Die US-Regierung zwackt bei der Pharmaindustrie in den nächsten zehn Jahren gegen 300 Milliarden Dollar ab, um die Kostenentwicklung in der öffentlichen Krankenversicherung Medicare zu stabilisieren. Recht so, werden dazu auch diesseits des Atlantiks viele sagen. Auch bei uns richten sich die Augen reflexartig auf die Medikamentenkosten, wenn es um steigende Gesundheitskosten geht. Auch bei uns ist die Meinung, dass die Medikamentenpreise zu hoch seien und dass die Pharmaindustrie ohnehin zu viel verdiene, weit verbreitet.

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Doch Schadenfreude ist fehl am Platz. Dass die Pharmaunternehmen in den USA gutes Geld machen, ist auch in unserem Interesse. Der US-Markt ist das primäre Spielfeld der forschenden Pharmaindustrie. Es gibt Studien, die besagen, dass die amerikanischen Steuerzahlerinnen und Krankenversicherten zwei Drittel der weltweiten Innovation im Biotech-Bereich finanzieren. Das heisst: Wenn die Pharmaunternehmen in den USA weniger Umsätze machen und deshalb ihre Medikamentenentwicklung zusammenstreichen, werden darunter auch die Patienten und Patientinnen in der Schweiz und in Europa leiden.

Europa verlässt sich zu sehr auf die USA

Das gilt besonders für Patienten und Patientinnen mit seltenen Krankheiten. Die neue US-Regulierung begünstigt «High value»- Projekte, also neue Therapien, deren Umsätze schnell auf Touren kommen und die Vermarktungszeiten deshalb optimal ausnutzen können und die viel Volumen bringen. Therapien gegen seltene Krankheiten fallen per Definition nicht in diese Kategorie.

Auch die «Strafe» für einfache, chemische Medikamente in Form einer kürzeren Vermarktungsfrist gegenüber biologisch hergestellten Medikamenten wird Konsequenzen für die Patienten und Patientinnen haben. Die guten alten chemischen «Pillen» mögen zwar nicht so «fancy» sein wie Gentherapien oder komplizierte biologisch hergestellte Medikamente. Sie spielen aber immer noch eine bedeutende Rolle in der Medikamentenentwicklung, und sie haben wertvolle Vorteile bei der Convenience. So können sie etwa zu Hause eingenommen werden, was gerade für arme Länder mit einer schwachen Gesundheitsinfrastruktur ein Pluspunkt ist.

Europa sollte sich weniger auf die USA verlassen und sein eigenes Ökosystem bei den Life Sciences stärken. Doch leider passiert gerade das Gegenteil. Deutschland leistet sich mit Karl Lauterbach einen Gesundheitsminister, der offen das Feindbild Pharmaindustrie kultiviert. Zudem schaut die Regierung tatenlos zu, wie ein Biotech-Unternehmen wie die Mainzer Biontech, Erforscherin eines der beiden mRNA-Impfstoffe gegen Corona, ihre Krebsforschung nach Grossbritannien verlagert und wie das Land in den Standort-Rankings für die Life Sciences weiter an Boden verliert.

Und nun kommt auch noch die EU-Kommission mit einer neuen Pharmagesetzgebung, die zwar einige gute Ansätze bei der Innovationsförderung hat, die aber durch höhere Hürden bei der Kommerzialisierung gleich wieder in den Schatten gestellt werden.

Bei der Medikamentenentwicklung ist es ein bisschen wie bei der Verteidigung in Europa. Man verlässt sich auf die USA, begnügt sich mit der Rolle des Trittbrettfahrers und beklagt sich dann, wenn die Amerikaner den Ton angeben. Auch wenn viele Politikerinnen und Politiker das Gegenteil behaupten: dass Europa bei den Medikamenten derart auf die Kosten fixiert ist, ist nicht nur ein Problem für die Pharmafirmen. Es verhindert auch, dass sich in Europa eine Life-Sciences-Landschaft entwickeln kann, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. 

Es braucht wieder mehr Begeisterung für den Fortschritt

Europa war die Wiege der modernen Medizin. Hier wurden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Durchbrüche bei verheerenden Infektionskrankheiten wie Typhus und Diphterie erzielt. Es gibt keinen Grund, warum der Kontinent nicht wieder an seine grosse Vergangenheit anknüpfen sollte. Ausser eine Pfennigfuchserpolitik, der jede Begeisterung für den medizinischen Fortschritt abgeht und die mitunter diejenigen aus den Augen zu verlieren scheint, die dringend auf neue Therapien angewiesen sind: die Kranken.