Die Volksabstimmung in der Schweiz über eine Begrenzung der Zuwanderung hat in der EU-Bürokratie offenbar zu überhasteten Reaktionen geführt.

So hiess es in ersten Äusserungen aus Brüssel, nun würde man einige bilaterale Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz erst einmal auf Eis legen, allen voran die Gespräche über einen gemeinsamen Strommarkt.

Zwar sei der Plan eines Abkommens über die europäische Integration des Schweizer Strommarkts nicht obsolet geworden, betonte eine Sprecherin von EU-Kommissar Günther Oettinger. «Aber die Unsicherheit ist jetzt erst einmal da.» Man müsse «das weitere Vorgehen im breiteren Kontext der bilateralen Beziehungen analysieren.»

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Bern widerspricht Brüssel

Was soll das heissen? Soll hier mit aller diplomatischer Vorsicht die Möglichkeit angedeutet werden, dass die Integration des Schweizer Strommarkts in die europäische Versorgungslandschaft infrage gestellt wird?

Droht die EU als Reaktion auf das unliebsame Zuwanderungsvotum indirekt mit der energiepolitischen Isolation der Eidgenossen? Die EU-Kommission wiegelt auf Nachfrage von Journalisten zwar ab: Es seien derzeit ja überhaupt «keine technischen Gespräche vorgesehen», die man unterbrechen könne.

Doch dem widerspricht das Schweizer Energieministerium auf Nachfrage der «Welt» ausdrücklich: Bundesrätin Doris Leuthard habe «bereits darauf hingewiesen, dass das Abstimmungsresultat zur Masseneinwanderungsinitiative eine Rückwirkung haben kann auf die Verhandlungen für ein Stromabkommen.»

Wie eine Sprecherin des Eidgenössischen Departments für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UEVK) weiter sagte, «hat die EU-Kommission inzwischen einen Gesprächstermin ausgesetzt.» Dabei habe man «auf technischer Ebene in den vergangenen Monaten engagiert über das Stromabkommen verhandelt und viel erreicht.»

EU braucht Schweiz, nicht umgekehrt

Damit stellt sich allerdings die Frage, ob sich die Europäische Union nicht ins eigene Fleisch schneidet, wenn sie die Schweiz energiepolitisch isolieren will.

Tatsächlich kann es sich die EU nämlich schlicht nicht leisten, die Schweiz versorgungstechnisch zu einer Insel im europäischen Strommarkt zu machen: Die Europäische Union ist von der Energie-Infrastruktur der Schweiz sehr viel stärker abhängig, als umgekehrt die Schweiz vom europäischen Strommarkt.

Das zeigt schon ein Blick auf die Anfänge der energiepolitischen Vertragsverhandlungen zwischen Schweiz und EU Ende 2007. Damals waren es nicht die Schweizer, die unbedingt in den europäischen Strommarkt wollten: Es war umgekehrt die EU-Kommission, die unter dem Eindruck des weitflächigen Italien-Blackouts vom September 2003 der Schweiz vorschlug, den Stromtransit vertraglich zu regeln.

Damals hatte der technische Ausfall einer Schweizer Stromleitung dafür gesorgt, dass das EU-Mitglied Frankreich seinen Strom nicht mehr ungehindert über die Alpen in das EU-Land Italien leiten konnte.

Italien, dass nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl seine vier Atomkraftwerke stillgelegt hatte, war seither von französischen Atomstrom-Importen abhängig. Der Stromtransit zwischen den beiden wichtigen EU-Industriestaaten aber führt grösstenteils über das Leitungsnetz der Schweiz.

Abkommen soll neuen Italien-Blackout verhindern

Beim Schweizer Stromnetzbetreiber Swissgrid wundert man sich denn auch über die aktuellen, dunklen Andeutungen aus Brüssel: «Die Schweiz steht zwar nur für drei Prozent des europäischen Stromverbrauchs, aber über unser Territorium gehen elf Prozent aller europäischen Stromflüsse», sagte Swissgrid-Sprecher Andreas Schwander der «Welt».

Seit sechs Jahren verhandeln Schweiz und EU deshalb nun schon über ein Energie-Abkommen. Dabei geht es um die rechtliche Absicherung eines freien Netzzugangs für alle Stromproduzenten und über eine Entgelt-Regelung für die Nutzung des Transitnetzes.

«Durch eine Harmonisierung der Sicherheitsstandards und der operativen Betriebsführung der Übertragungsnetze soll verhindert werden, dass es im Netz zu Überlastungen kommt», heisst es in einem Papier des Eidgenössischen Departments für auswärtige Angelegenheiten: «Solche Überlastungen durch den Transport ungeplant hoher Strommengen waren – zusammen mit der mangelnden Koordination beider Länder – der Hauptgrund für den Blackout in Italien 2003.»

Schweizer Speicher für deutschen Ökostrom

Die «Stromdrehscheibe» Schweiz ist damit nicht nur eines der wichtigsten Transitländer für Elektrizität in Europa. Auch als Stromspeicher ist das Land für die europäische Energieversorgung unverzichtbar. Die Pumpspeicherseen in den Alpen tragen erheblich dazu bei, das stark schwankende Ökostrom-Aufkommen aus Wind- und Solarkraft aus ganz Europa zu glätten. Davon profitiert insbesondere auch Deutschland.

Soll heissen: Wird bei viel Wind oder Sonnenschein zu viel Ökostrom produziert, kann mit Hilfe des Stroms Wasser nach oben gepumpt werden. Wird Strom benötigt, rauscht das Wasser in die Tiefe, treibt Generatoren an und wird zu Elektrizität umgewandelt.

Leistung von zwei Atomkraftwerken

Nach Angaben des Netzbetreibers Swissgrid können allein die Schweizer Pumpspeicher in den Alpen 1400 Megawatt Strom speichern: Das entspricht der Leistung von zwei Atomkraftwerken. Weitere Pumpspeicher-Kraftwerke mit 3000 Megawatt Leistung seien im Bau.

Wenn in Baden-Württemberg und Bayern in den Jahren bis 2022 wirklich schwankender Ökostrom die Grundlast der Atomkraftwerke ersetzen soll, dürfte das ohne intensive Nutzung dieser Schweizer Alpenbatterie kaum machbar sein: In Deutschland widersetzen sich bislang immerhin Wald- und Tierschützer erfolgreich dem Bau neuer Speicherbecken in den Bergen.

Wie wichtig die Schweiz für die Versorgungssicherheit in Deutschland ist, zeigte sich erst Anfang 2012: Damals mussten zahlreiche deutsche Gaskraftwerke mangels Brennstoffnachschub aus Russland abgestellt werden. Weil die im Zuge der Energiewende abgestellten Atomkraftwerke in Süddeutschland nicht anderweitig ersetzt werden konnten, rutschten Bayern und Baden-Württemberg knapp am Blackout vorbei.

Schweiz half deutschen Blackout abzuwenden

Der «Welt» liegen Dokumente vor, die belegen, dass deutsche Netzbetreiber im Februar 2012 auf dem Höhepunkt der Versorgungskrise bei der Schweizer Swissgrid telefonisch eine «Notreserve» über 300 Megawatt anforderten, um den Blackout in letzter Minute abzuwenden. Der Preis dafür lag mit 3000 Euro pro Megawattstunde um das 50-fache über dem damaligen Börsenpreis für Strom.

Deutschland wird solche Nachbarschaftshilfe vermutlich eher öfter brauchen, wenn in Bayern und Baden-Württemberg immer mehr schwankender Ökostrom gesicherte Kraftwerksleistung ersetzt. Professionelle Energiehändler sind deshalb entsetzt über die drohende Isolation der Schweiz.

Bei dem nun fraglich gewordenen Stromabkommen zwischen der EU und der Schweiz «wäre es vor allen Dingen um die Einbeziehung der Schweiz in das sogenannte Market Coupling gegangen, also um die Verknüpfung der Schweizerischen Regelzonen mit denen der Nachbarländer, um die Ausnutzung der Übertragungskapazitäten zu erhöhen», sagte Barbara Lempp, Geschäftsführerin des Verbandes Deutscher Gas- und Stromhändler (EFET). «Gerade im Hinblick auf die Stromversorgung des Nettoimportlandes Italien wäre dies wichtig gewesen. EFET bedauert dies sehr.»