. Die Liegenschaft ist in bedenklichem Zustand, und die Instandsetzung verschlingt eine grössere Summe, als man vorgesehen hat. Hulda Zumsteg erinnert sich: «Die Anfangsschwierigkeiten liessen sich nur durch äusserste Sparsamkeit, überlegtes Wirtschaften und harte Arbeit meistern.»
Wenn die «Kronenhalle» bald eine zufriedene und treue Kundschaft hatte, «so war das in erster Linie ihrer Küche zu verdanken», meint sie später bescheiden. Hulda Zumsteg lässt sich davon überzeugen, einen Rotisseur einzustellen, dann einen Saucier, und als der berühmte Apfelstrudel des Chefs den Dessertwünschen der international werdenden Gäste nicht mehr zu genügen vermag, billigt sie auch die Kosten eines Patissiers. Ihre Mitgift sind ihre Tatkraft, ihre Strebsamkeit und ihr eiserner Wille. Ihn wird sie über sechzig Jahre tagtäglich unter Beweis stellen. Hulda Zumsteg führt in der «Kronenhalle» ein straffes Regiment ein. Ihr Motto ist Disziplin und Sparsamkeit, was die eigene Person betrifft, doch Freigiebigkeit, wenn es um das Wohl ihrer Gäste geht. Sie beginnt, die Familie um sich zu versammeln, die ihr in ihrer Jugend versagt war. Sie, die nur Härte erfuhr, hat für andere ein weiches Herz.
Eine besondere Zuneigung hegt sie für den mittellosen James Joyce. Als dieser im Dezember 1940 dank einer Kaution seiner Zürcher Freunde wieder nach Zürich reisen kann, wo er sich alsbald mit Othmar Schoeck in der «Kronenhalle» trifft, wird er bei diesem Aufenthalt von Hulda Zumsteg persönlich betreut. Es sollte sein letzter Besuch sein. Joyce stirbt am 13.
Januar 1941 im Rotkreuzspital. Er hat in der «Kronenhalle» nicht nur grosse Teile des «Ulysses» geschrieben, sondern sein Zürcher Leben lang umsonst gegessen, dem Waadtländer die Treue haltend und den Rognons flambées.
Hulda Zumsteg wächst in der «Kronenhalle» eine Grossfamilie zu, mit vielen treuen Töchtern: Emma, Clara, Tilly, Trudi, Olga, Lilly, Elisabeth, Euphemie und Ella, um nur jene zu nennen, die 20, 30, 40 oder gar 50 Jahre an ihrer Seite arbeiten – und ihr «Müeti» sagen. Und was mehr wiegt: Sie meinen es. «Wir sind hier nicht angestellt, wir sind eine Familie», und zur «Mutter» kommt man mit allem, und alles versteht sie. Das sagt Ella, die Bernerin, die noch in den sechziger Jahren die hohen Silbervasen, die aus Paris kommen und bei «Maxim’s» gestanden haben könnten, zu jeder Jahreszeit mit üppigen Blumen füllt. «Von der ‹Kronenhalle› trennt man sich nur, wenn man heiratet oder stirbt.»
Jede «Tochter» hat ihren Liebling, der ihr umso lieber ist, wenn er ein Feinschmecker ist. Lillys Lieblingsgast ist Isaac Stern, der es sich zur Regel macht, vor seinem Konzert nichts zu essen und das Versäumte nachher in unüblichem Masse nachzuholen. Fräulein Trudi – «eine wandelnde Chronik des ersten Stocks», sagt Werner Wollenberger –, die dem Lokal 53 Jahre lang dient, steckt dem Bühnenbildner Teo Otto während der Kriegsjahre verstohlen Parisiennes in die Manteltasche. Diese Trudi wird von einem anderen Stammgast, Carl Zuckmayer, in der «Neuen Zürcher Zeitung» mit einem Artikel unsterblich gemacht. «Fräulein Trudi war für uns so etwas wie unsere Mascotte und unsere gute Fee: bildhübsch in der Jugend, nobel und graziös in der Reife – stets, auch im wildesten Gedränge der überfüllten Säle, von der gleichen Liebenswürdigkeit und Sicherheit.» Thornton Wilder dankt ihr im Gästebuch am 27. Juni 1957: «For Fräulein Trudy – an admiring and grateful guest – written in my Stammecke.»
1957. Huldas Gatte, Gottlieb Zumsteg, stirbt. Nur wenige Monate später stirbt auch seine Schwester, die dem Ehepaar dreissig Jahre lang im Lokal zur Seite gestanden hat. Gustav Zumsteg, der in der Zwischenzeit im Seidenhaus Abraham & Brauchbar eine glanzvolle Karriere gemacht hat, übernimmt die Geschäftsführung. Hulda kümmert sich fortan um die Büroarbeit, bespricht mit dem Küchenchef den Menüplan, überwacht den Einkauf, bedacht auf Qualität: «Man kann nicht gute Bilder an die Wand hängen und schlechtes Essen servieren.»
Gustavs Einfluss ist bereits vor dem Tod seines Stiefvaters nicht gering gewesen. Während seiner vielen Reisen hat er eine Abneigung gegen alles entwickelt, was er als gastronomisches «Chichi» versteht. Er bestätigt damit die Küchenpolitik seiner Mutter: den Gästen «einfache, doch mit Sorgfalt zubereitete Hausmannskost» vorzusetzen. Dass sich die Speisekarte dennoch immer mehr erweitert und weltläufig wird, ist eine Folge der internationalen Geschäftstätigkeit des Sohns.
Auch auf andere Weise trägt Gustav Zumsteg zum Ruf der «Kronenhalle» bei: durch die Sammlung seiner Bilder, mit denen er sämtliche Räume und Korridore auszuschmücken beginnt, als in der eigenen Wohnung an der Rämistrasse für die Kostbarkeiten kein Platz mehr ist.
Seine Künstlerfreunde werden auch ihre Künstlerfreunde. Und Hulda Zumsteg, die einfache Schusterstochter, ist unkonventioneller Ästhetik gegenüber genauso aufgeschlossen wie traditioneller, zumindest ist sie das den Künstlern gegenüber: Sie setzt sich unbekümmert an den Tisch zu Bill, Arp, Bazaine und Rauschenberg, sie feiert mit Augusto, Alberto und Diego Giacometti Geburtstag mit Champagner, «Cuvée selectionnée par Madame Zumsteg». Joan Mirò hält sich am Familientisch, dem Ecktisch vor dem Buffet, genauso selbstverständlich auf wie Marc Chagall.
Mit dem Tod ihres Gatten und dem stärkeren Engagement von Gustav beginnt für Hulda Zumsteg ein neuer Lebensabschnitt. Ihr Sohn lädt sie ein, ihn auf seinen Reisen zu begleiten. Er öffnet ihr neue Horizonte, bringt ihr seine Leidenschaften näher, Paris, New York, Rom; Hulda Zumsteg wird zur Debütantin in der grossen Welt der Kunst und Mode. Schliesslich war sie es, die Gustav gegen den Willen des Stiefvaters unterstützt, gefördert und ihm die Karriere bei Abraham & Brauchbar ermöglichte hat.
Ihre «Künstler-Gäste», wie sie sie nennt, mögen von Weltruf und Weltachtung sein, für Hulda Zumsteg sind sie Freunde. Persönliche Kontakte pflegt sie nicht nur zu Joyce oder Thomas Mann (an dessen Lieblingsgericht sie sich bis an ihr Lebensende erinnert), zu Robert Musil, Bertolt Brecht oder Max Rychner. Auch Musiker gehören zu ihren Freunden, Richard Strauss, Othmar Schoeck, Igor Strawinsky, Franz Lehar, Rolf Liebermann; eng sind auch die Beziehungen zu den Schauspielern, Dramatikern und Regisseuren des Schauspielhauses. Viele von ihnen wohnen im benachbarten Hotel Urban und beschliessen den Tag in der «Kronenhalle»: Wolfgang Langhoff, Ernst Ginsberg, Kurt Horowitz, Polgar (der als «ewiger Emigrant» im «Urban» wohnt und dort auch stirbt), Brecht, Dürrenmatt, Frisch … Hulda Zumsteg kennt sie alle und findet mit jedem den richtigen Ton. Wie oft hat man ihre Kunst, mit Menschen umzugehen, bewundert! Ihre liebsten Nachbarn sind das Verlegerehepaar Emmie und Emil Oprecht, für Hulda Zumsteg die «Seele des Schauspielhauses in seiner Glanzzeit». Die Premieren am Pfauen pflegen stets mit einem «grossen Abend» in der «Kronenhalle» zu enden. Wer als Schauspieler, Dramatiker vor diesem Abend noch kein Stammgast war, wird es von da an sein.
Denn bereits am Ende des Zweiten Weltkriegs erscheinen wieder viele Gäste, die man sechs lange Jahre vermisst hat. Und zu den Heimkehrern gesellt sich neues Publikum wie Jeanne Lavin und Lucien Lelong, die als Abgesandte der Pariser Haute Couture nach Zürich kommen.
Die Begegnung mit den wichtigsten Couturiers ist Hulda Zumstegs schönste und liebste Erinnerung. An einem Freitag besucht man Christian Dior. Unvergesslich ist die erste Begegnung – sie erinnert sich später vornehmlich an das gemeinsame Essen. Da es Freitag ist, lässt Dior ein «mageres» Menü servieren, Filets de Sole au Vermouth, Käsesoufflé und eine mit Schokoladetropfen überzogene Eisbombe. Den grössten Eindruck macht der Wirtin dieses Soufflé. Denn unter dem leichten Schaumgebäck ist der Boden der feuerfesten Schüssel mit pochierten Eiern ausgelegt. Diors Köche «hatten so perfekte Arbeit geleistet, dass jedes einzelne Ei unversehrt war»! Zurück in Zürich wird sie mit ihrem Küchenchef das Kunststück wiederholen wollen. Es gelingt nicht, auch Jahre später nicht, das Bedauern bleibt gross, und das Versagen lange im Bewusstsein.
Der Sohn möchte der Mutter allen erdenklichen Luxus ermöglichen. Er beschenkt sie mit einem Zobel, er beschenkt sie mit einem Rolls-Royce, er beschenkt sie mit dem legendären Smaragdarmband, das sie fortan bei jedem öffentlichen Auftritt tragen wird. Gustav ist es auch, der bei Schlumberger in New York einen «ordre pour le mérite» in Auftrag gibt, eine Preziose aus Diamanten und Saphiren. Und als Johannes XXIII. in Rom zum Papst gekrönt wird, sitzen Mutter und Sohn gemeinsam im Petersdom, in der Diplomatenloge. Madame Zumsteg trägt ein für dieses Ereignis von Balenciaga entworfenes Kleid aus schwarzer Spitze.
1967 veranlasst der Sohn, dass seine Mutter dem Maler Varlin Porträt sitzt. Der Künstler ist Stammgast und hegt seit Jahren grosse Bewunderung für die Wirtin, das weiss Gustav und glaubt deshalb, diese Verbindung anregen zu dürfen. Hulda Zumsteg ist, wie zu erwarten, ohne Zögern bei der Sache. Sie ist begeistert von Varlins Humor, der Künstler wiederum schätzt ihre lebhafte Natur und ihre Herzensfreundlichkeit.
Varlins Porträt von Hulda Zumsteg beherrscht noch heute die Brasserie. Da steht sie, la Patronne, unverkennbar in ihrer Balenciaga-Robe, die rechte Hand zum Gruss erhoben, die linke nur leicht auf den silbernen Knauf des Stockes gestützt. Sie wacht, schläft nicht, wacht über ihre Gäste, begrüsst neue, verabschiedet alte, sieht sie kommen, sieht sie gehen, hält ihre Hand über die «Kronenhalle», in der ihr Geist lebendig ist.
Ein schöner Mann, ein prophetischer Kopf. Man schlägt die Augen nieder, wenn er sie hebt. Schweigen soll herrschen in seinen Räumen, hinter gezogenen Gardinen, im dämmrigen Tageslicht. Zu hell, zu laut, zu gefallsüchtig ist ihm, was sich draussen zuträgt. Erst gedämpft, gefiltert, abgemildert scheint es zuträglich. Drinnen herrschen eine ordnende Kraft, der Wille zur Harmonie – und eine Zeit, die «damals» heisst. Mémoires d’un temps perdu. Die Bibliothek: altes Leder, Erstdrucke, Sonderausgaben. Die Kunstwerke: «Les huitres» von Matisse, kubistische Skulpturen, ein zykladischer Kopf aus Marmor, altgriechische Tanagrafigurinen aus Terracotta. Kunst, auf jeder Fläche, an jeder Wand, auf jedem Sims der Wohnung.
«Pour commencer», sagt Gustav Zumsteg und zeigt auf einen Stapel Akten, die er auf seinem Wohnzimmertisch im rechten Winkel zur Goldeinfassung hingelegt hat. Zeitungsausschnitte über die «Kronenhalle», niedergeschriebene Gedanken zur Entwicklung in der Textilindustrie, Referate anlässlich von Einladungen an Hochschulen, Artikel, die er selber verfasst hat zum Anlass eines Jubiläums des Lokals – und Broschüren, Bücher, die er zu jedem runden Geburtstag seiner Mutter veröffentlichte. Pour commencer soll all dies studiert sein, denn was die Nachwelt über seine Person wissen muss, steht hier bereits geschrieben. «Es geht um meine Mutter und um die ‹Kronenhalle›, nicht um mich persönlich. Alles andere wäre eine monumentale Indiskretion», sagt er, legt die Fingerspitzen aufeinander und schliesst für einen Augenblick die Augen.
Auf dem Tisch die Hände von Auguste Rodin, «La femme au crabe» von Aristide Maillol, ein weiblicher Akt von Pierre Bonnard und davor, im harten Fauteuil, Gustav Zumsteg, dem alles Menschliche fremd sein soll – und der doch so sehr Mensch ist, dass sich in seiner Biografie alles um das Urmenschliche dreht: Empfindsamkeit. Gute Bekannte neigen zur Meinung, dass Zumsteg an seiner übermächtigen Sensibilität leidet, dass er manchmal vom Glück der Fühllosen träumt, die ein Herz aus Stein in ihrer Brust tragen. Gute Bekannte neigen zur Überzeugung, dass diese missverstandene Schwäche der Grund sei für seine Unnahbarkeit, die Réserve du Patron.
Gustav Zumsteg wächst nicht bei seiner leiblichen Mutter auf, «ich bin», pflegt er zu sagen, «erst im Alter von 15 Jahren in ihr Leben eingeflossen.» So setzt er seine Worte, weit weg von seinem Herzen, kein Vorwurf an keine Adresse. Gustav Zumsteg erinnert sich und schweigt, die Diskretion des Bourgeois Gentilhomme. Später, wenn das Gespräch fortgeschritten ist, die Nachdenklichkeit sein Herz erreicht, kann er sagen: «Doch, es war schwierig, schwierig und schmerzhaft.» Hulda Zumsteg, Wirtin mit Leib und Seele, doch Mutter nicht mit demselben Pflichtgefühl, überlässt ihr Kind einer fremden Person. Eine einfache, ältere Frau, verwitwet, wohnhaft im Arbeiterviertel der Stadt, sie ist aus dem Jura zugezogen. «Grace à ça», sagt Zumsteg, «lernte ich früh Französisch und war später in Paris sofort integriert.»
Seine Mutter besucht er einmal im Monat, geht zu Fuss quer durch die Stadt, hilft ihr im Lokal. Er meidet ihren zweiten Ehemann – ein einfacher, «volkstümlicher Wirt», erinnert er sich, ein «cholerischer Mensch», sagt er auch, der Gustav schliesslich adoptiert. Das Kind sucht die Nähe der Mutter, auch weil es sie vor ihm, vor seinen Rohheiten glaubt in Schutz nehmen zu müssen. Ja, es kommt vor, dass Teller gegen sie fliegen, dass eine Hand gegen sie erhoben wird, dieselbe Hand, die den Knaben schmerzhaft davon abhält, Klavier spielen zu lernen.
Gustav Zumsteg will sich gegen den «Tyrannen» und schützend vor die Mutter stellen. Doch wie selten hat er dazu Gelegenheit. Seine Erklärung, später, ist gleichzeitig eine Entschuldigung: «Meine Mutter hatte keine Zeit, sich mit mir zu beschäftigen. Sie musste arbeiten, sie putzte auf den Knien! Deshalb hatte sie auch so viele Bewunderer.» Einer der ersten und jüngsten muss er gewesen sein, Gustav, ihr Sohn. Der Sohn spricht von seiner Mutter, wie eine Mutter sich nur wünschen kann, dass ein Sohn von ihr spricht. Die Gedankenreisen von Gustav Zumsteg, der zurückblickt in seine Kindheit, beginnen bei ihr und enden bei ihr, der Mutter.
Frau Mösch, die Schneiderin, weiss Rat, als Gustav nach der Schule nicht in der «Kronenhalle» arbeiten, sondern sich mit der Textilbranche beschäftigen möchte. Die Zürcher Seidenfirma Abraham & Brauchbar, natürlich, Gäste der «Kronenhalle» sind dort Kunden. Hulda unterstützt das Ansinnen. Ihr Mann ist gegen die Berufswahl: Er mag auch mit ein Grund sein, dass sein Stiefsohn nach Abschluss der Ausbildung Zürich verlässt und nach Frankreich übersiedelt. Erst nach dem Tod des Stiefvaters 1958 wird er zurückkehren – und seine Mutter nicht mehr teilen müssen. Der Sohn – «meine Mutter brauchte jetzt meine ganze Hilfe» – opfert dafür möglicherweise eine Karriere als Kunsthändler. Als sie stirbt, «en pleine carrière», will er erwähnt wissen, wird für Zumsteg ein Leitmotiv seines Lebens wirksam: Pflichterfüllung. Das andere heisst Prädestination. Prädestination: Der Sinn für das Schöne ist Gustavs früher Ersatz für Entbehrtes. Seine Mutter fern, der Vater unbekannt. Zwar wird er ihn nie kennen, doch viele Herzensväter finden: «James Joyce behandelte mich wie einen Sohn», zu Matisse entwickelt er Gefühle wie für einen Vater, und bei Aimé und Marguerite Maeght in Paris und Saint-Paul fühlt er sich zu Hause. «Ich hatte bei ihnen eine Familie.» Gustav Zumsteg glaubt, dass er als junger Mann von «grossem Nachholbedarf war, aufnahmefähig und lernbereit». Kunst, die er in Paris entdeckt, wird ihm zur «Offenbarung».
Prädestination ist auch die Begegnung mit Cristóbal Balenciaga. «Er hat mich sehen gelehrt, er hat mich erzogen.» Prädestination ist ebenso die Freundschaft mit dem Ehepaar Maeght. Vorbestimmung ist aber auch, dass seine Liebe zur Mode und Kunst nie vollständig im Zentrum seines Lebens stehen kann. Denn seine Energie, sein Arbeitseinsatz sollen stets auch der «Kronenhalle» gewidmet sein. Doch sind es tatsächlich nur äussere Bedingungen, die ihn hindern, der Kunst so viel Aufmerksamkeit zu schenken, wie er ihr zu schenken willens gewesen wäre? In einem raren Interview mit einem Kunstmagazin lässt er sich einmal mit folgender Aussage zitieren: «Ich glaube, dass ich einer der bedeutendsten Kunsthändler hätte werden können, denn ich besass zu einem bestimmten Zeitpunkt das uneingeschränkte Vertrauen grosser Künstler. Aber ich vermied es, mich ganz dem Kunsthandel zu widmen, weil ich erkannte, dass ich dafür zu schüchtern war.»
Nach der Prädestination in der ersten Lebenshälfte beginnen die Jahre der Pflichterfüllung. Der Tod der Mutter macht ihn zum Alleinerben und Verantwortlichen der «Kronenhalle». Das Versprechen, ihre «Herzenssache» dereinst zu seiner zu machen, hat er ihr schon früh gegeben. Damals bereits, als er nach dem Tod seines Stiefvaters die zweite Stütze des Lokals wurde. Und wenn er sich darüber in einer Festschrift wie folgt äussert, ist dies das Äusserste, was man von ihm erwarten kann: «Das Bewusstsein aber, an der Seite meiner Mutter und dann an ihrer statt einen Beitrag für das Gedeihen ihres Werkes zu leisten (…), wog den manchmal sanften Schmerz der beschränkten Möglichkeiten meines Privatlebens bei weitem auf.»
Vorabdruck aus dem Buch «Kronenhalle Zürich»; Text: Daniele Muscionico.
Das Buch zur Legende
Kronenhalle Zürich
Nico Cadsky / Karin Giger / Michael
Wissing (Hrsg.), Orell Füssli Verlag.
Ab 3. November 2005 im Buchhandel erhältlich, 224 Seiten, Fr. 89.–.