Eigentlich – aber nur eigentlich – könnte Jean-Claude Biver längst ans Aufhören denken. In seinem mittlerweile 65 Jahre währenden Leben hat der Workaholic (steht meist um vier Uhr in der Früh auf) in den Diensten unter anderem von Audemars Piguet, der Swatch Group (Omega) sowie von 1982 bis 1992 bei Blancpain als eigener Unternehmer definitiv mehr als genug geleistet. Sein wahres Meisterstück lieferte der gebürtige Luxemburger aber ab 2004 rund um Hublot ab. Mit Kreativität, Mut zur Lücke und unglaublichem Elan führte Biver die Marke aus beängstigenden Tiefen mit damals knapp 70 Millionen Franken Umsatz in derart luftige Höhen weit über 300 Millionen Franken, dass der französische Luxus-Multi Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH) im Jahr 2008 rund 500 Millionen Franken für den Hublot-Kauf entrichtete und Biver – so heisst es – um mehr als 90 Millionen Franken reicher machte.
Dass Biver zunächst als Chief Executive Officer (CEO) und später als Chef des Verwaltungsrats an Bord der Nyoner blieb, mag sich von selbst verstehen. Ebenso verständlich wäre aber auch der Rückzug nach dem Auslaufen des Vertrags gewesen. Aber genau das behagte Bernard Arnault, seines Zeichens Präsident der LVMH-Gruppe, absolut nicht. Nach einem familiär geprägten Treffen ging Biver kurz vor Beginn der «BaselWorld» 2014 neu an den Start. Und zwar in Nachfolge von Francesco Trapani aus der römischen Bulgari-Dynastie als Herr über schätzungsweise rund 2,2 Milliarden Franken Uhrenumsatz. So viel in etwa dürften die drei LVMH-Marken Hublot, TAG Heuer und Zenith 2013 an Umsatz erwirtschaftet haben.
Aus finanziellen Gründen nahm Biver die neuerliche Herausforderung mit Sicherheit nicht an. Immerhin hatte er 20 Prozent der an LVMH verkauften Hublot-Aktien besessen. Der Grund, sich ein grosses Bündel Arbeit aufzuhalsen, war ein ganz anderer, wie Biver in seiner ungemein offenherzigen Art gesteht: «Bernard Arnault und ich sind gleich alt. Wenn mein Präsident noch Berge erklimmt, muss ich ganz einfach mit.» Und zwar nicht als Manager, sondern als Unternehmer.
Konsequentes unternehmerisches Denken erwartet Biver auch von seinen drei Markenchefs Riccardo Guadalupe (Hublot), Stéphane Linder (TAG Heuer) sowie Aldo Magada (Zenith, siehe Seite 6). Selbiges äussert sich unter anderem in der permanenten Bewahrung einer echten Startup-Mentalität.
TAG Heuer: Fertig mit den teuren Spielereien
Nicht korrigierte Fehlentscheidungen entdeckte Biver gleich nach dem Antritt seines neuen Jobs und nach sofortiger Situationsanalyse. Eine davon betraf das grösste Mitglied des Markentrios: TAG Heuer. Mit dem exotischen, weil riemengetriebenen Automatikkaliber V4 sowie mit ultraschnell oszillierenden Stoppern beispielsweise im Mikrograph, im Mikrogirder oder im Mikrotourbillon S schraubte die Traditionsmarke aus La Chaux-de-Fonds ihre Durchschnittspreise ohne merklichen Einfluss auf den Gesamtumsatz beständig nach oben. Weitere Aspekte bringt Biver unverblümt auf den Punkt: «Mit einem Hochfrequenzkaliber lässt sich zwar der Grand Prix de Genève gewinnen. Weil das auf den Verkauf dieser Uhren keinen zu grossen Einfluss hat und niemand wirklich beispielsweise einen Tausendstelsekunden-Chronographen braucht, endet nun bei TAG Heuer dieses Kapitel.»
Die Spitze der Kollektion werden künftig Chronographen markieren, in denen das Manufakturkaliber 1887 tickt. «TAG Heuer muss Uhren offerieren, welche der Kaufkraft des klassischen Kunden gerecht werden. Das in einer Grössenordnung zwischen 1500 und 5500 Franken. Die potenziellen Kunden besitzen wegen der in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegenen Uhrenpreise gerade hier nur wenig Auswahl», meint Biver.
Für das im Oktober 2013 präsentierte Manufaktur-Chronographenkaliber CH 80 mit Selbstaufzug und Schaltradsteuerung, welches Biver als Konkurrenz im eigenen Haus betrachtet und welches keine Vorteile gegenüber dem 1887 bietet, gibt es vorerst keine Zukunft (mehr). «TAG Heuer braucht in den nächsten zwei bis drei Jahren nur ein Chronographenwerk dieser Art, nämlich das langjährig modifizierte und optimierte 1887. Im Übrigen wird die Marke auch mit Blick auf Wettbewerber wie beispielsweise Longines künftig wieder mehr zugekaufte und damit deutlich preiswertere Uhrwerke verbauen.»
Der – vielleicht nicht endgültige – Abschied vom Kaliber CH 80 bedingte Eingriffe in den Betrieb der im Oktober 2013 zur Herstellung beider Chronographenkaliber eingeweihten Fabrik in Chevenez in der Ajoie nahe der französischen Grenze. Bis Ende 2014 ruht dort die Produktion komplett. Rund 40 Beschäftigte verloren ihre Stelle. Wann die Fertigung des Werks 1887 wieder anläuft, ist im Moment offen.
In Zukunft lautet die Biver’sche Devise: «Avantgarde, Technologie und moderne Sportuhren, welche vorwiegend jüngere Leute ansprechen.» Für ein Aha-Erlebnis wird eine Sonderserie der preiswerten Linie F1 sorgen. Eine intelligente Smart Watch mit interessanten Funktionen, die «vorzüglich ins Profil von TAG Heuer passen würde», befindet sich im Planungsstadium. Der Aufräumprozess beinhaltet auch ein Durchforsten der Strukturen auf allen Ebenen mit Blick auf Effizienz und Kundenorientierung. «Ich glaube, dass in jedem Beschäftigten viel Optimierungspotenzial steckt. Selbiges gilt es durch selbstkritische Betrachtung zu erspüren. Wer bei uns arbeiten will, muss wandlungsfähig sein. Wer sich gerne hinter Excel-Dateien, Statistiken oder grossen Powerpoint-Präsentationen versteckt, verliert bei uns den Atem, kann schwer überleben.»
Zenith: El Primero wirkt wie eine Versicherung
Die Veränderungen bei TAG Heuer schlagen auch auf die Schwester Zenith durch. «Mit dem Kaliber El Primero», so Biver, «hat sich die Manufaktur einen unsterblichen Ruhm verschafft.» Die Beherrschung der 5-Hertz-Unruhfrequenz über Jahrzehnte hinweg qualifiziert den Traditionalisten in Le Locle zum Spezialisten für Armbanduhren mit hochfrequenten Unruh-Oszillationen. Somit könnte es durchaus sein, dass der über kurz oder lang debütierende El Primero II auf die Hundertstelsekunde genau stoppen wird. Kein Thema mehr ist hingegen die Idee, vermehrt auf Werke von Selitta zu setzen.
Hublot: Biver bestätigt seine Versprechen
Bleibt die Marke Hublot, das von Biver aus dumpfem Dämmerschlaf erweckte Kleinod am Lac Léman. «Hublot ist Fusion, Hublot ist Innovation, kurz: Hublot ist einzigartig. Leute, die gelegentlich behauptet haben, Hublot sei in erster Linie ein Marketingprodukt, werden bald merken, welche Ernsthaftigkeit und welches Potenzial wir speziell bei Forschung und Entwicklung besitzen. Übrigens haben diese Menschen insofern recht, als wir in der Tat viel Marketing betreiben. Aber es hiess ja schon öfters, dass nach dem Marketing nicht mehr viel kommt. Genau das wird Hublot in Zukunft noch stärker als jetzt schon widerlegen. Der Aufwand für Forschung und Entwicklung entspricht fast dem fürs Marketing. Auf diese Weise kann und wird Hublot immer Uhren auf den Markt bringen, die ihrer Zeit spürbar voraus sind», schwärmt Biver weiter.
Hublots Materialforschung: Uhrengehäuse aus Naturleinen
Titan
Von nichts kommt nichts. Auch nicht bei Hublot. Jedes Jahr investiert die Senkrechtstarter-Manufaktur mehr als 20 Millionen Franken in die Forschung und Entwicklung. Zu diesem Zweck kooperiert Hublot mit mehreren Universitäten, Forschungsstätten und Unternehmen in unterschiedlichen Ländern. Der Output kann sich sehen lassen. Und zwar unter anderem bei den mit Blick auf gestalterische Flexibilität konzipierten Gehäusen. Dort besteht die tragende Säule aus Titan.
Kunstharz
Beliebig einfärbbares Kunstharz als verbindendes oder trennendes Element zwischen den verschiedenen Schichten ist ebenfalls unverzichtbar. Überlieferte Metalle wie Gold, Platin oder Edelstahl sind für klassisch denkende Zeitgenossen gesetzt.
Magic Gold
Zu den Eigenkreationen gehört 18-karätiges Magic Gold. Mit 1000 Vickers übertrifft der 2011 vorgestellte Mix aus Keramik und Feingold die konventionelle Schwester in der Härte um das Fünffache. Weitere Fusionen werden folgen: Kratzfestes Aluminium, Silber, Platin oder Palladium.
Keramik
Nach langen Forschungsreihen hat Hublot der Keramik das Leuchten beigebracht. Ferrari-Rot, Ferrari-Gelb oder leuchtendes Blau – denkbar sind nahezu alle Farben. Karbon/Naturleinen Neuerdings mischt Hublot bei der Verarbeitung von Karbonfasern ebenfalls ganz vorne mit. Die dort gewonnene Kompetenz hilft bei der Realisation eines für Uhren noch nie verwendeten Werkstoffs: Naturleinenverstärkter Kunststoff. Jedes Stück besitzt hier seine eigene Struktur. Dazu LVMH-Uhrenchef Jean-Claude Biver: «Leinen ist 30 Prozent leichter als Karbon, besitzt aber fast die gleiche Widerstandsfähigkeit. Deshalb arbeiten auch die Flugzeugindustrie und die Raumfahrt zunehmend mit Leinen. Eine wichtige Besonderheit besteht darin, dass man Leinen beliebig einfärben kann, was mit Karbon nicht geht. Karbon ist Kohle und bleibt deshalb immer schwarz.»