Seit Jahrhunderten wird im Valpolicella, dem nördlich von Verona gelegenen Weinbaugebiet, aus den autochthonen Traubensorten Corvina Veronese, Corvinone, Rondinella und Molinara ein frisch-fruchtiger, saftiger, nach dem Gebiet benannter Rotwein erzeugt. Wie einst auch der rote Chianti und der weisse Soave wurde auch der Valpolicella in der Nachkriegszeit zum Exportschlager. Mit dem Erfolg und der damit einhergehenden Erweiterung der Anbauzone bis in die Ebene begann auch der qualitative Niedergang des Valpolicella zum oftmals banalen Massenwein. Doch seit nunmehr zwei Jahrzehnten bemüht sich eine neue Generation von Winzern, den angeschlagenen Ruf des Valpolicella zu korrigieren.
Wer eine Flasche Valpolicella Classico (das heisst aus dem traditionellen Anbaugebiet stammend) oder Superiore (mindestens ein Jahr Ausbau) eines guten Produzenten entkorkt, wird bestimmt Trinkspass haben. Zudem wird man begreifen, dass der Valpolicella Geburtshelfer des Amarone ist, des wohl beliebtesten und teuersten Rotweins Italiens. Denn es war im Valpolicella-Anbaugebiet Tradition, dass in besonderen Jahren die besten Trauben getrocknet wurden, um aus ihnen den Recioto, einen hochkonzentrierten, komplexen Süsswein, zu keltern. Um den Recioto herzustellen, werden die Trauben im September und Oktober geerntet und für rund 120 Tage in gut durchlüfteten Scheunen auf Drahtgestellen oder in Holzkisten getrocknet. Dabei verlieren die Trauben 30 bis 40 Prozent ihrer Flüssigkeit, ausserdem konzentrieren sich in ihnen Zucker, Aromen und Säure. Als rare Spezialität markierte der Recioto lange Zeit die Spitze der Weinpyramide im Valpolicella-Gebiet.
Der Amarone dagegen, ein ebenfalls aus getrockneten Trauben gekelterter, aber praktisch durchgegorener, ultraschwerer Rotwein mit hohem Alkoholgehalt (16 Volumenprozent sind die Regel), ist ein gehandelter Weintyp jüngeren Datums. Und zwar soll in den 1930er-Jahren in der Cantina Sociale von Negrar bei Verona ein Fass Recioto wieder zu gären begonnen haben, ohne dass dies der Kellermeister bemerkt hatte. Das Resultat: Ein herber, gerbstoffreicher und trockener Wein mit typischer Bitternote (amaro). In Italien war ein solcher Wein nicht verkäuflich. Blieb nur der Export. In Kanada kam der alkohol- und gerbstoffreiche Wein, den man kurzerhand Amarone nannte, bei den vielen Exilitalienern gut an und entwickelte sich innert Kürze zu einem Verkaufsschlager. So wurde aus einem Versehen ein neuer Wein geboren, dessen weltweiter kommerzieller Durchbruch in den 1990er-Jahren einsetzte. Lag 1995 die Amarone-Produktion noch bei 1,5 Millionen Flaschen, so nahm die Produktion in der Folge rasch zu und erreichte 2003 bereits 5 Millionen Flaschen. 2008 wurden gar mehr als 8,5 Millionen Flaschen abgefüllt, und heute dürften es rund 10 Millionen sein.
Beinahe eine Verzehnfachung der Produktion innert 30 Jahren und eine markante Preissteigerung eines ehemals für fast unverkäuflich gehaltenen Weins: Das ist eine aussergewöhnliche Karriere. Doch Weinkenner erstaunt dies nicht, liegen doch alkoholische, marmeladig-süssliche Muskelprotz-Weine gerade bei zahlungskräftigen, neuen Käuferschichten voll im Trend. Um diesen Kunden den Zugang zu diesem aussergewöhnlichen Wein schmackhaft zu machen, setzt eine wachsende Zahl von Amarone-Produzenten auf getunte, hyperkonzentriert-süssliche, eichenholzgeprägte Ware.
Doch ein guter Amarone ist mehr als das. Er ist zwar monumental und kraftvoll, aber auch wild, voller unergründlicher, vielschichtiger Aromen und immer ein bisschen sperrig. Wirklich gut ist ein Amarone, wenn er trotz seiner Konzentration auch Finesse und Feinheit besitzt, wenn der fruchtig-liebliche Geschmack von einer herben Note und von einer gut integrierten Säure harmonisch ausbalanciert wird. Ein guter Amarone ist in jeder Beziehung ein grosser Wein. Zu einem Schnäppchenpreis bekommt man ihn nicht. Dafür ist die Produktion zu aufwendig und der Wein kommerziell zu erfolgreich. Doch gleichwohl gilt: Die teuersten Exemplare sind keineswegs immer die besten.
Die Amarone-Weine folgender Produzenten können empfohlen werden:
Antolini, Bertani, Bussola Tommaso, Farina, Fasoli Gino, Guerrieri Rizzardi, Manara, Monteci, Tezza, Villa Canestrari.