In Sachen Erziehung hat Claude Zellweger eine klare Meinung: «Ich finde, dass Kinder im Allgemeinen viel zu früh an Hightech herangelassen werden», sagt der Vater von neunjährigen Zwillingen. Er sieht keinen Vorteil darin, zu früh mit Technologie anzufangen. «Ein Kind muss erst lernen, sich zu langweilen und damit umzugehen. Die Kreativität, die dann dabei herauskommt, ist wunderschön.» Also haben seine Kinder kein Smartphone, kein Tablet und keine Spielkonsole. Stattdessen liegen daheim auf dem Wohnzimmertisch immer Papier und Bastelsachen.
Das ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Denn Claude Zellweger ist kein romantisierender Hippie, kein Analog-Nerd, kein Fortschrittsverweigerer. Im Gegenteil: Er lebt im Silicon Valley, arbeitet bei Google und gestaltet dort die Zukunftstechnologien Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) unter dem Namen Daydream. Auch bei den Handys, Laptops und Smarthome-Lautsprechern des 111-Milliarden-Dollar-Konzerns ist er involviert.
Erheblich vorbelastet
Zellweger (45), geboren in Meggen LU, gilt als einer der wichtigsten Tech-Designer im Silicon Valley. Gerade wurden er und seine 120-köpfige Mannschaft von «Fast Company», einer der einflussreichsten amerikanischen Technologiepublikationen, zum «Design-Team des Jahres» gekürt. Es war ihm quasi in die Wiege gelegt: der Vater Ingenieur, die Mutter Malerin, der Sohn im Industriedesign, einer Mischung aus Wissenschaft und Kunst. Oder wie er es selbst ausdrückt: «Der Beruf ist die perfekte Lösung, Kreativität auszudrücken in einer Weise, die praktischen Einfluss auf unseren Alltag hat.»
Also begann er eine Ausbildung im damaligen Designinstitut in La Tour-de-Peilz VD, das auf Industriedesign spezialisiert war. Für ein Auslandjahr ging er aufs ArtCenter College of Design im kalifornischen Pasadena – und kehrte nicht mehr zurück. Nach dem Abschluss 1997 arbeitete Zellweger in verschiedenen Agenturen. Und er heiratete eine Amerikanerin, Renée – die Namensgleichheit mit der Schauspielerin erweist sich seither beim Reservieren von Hotelzimmern und Tischen in angesagten Restaurants als durchaus praktisch.
Durchbruch mit Microsoft
Nach vier Jahren gründete Zellweger mit den beiden Kollegen Scott Croyle und Jonah Becker ein eigenes Studio, One & Co. «Es war immer ein Traum, alles selbst zu bestimmen: die Firmenkultur, die Designphilosophie, die Projekte.» In Kalifornien tummeln sich viele Agenturen, Frog und Ideo geniessen Weltruf, auch der Schweizer Yves Béhar hat sein Fuseproject dort gegründet. Doch die grossen Agenturen gingen in jener Zeit mehr in Richtung Designstrategie, was Machern wie Zellweger und seinen Mitstreitern zugutekam: Sie entwarfen Sneakers und Sportuhren für Nike, Snowboardschuhe für K2, Kameras für Kodak, sogar Möbel.
Der Durchbruch kam mit Microsoft: Für den IT-Giganten entwickelte One & Co das Konzept eines Minicomputers. Der schaffte es zwar nie auf den Markt, aber in der Folge erhielt One & Co viele Aufträge aus der Tech-Industrie. Etwa für das Facebook-Smartphone, das aber schnell vom Markt verschwand, weil es ausser Social Media nicht viel konnte. Das gleiche Schicksal ereilte das Fire Phone von Amazon. Für dieses arbeitete Zellweger eng mit Amazon-Chef Jeff Bezos zusammen, ebenso wie für den zweiten Kindle («also den ersten erfolgreichen», präzisiert Zellweger): Mit ihm schaffte die Kategorie der E-Reader den weltweiten Durchbruch.
Anschluss verpasst
Auch dem taiwanesischen Smartphone-Hersteller HTC verpasste Zellweger ein eigenständiges Auftreten; 2008 kaufte HTC sogar die ganze Agentur mit ihren 25 Mitarbeitern. Zellweger rapportierte direkt an den CEO, konnte aber weitgehend unabhängig weiterarbeiten. Seine Werke wie das Handy One A9 oder die VR-Brille Vive erhielten in der Fachwelt viel Lob. Und trotzdem verpasste HTC den Anschluss, spielt heute auf dem Smartphone-Markt kaum mehr eine Rolle. Am Design habe es nicht gelegen, beteuert Zellweger: «Ganz im Gegenteil. Viele trauern den Geräten nun nach.» Das Problem war das Marketing-Budget: Mit Samsung und Huawei konnte und kann HTC nicht mithalten.
Der Frust darüber war dann auch der Grund für den Wechsel zu Google mit ihren tiefen Taschen: «Es ging um Reichweite.» Bis vor drei Jahren war Google eine Softwarefirma, eigene Geräte wurden nur entwickelt, wenn es dem Kerngeschäft half. Doch irgendwann erkannte auch der Gigant aus Mountain View, was Apple und Microsoft schon lange wussten: dass nur durch die Kombination aus eigener Hard- und eigener Software wirklich eigenständige Produkte entstehen können. Seit drei Jahren macht Google daher mit Hardware Ernst, seit zwei Jahren ist Zellweger verantwortlich für die «immersive products and emerging categories», wie es offiziell heisst: «Das ist eine riesige Chance für einen Designer, die Marke im Hardwarebereich zu etablieren.»
Dunkel gewandet tritt Zellweger auf, wie es das Klischee von einem Designer verlangt, das Schwiizertüütsch mit englischen Ausdrücken durchsetzt, wie es häufig ist bei Schweizern, die lange in den USA leben. Seine Inspirationen holt der hagere, gross gewachsene Mann beim Wellenreiten in Kalifornien oder beim Ultramarathon: Über 50 bis 100 Kilometer geht so ein Rennen, häufig auch noch einen Berg hinauf. «Da habe ich die besten Ideen», sagt Zellweger. Diesen Juli etwa nimmt er beim Eiger Ultra Trail teil, 101 Kilometer plus 6700 Höhenmeter auf und um den Gletscher herum. Eine dauerhafte Rückkehr in die Schweiz ist für ihn und seine Familie trotzdem kein Thema: «Wir werden immer ein Standbein in San Francisco haben», sagt er.
Eigene Designsprache
In den letzten zwei Jahren hat er Google eine eigene Designsprache verpasst. Menschlich, optimistisch und mutig sind die Kernwerte seiner Entwürfe. Und wie bei vielen seiner Kollegen ist Zellwegers Konzept an den Ideen der Bauhaus-Bewegung angelehnt, die gerade 100 Jahre alt wird: «Im Rahmen der Nachhaltigkeit ist die Philosophie von ‹Weniger ist mehr› populärer als je zuvor», sagt Zellweger.
Benutzerfreundlich und erschwinglich sollen die Produkte sein, gerade im bislang eher anspruchsvollen VR-Bereich: «Wir wollen, dass VR für jedermann zugänglich ist und nicht nur für Profis und Gamer.» Deshalb kostet die von ihm entworfene Daydream nur 80 Franken. Der Trick dabei: Die Brille hat zwar hochwertige optische Komponenten, aber keine eigene Elektronik. Stattdessen lässt sich ein Android-Smartphone ins Gehäuse einspannen (für Poweruser bietet Lenovo eine voll integrierte und entsprechend teurere Lösung an).
Zwischen Boom und Hype
Klar ist: Virtual Reality ist ein gewaltiger Wachstumsmarkt. Bis auf 19 Milliarden soll der Umsatz allein im Consumer-Bereich in den nächsten zwei Jahren steigen, schätzen die Experten. Industrieanwendungen wie etwa Simulatoren zur Pilotenausbildung sind da noch gar nicht mitgezählt. Die Schweiz hat virtuell eine Führungsrolle: In 13 Prozent der Schweizer Haushalte ist bereits eine VR-Brille vorhanden, sagt eine neue Studie von Y&R. Sogar jeder vierte Schweizer hat schon mal eine Brille ausprobiert, weiss die Interessengemeinschaft elektronische Medien IGEM.
Klar ist aber auch: Die Killerapplikation hat man noch nicht gefunden, was für Zellwegers Arbeit eine besondere Herausforderung ist. Und wie viele neue Technologien durchläuft Virtual Reality einen Hype-Zyklus mit zunächst überzogenen Erwartungen, Enttäuschungen und erst danach stetigem Wachstum. «Wir haben den Winter überstanden, jetzt steigt die Industrie wieder und wird sich sukzessive etablieren», sieht Zellweger die aktuelle Lage. Bei Augmented Reality dürfte der Hype-Anteil derzeit noch einiges höher sein.
Suchtpotenzial
Fernziel für Zellweger ist eine AR-Brille, die sich äusserlich nicht von einer normalen Brille unterscheidet. Auch biegsame Displays, wie sie derzeit an jeder Tech-Messe präsentiert werden, dürften neue Möglichkeiten schaffen. Trotzdem wird für ihn AR nie das primäre Computererlebnis sein, sondern nur eine Ergänzung. Beim Smartphone hingegen, wo Zellweger bisher am erfolgreichsten war, hat sich die Entwicklungskurve bereits deutlich abgeflacht. «Es wird noch lange existieren, aber andere Produktkategorien werden es zusehends ergänzen», sagt er – seien es Smartwatches, Ohrhörer oder eben Brillen.
Natürlich haben auch Zellwegers Zwillinge seine VR-Brillen ausprobieren dürfen, natürlich waren auch sie begeistert. Doch diese Gadgets sind daheim ebenfalls weggesperrt. Denn Zellweger ortet Suchtpotenzial, wenn die Geräte eines Tages wirklich bequem zu tragen sind. Digital Wellbeing, also die Reduzierung von Internetabhängigkeit und Digitalstress, hat für Google-Chef Sundar Pichai quer durch alle Produktgruppen hohe Priorität. Zellweger setzt das Thema radikal um, denn für seine Kinder ist die Anziehung der virtuellen Welten schon jetzt sehr gross. «Dann sind sie noch weiter weg von der Realität als bei Videospielen», weiss er.
So werden sich die Zwillinge noch ein paar Jahre gedulden müssen.
Dieser Artikel erschien in der Februar-Ausgabe 02/2019 der BILANZ.