Die kleine Käfer-Larve auf dem Korianderblatt sorgt für grosse Begeisterung bei Jenja Kronenbitter. «Das wird ein Marienkäfer», freut sich die Agrarökologin, während sie an einem Frühsommertag auf einem sogenannten Nützlingsstreifen inmitten eines Haferfeldes im Bliesgau steht, einem Biosphärenreservat im Saarland. «Diese Larve zeigt, dass unser Konzept funktioniert.»
Eine Saatmischung aus 13 Pflanzen hat Kronenbitter für den Streifen zusammengestellt, darunter neben Koriander auch Buchweizen, Dill, Kerbel, Kornblume und Ackersenf. Sie sollen Nützlinge anlocken, also Marienkäfer oder auch Florfliegen und Schlupfwespen. Die Idee: Wenn es bei den Kulturpflanzen zu einem Schädlingsbefall kommt, sind die notwendigen Nützlinge schon da. «Dann braucht man keine Insektizide mehr», erklärt Kronenbitter, die für die Umwelt-Stiftung Global Nature Fund das entsprechende Projekt im Bliesgau begleitet.
Der Global Nature Fund experimentiert und analysiert dort wie auch im Wendland und der Südpfalz zusammen mit lokalen Landwirten und dem Nahrungsmittelkonzern Nestlé, mit welchen Massnahmen und Konzepten zukunftssicherer Ackerbau betrieben werden kann. «Regenerative Landwirtschaft» ist dabei der Oberbegriff.
Im Fokus stehen die Gesundheit von Böden und Pflanzen, um deren Resilienz zu erhöhen und Ertragsausfälle zu minimieren, aber auch Artenvielfalt, Biodiversität, Humus-Management und Wasserkreisläufe. Der Ansatz verbindet dabei Ideen aus der konventionellen und der ökologischen Landwirtschaft wie auch aus der Agrarökologie, der Permakultur oder der Agroforstwirtschaft.
Auch das Wissen der Vorfahren spielt eine entscheidende Rolle
Über Jahrhunderte hätten die Bauern instinktiv getan, was sich als gut und nützlich erwiesen hat, um die Nährstoffe im Boden im Gleichgewicht zu halten, sagt Expertin Kronenbitter. «Wir lassen diese Methoden und Bauernregeln von vor 80 oder 100 Jahren wieder aufleben – nun aber wissenschaftlich abgesichert.»
Eine exakte Definition für den Begriff regenerative Landwirtschaft kann auch sie nicht liefern. Ohnehin sei jeder Boden unterschiedlich. Daher gebe es nicht Massnahme A, B und C, mit der alles überall funktioniert. Vielmehr erklärt sie das Prinzip «Vielfalt schafft Vielfalt» zur Handlungsanweisung und nennt Beispiele wie Blüh- und Nützlingsstreifen, Hecken am Feldrand, Unter- und Deckfrüchte, phosphatreiche Zwischenfrüchte, die Stickstoff im Boden fixieren und damit Kunstdünger ersetzen können oder auch Gemengeanbau und zwischenzeitliches Brachliegen von Feldern.
Vielversprechende erste Ergebnisse
Vorangetrieben werden entsprechende Pilotprojekte derzeit vielfach von grossen Nahrungsmittelkonzernen, darunter neben Nestlé auch McCain oder General Mills. Und die ersten Ergebnisse scheinen vielversprechend. In einer Studie des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) und der Beratungsgesellschaft Boston Consulting ist jedenfalls von einem «grossem Nutzen für Agrarökosysteme und die gesamte Gesellschaft» die Rede, etwa durch geringere Kohlenstoffemissionen und Auswirkungen auf die Verfügbarkeit und Qualität von Wasser.
Zudem hätten landwirtschaftliche Betriebe bis zu 60 Prozent höhere Gewinne aufgrund geringerer Betriebsmittelkosten, betrieblicher Einsparungen und einer höheren Ertragsresilienz bei Starkwetterereignissen. Und schliesslich sinke in den nachgelagerten Lieferketten das Risiko von wetterbedingten Versorgungsengpässen um bis zu 50 Prozent.
Genau diese Sicherung von Rohstoffen ist die grosse Motivation der Lebensmittel-Multis, sich nun verstärkt für Nachhaltigkeit auf dem Acker einzusetzen. McCain etwa, bekannt vor allem für seine Pommes und Kroketten, hat sich verpflichtet, ab 2030 nur noch Kartoffel-Lieferungen anzunehmen, die von Anbauflächen stammen, auf denen regenerative Landwirtschaftsmethoden eingesetzt werden.
Und da geht es immerhin um weltweit 150.000 Hektar Fläche. Geplant sei unter anderem, die Tiefe der Bodenbearbeitung zu reduzieren, Böden zwischen zwei Kulturen mit Pflanzen oder Blumen zu bedecken, mehr Unterschlupfmöglichkeiten für Vögel und Bienen zu schaffen, aber auch Technologien zur Reduzierung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, Düngern und Wasser einzusetzen.
Böden nicht ausnutzen, sondern widerstandsfähiger machen
Grosse Pläne hat auch Nestlé. «Wir müssen neue Wege der Ressourcennutzung finden», sagt Alexander von Maillot, der Deutschland-Chef des nach eigenen Angaben grössten Lebensmittel- und Getränkekonzerns der Welt, beim Vor-Ort-Besuch im Bliesgau.
Aus der Region, wo seit mittlerweile zwei Jahren das sogenannte «EU-Life»-Projekt läuft, bezieht Nestlé zum Beispiel Weizen, beziehungsweise das entsprechende Mehl, aus dem dann der Teig für die Fertigpizzen der Marke Wagner produziert wird. Im Wendland und der Südpfalz wiederum geht es um den Anbau von Gemüse und Kräutern für Maggi-Produkte.
«Wir müssen die Böden widerstandsfähiger machen und sie besser nutzen, statt sie auszunutzen», sagt von Maillot. Bis 2025 will sein Unternehmen 20 Prozent der wichtigsten Rohstoffe aus regenerativer Landwirtschaft beziehen, bis 2030 sollen es dann 50 Prozent sein. Aktuell liegt der entsprechende Wert bei knapp sieben Prozent.
Rund 1,2 Milliarden Euro steckt Nestlé dafür binnen drei Jahren in die Förderung entsprechender Projekte. Zu den Empfängern gehört auch das Start-up Klim aus Berlin, das regenerative Landwirtschaft skalieren will. Die kleine Firma steht dabei zwischen den Erzeugern und deren Abnehmern und quantifiziert und verifiziert die Erträge der aktuell rund 3000 angeschlossenen Landwirte über eine selbst entwickelte digitale Plattform, die zudem die erzielten CO₂-Einsparungen messbar macht.
Klim berät dabei die Bauern, wie sie Feldarbeit, Fruchtfolge und Co. auf ihrem Sprengel am besten organisieren und schüttet Geld an sie aus für die erreichte Kohlendioxid-Verringerung. Die Mittel dafür sammelt Klim bei Industrie- und Handelsunternehmen ein, aktuell zum Beispiel bei Nestlé oder Kaufland. Klim selbst verdient dann Geld pro eingesparter Tonne CO₂, die sich durch diese andere Art von Landwirtschaft ergibt.
Der Deutsche Bauernverband (DBV) unterstützt das Engagement von Nestlé und Co. «Wenn es sich dabei nicht nur um ‚Feigenblatt-Projekte‘ für das Marketing, sondern um eine langfristige Strategie handelt, die auch beinhaltet, dass die Mehrkosten der Landwirte durch die Konzerne oder die Verbraucher getragen werden, dann begrüssen wir das», sagt DBV-Generalsekretär Bernhard Krüsken.
«Bio kann die Welt nicht ernähren»
Wobei er die heimischen Erzeuger auch ohne den neuen Enthusiasmus aus der Ernährungsindustrie auf einem guten Weg sieht. «Unsere Landwirte sind hervorragend ausgebildet und wirtschaften mit modernsten Techniken, um die Umwelt so weit wie möglich zu schonen», versichert Krüsken.
Nestlé weist jegliche Greenwashing-Vorwürfe zurück. «Wir machen das, weil wir auch in Zukunft die Rohstoffe brauchen», sagt Anke Stübing, die in der deutschen Landesgesellschaft den Bereich Nachhaltigkeit verantwortet. Jeder könne sehen, wie Wetterextreme zunehmen und dass dadurch zunehmend die Ernten gefährdet sind. «Also müssen wir die Bewirtschaftung umstellen.»
Dafür arbeite Nestlé genau wie andere Industrieunternehmen mit Umweltverbänden und NGOs zusammen, um Standards zu setzen. «Bio kann die Welt nicht ernähren, aber regenerative Landwirtschaft kann ein wichtiger Zwischenschritt sein.» Das komme in der Branche auch zunehmend an, vor allem bei den jungen Hofnachfolgern, die sich dann auch untereinander animieren.
Von der Politik indes könnte mehr Unterstützung kommen, beklagt Stübing. «In der Schweiz sind regenerative Konzepte längst üblich und werden staatlich gefördert. Hierzulande wünschen wir uns mehr Dialog.»
Auch Bayer interessiert der Bereich
Gross einsteigen will in diesen Bereich dagegen der Agrarchemieriese Bayer. Die Sparte Crop Science soll über das Kerngeschäft mit klassischem Saatgut, Pflanzenschutz (etwa mit dem umstrittenen Mittel Roundup) und digitaler Landwirtschaft hinaus auch angrenzende Märkte bedienen, allen voran die regenerative Landwirtschaft, hiess es beim «Innovation Summit 2023», den der Dax-Konzern im Sommer in New York abgehalten hat.
Ein Umsatzvolumen von weltweit 100 Milliarden Euro verspricht sich Bayer dabei durch Themen wie Pflanzenfruchtbarkeit, biologische Produkte, Biokraftstoffe, Carbon Farming, Präzisionsanwendungen sowie digitale Plattformen und Marktplätze.
«Die Innovationen sollen nicht nur die Erträge der Landwirte steigern, sondern auch die Böden regenerieren und die Auswirkungen der Landwirtschaft auf das Klima und die Umwelt minimieren – angepasst auf die jeweiligen Anbaukulturen», sagt Rodrigo Santos, Leiter der Bayer-Division Crop Science und Mitglied des Bayer-Vorstands. «Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb der Zukunft werden die auf dem Feld erhobenen Daten und das im Boden gebundene CO₂ für den Landwirt genauso wichtig sein wie der Ertrag.»
Dieser Artikel erschien zuerst auf Welt.de unter dem Titel: «Bauernregeln statt Dünger: «Nestlé und Co. arbeiten an der Landwirtschaft der Zukunft».