Anselme Selosse sagt kuriose Dinge, wenn er über seinen Champagner spricht: «Der Wein wird so, wie er werden möchte.» Oder: «Dies ist ein bedächtiger Landedelmann, dem die Erde noch unter den Stiefeln klebt.» Wie soll man es verstehen, wenn er bei einer Degustation vor versammeltem Publikum erklärt: «Ich mache gar nichts, die Wurzeln geben dem Produkt seine Identität»?

Man muss es nicht verstehen. Es genügt, einen Selosse-Champagner zu öffnen, um dessen Einzigartigkeit zu erkennen. «Ein Burgunder mit Bläschen», ist oft der erste Eindruck – ganz daneben ist das nicht. Anselme Selosse entspricht in vielerlei Hinsicht nicht der Norm: ein charismatischer Querdenker, welcher der Region einen Impuls sowie ein paar aussergewöhnliche Champagner beschert hat.

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Natur pur

Bis vor gut 20 Jahren gab es in der Champagne nur wenige Winzer, die den Anspruch hatten, eigene Top-Champagner zu produzieren. Die weitaus meisten der 15 500 Weinbauern verkauften ihre Ernte an Kooperativen oder direkt an die grossen Champagnerhäuser wie Moët & Chandon, Mercier oder Perrier-Jouët, die sich wie Perlen auf einer Schnur an Epernays Avenue de Champagne aneinanderreihen.

Von den insgesamt 33 500 Hektar Anbaufläche für Champagner besitzt allein Moët & Chandon deren 1200. Das reicht allerdings gerade mal für die zehn bis zwölf Millionen Flaschen des Spitzenprodukts Cuvée Dom Pérignon. Die übrigen 35 Millionen Flaschen, die unter dem Label des Hauses auf den Markt kommen, werden aus zugekauften Trauben produziert. Sie stammen von weiteren rund 4500 Hektar Weinbergen, deren anonyme Besitzer zwischen fünf und sechs Euro pro Kilo Trauben kassieren.

Unter diesen Voraussetzungen werden zwei Dinge klar: Erstens ging es den meisten Weinbauern bis anhin vor allem darum, so viel wie möglich zu ernten. Und zweitens spielten die spezifischen Eigenschaften ihrer Reben eine nebensächliche Rolle, da sich diese in der Mischung («Cuvée») ohnehin verlieren. Denn die grossen Champagnerhäuser («Négociants») kombinieren in jeder Cuvée viele verschiedene Weine, die aus unterschiedlichen Traubensorten, Lagen und Jahrgängen stammen.

6000 Flaschen produziert

Ihnen geht es um Beständigkeit: Der Veuve Clicquot soll in diesem Jahr genau so schmecken wie im Jahr zuvor und wie im Jahr darauf. Klar, dass da die feine Säure der Trauben von Monsieur X oder die mineralischen Noten von Weinberg Y keine Chance haben, in Erinnerung zu bleiben.

Doch die Dinge ändern sich. 22,2 Prozent der rund 323 Millionen Champagnerflaschen, die 2011 verkauft wurden, stammen von unabhängigen Winzern. Der Grossteil davon bleibt in Frankreich, doch auch die Schweizer haben Gefallen an Winzerchampagner gefunden: Von insgesamt 5,68 Millionen importierten Champagnerflaschen – Platz sieben auf der weltweiten Verkaufsskala – wurden 5,7 Prozent in kleinen Kellereien gekeltert. Tendenz steigend.

Als Anselme Selosse 1980 das Champagnerhaus seines Vaters übernahm, wurden dort pro Jahr 6000 Flaschen produziert. Der Rest der Ernte von seinen 7,5 Hektar Weinbergen, die sich in Toplagen der Côte des Blancs um die Dörfer Avize, Oger und Cramant befinden, ging an Négociants und landete unter einem völlig anderen Namen in den Regalen der Supermärkte. Heute ist dort kein Tropfen Selosse-Wein mehr zu finden, seine rund 57 000 Flaschen gehen an ausgesuchte Weinhandlungen, Gourmetrestaurants und Luxushotels, wo geschultes Personal ihre ungewöhnlichen Charakteristiken erklären kann.

Anselme Selosse behandelt seine Trauben – vor allem Chardonnay und ein wenig Pinot noir – so, wie er es im Rahmen seines Önologiestudiums im Burgund gelernt hat: Er setzt auf Terroir, also auf Lage, Erde und Wetter. Er produziert Einzellagen- und Jahrgangs-Champagner und baut seine Weine in Akazienfässern aus, weil er glaubt, dass sie im Holz besser atmen können. Er glaubt auch, dass man der Natur nicht ins Handwerk pfuschen sollte, und lässt zwischen seinen Reben wachsen, was da wachsen will. Er glaubt, dass mechanische Rüttelanlagen weniger sanft mit seinen Flaschen umgehen als die menschliche Hand und dass Imperfektion eine Besonderheit ist.

Preis: Zwischen 70 bis 150 Euro

Seine unorthodoxe Philosophie äussert sich in komplexen und geschmacksintensiven Champagnern. Sie sind bei einem Ladenpreis je nach Sorte zwischen 70 und 150 Euro nicht billig, aber so gut, dass Selosse 1994 als erster und bislang einziger Champagnerproduzent die von «Gault Millau» vergebenen Titel «Winzer des Jahres», «Entdeckung des Jahres» und «Aufsteiger des Jahres» allesamt gleichzeitig gewann.

Trotzdem sind Selosse-Weine nicht jedermanns Sache: Der kräftig gelbe «Sous le Mont» aus der Einzellagenkollektion Lieux-Dits ist ohne Zugabe von Zucker («zero dosage») fermentiert und hat eine leicht bittere Note. Anselme Selosse nimmt diesen Nachteil in Kauf: «Natürlich könnte ich ein wenig Zucker zufügen und den Wein gefälliger machen», sagt er. «Aber das will ich nicht. Dieser Champagner ist wie eine schöne Frau ohne Make-up. Er hat Charakter, das gefällt mir.»

Wenig Schminke

Didier Gimonnet, der ein paar Kilometer nördlich mit seinem Bruder Olivier die Kellerei Pierre Gimonnet & Fils leitet, sieht das etwas anders: «Ein wenig Schminke bringt Schönheit erst richtig zur Geltung», sagt er. Auch bei Gimonnet gibt es einen Zero-dosage-Champagner, den «Œnophile Extra Brut». Er besteht wie alle Produkte des Hauses aus 100 Prozent Chardonnay-Trauben («Blanc de Blancs»). Doch im Gegensatz zum Champagner von Selosse, dessen Pinot-noir-Trauben von einer einzigen Parzelle stammen, ist der Blanc de Blancs von Gimonnet Resultat einer Mischung von vier verschiedenen Chardonnay-Lagen, deren Eigenschaften perfekt harmonieren und den knochentrockenen Champagner fein und fruchtig wirken lassen. «Cuvées machen die Harmonie eines Champagners aus», findet Didier Gimonnet, «Mono-Parzellen-Champagner haben immer eine rustikale Note.»

Die Gimonnets leben seit 1750 im 400-Seelen-Dorf Cuis. Sie waren Landwirte und Weinbauern, bis Pierre Gimonnet Ende der 1920er Jahre damit begann, eigenen Wein zu produzieren. Wie viele andere tat er dies aus der Not heraus, denn die Négociants, an die er seine Trauben verkauft hatte, waren in der Wirtschaftskrise von 1929 mehr oder weniger pleite. Trotzdem investierte Gimonnet weiter in Premier- und Grand-Cru-Lagen, sodass das Haus heute über 30 Hektar des weltweit teuersten Weinlands verfügt. In der ganzen Champagne gibt es bestenfalls eine Handvoll Winzer mit ähnlich grossem Besitz, doch die Gimonnets sind die Einzigen, deren Weinstöcke nur in Toplagen stehen.

Streng ökologisch 

Das eröffnet Möglichkeiten, von denen andere nur träumen können: Cuvées zu komponieren, bei denen nicht wie sonst üblich viele verschiedene gute und weniger gute Weine vermischt werden – oft genug nur zu dem Zweck, Quantität zu schaffen. Sie kombinieren vielmehr eine überschaubare Anzahl exzellenter Weine, um das elegante Gleichgewicht zu erreichen, für welches das Haus Gimonnet bekannt ist. «Wir kennen die Charakteristiken jedes unserer Weinberge», sagt Gimonnet, «wir wissen, welche Trauben sich ergänzen und mehr Frische, mehr Mineralität oder mehr Säure entfalten.»

Als Klassiker gilt der «Cuis 1er Cru», ein frischer, leichter und feinperliger Brut mit einem minimalen Zuckergehalt von nur sieben Gramm pro Liter, der zum zivilen Preis von 22.40 Euro ab Weingut zu haben ist. Zu den Spitzenprodukten zählt die «Special Club»-Cuvée, ein komplexer, dichter und zugleich zarter Jahrgangs-Champagner aus drei Chardonnay-Lagen, den die Gimonnets für 46 Euro verkaufen.

Im Gegensatz zu den grossen Champagnerhäusern setzen Winzer auf die Arbeit im Weinberg und auf den Ausdruck des Terroirs. Auch Rodolphe Péters, der das Champagnerhaus Pierre Péters in Le Mesnil-sur-Oger leitet, besteht darauf, dass sein Champagner vor allem die Eigenschaften der Erde reflektiere. Kürzlich hat er mit dem «Rosé for Albane» den ersten Péters-Champagner kreiert, der nicht auf den Chardonnay-Trauben seiner Region basiert. «Das war ein Experiment», sagt er. «Zum Glück ist es gelungen. Bei grossen Champagnerhäusern sind solche Abenteuer nicht möglich. Wir aber können es wagen, unsere Trauben auch einmal anders zu kombinieren und ein paar Jahre auf das Resultat zu warten.»

Noch experimentierfreudiger zeigt sich Jean-Pierre Fleury, der 1989 als erster Champagnerwinzer seine 15 Hektar Weinberge an der Côte des Bar auf Biodynamik umstellte und sie nach streng ökologischen Regeln und den anthroposophischen Lehren von Rudolf Steiner kultiviert. Heute keltern er und sein Sohn 200 000 Flaschen im Jahr. Darunter die Prestige-Cuvée «Fleur de l’Europe», eine ausgewogene Pinot-noir-Mischung, die für gerade mal 30 Euro zu haben ist, oder einen fruchtigen, mineralischen und extrem trockenen Extra Brut für 40 Euro. Zwar gehört auch die Gegend von Côte des Bar im Département Aube zur Champagne, doch geografisch liegt sie näher an Chablis als an Epernay.

Region im Rampenlicht

Neuerdings steht die Region im Rampenlicht, denn einige der Traubenlieferanten haben sich in innovative Champagnerwinzer verwandelt. Star der Szene ist der 36-jährige Cédric Bouchard. Er stammt aus einer Winzerfamilie, die ihn im zarten Alter von 14 Jahren auf eine Schule für Weinbau in Beaune schickte. «Natürlich hatte ich damals nicht das geringste Interesse an Wein», sagt er. Und: «Seitdem mache ich immer das Gegenteil von dem, was mein Vater von mir erwartet.» Immerhin trat ihm dieser seinerzeit die knapp einen Hektar grosse Pinot-noir-Parzelle Les Ursules in Celles-sur-Ource ab und liess ihn seine Infrastruktur nutzen.

Im Jahr 2000 fuhr der Junior seine erste Ernte ein, im Mai 2002 war «Roses de Jeanne» fertig, gekeltert aus einer einzigen Traubensorte von einer einzigen Parzelle aus einem einzigen Jahrgang. Der Erfolg war fulminant, Ende Juni hatte er alle 3391 Flaschen verkauft.

Keine Maschinen 

Inzwischen hat sich die Quantität des delikaten, feinperligen «Roses de Jeanne» minimal gesteigert, in diesem Jahr gibt es 2800 Flaschen und 430 Magnum davon. Ausserdem ist Cédric Bouchard zu zwei weiteren Weinparzellen gekommen: Le Creux d’Enfer, 0,7 Hektar gross, deren Pinot-noir-Reben 300 bis 400 Flaschen «Rosé de Saignée» ergeben; und La Haute-Lemblée, ein 0,12 Hektar grosser Weingarten mit fünf verschiedenen Chardonnay-Sorten für zusammen höchstens 1000 Flaschen. Bei diesen Mengen ist an eine Cuvée nicht zu denken – aber Bouchard interessiert sich ohnehin nicht dafür: «Ich finde es langweilig, jedes Jahr den gleichen Champagner zu produzieren», sagt er.

Alles anders machen bedeutet für ihn, vieles wegzulassen: Seine Reben tragen wenig Früchte, in den Weinbergen kommen weder Chemie noch Maschinen zum Einsatz, die Weine sind ungefiltert, auf Schönung und Kältepassage wird ebenso verzichtet wie auf die Beigabe von Zucker. Für den Rosé, mit 120 Euro pro Flasche im Handel das teuerste der Bouchard-Produkte, werden die Trauben mit den Füssen zerstampft und ein paar Stunden ruhen gelassen, damit der Saft den rosigen Farbton der Traubenhaut annimmt.

Der Champagner duftet jedes Jahr ein wenig anders – und manchmal gibt es ihn gar nicht, weil Cédric Bouchard sich vom Geschmack nicht angesprochen fühlt: «Dann gebe ich den ganzen Traubensaft an den nächstbesten Négociant, so wie es früher alle Weinbauern gemacht haben.»